Die Hisbollah hat am Donnerstag erneut Raketen nach Israel abgefeuert, tötete dabei dort auf einem Feld fünf Männer. Auch Israels Luftwaffe bombardierte wieder Stellungen der Islamisten im Libanon. Und doch gibt es vage Hoffnung auf baldige Verhandlungen zwischen den Feinden.
In internationalen Medien, islamistischen Foren und deutschen Sicherheitskreisen heißt es: Der neue Hisbollah-Chef Naim Kassim sei zu Verhandlungen mit dem als „zionistisches Gebilde“ verunglimpften Nachbarstaat bereit. Offiziell bestätigte die avisierten Verhandlungen keine Seite. Immerhin soll die Hisbollah nach Wochen israelischer Angriffe Tausende ihrer bewaffneten Kämpfer verloren haben.
Strategiewechsel der Hisbollah?
Welches Kalkül könnte hinter einem Verhandlungsangebot stecken? Analyst Christoph Leonhardt vermutet, dass mit der angedeuteten Verhandlungsbereitschaft tatsächlich ein Strategiewechsel einhergehen könnte.

Christoph Leonhardt, stellvertretender Leiter von Middle East Minds, einem auf den Nahen Osten spezialisierten Beratungsunternehmen
„Dies lässt sich unter anderem daran erkennen, dass Kassim eine mögliche Waffenruhe im Libanon nicht mehr direkt mit einem Ende der Kämpfe im Gazastreifen verknüpft – eine Position, die noch ausdrücklich von seinem Vorgänger Hassan Nasrallah vertreten wurde“, sagt der stellvertretende Leiter von „Middle East Minds“, einem auf den Nahen Osten spezialisierten Beratungsunternehmen. Allerdings habe der neue Hisbollah-Chef betont, seine Organisation werde nicht „um einen Waffenstillstand betteln“.
Die Hisbollah ist zwar erheblich geschwächt, aber systemisch noch lange nicht am Ende.
Christoph Leonhardt, Nahost-Analyst
Ein womöglich neuer Kurs beruht Leonhardt zufolge in erster Linie auf der Schwächung der Hisbollah durch Israels Armee. Diese hätten die Schiitenmiliz „bis ins Mark getroffen“. Das gelte für die Führung, die Kommunikations- und Waffensysteme sowie für das Selbstvertrauen der Terrororganisation.
Korpsgeist und Krisenerfahrung
Die in vielen Staaten verbotene Hisbollah, zu Deutsch: „Partei Gottes“, beherrscht den Süden und Osten Libanons wie einen eigenen De-facto-Staat. Als Koalitionspartei gehört sie der Beiruter Zentralregierung an und erhebt den Anspruch, die 1,3 Millionen Schiiten Libanons zu vertreten.

Israel fliegt jetzt auch Angriffe auf Hisbollah-Stellungen nahe der Stadt Baalbek.
© AFP/SAM SKAINEH
Als Miliz kontrolliert sie ihre Hochburgen so streng, dass offizielle Sicherheitskräfte dort kaum ohne ihren Segen operieren. Sie ist Statthalter des iranischen Mullah-Regimes und eroberte auch Regionen in Syrien.
Wie sehr die Hisbollah militärisch angeschlagen sei, lasse sich nicht mit letzter Sicherheit sagen, sagte Leonhardt. Zwar schätze der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant die verbliebenen Kapazitäten der Miliz bezüglich ihrer Raketen und Flugkörper auf nur noch 20 Prozent.
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: (26.09.24)
Ob aber tatsächlich 80 Prozent des Waffenarsenals zerstört wurden, indem bis zu 150.000 Raketen vermutet werden, wisse man nicht, betonte Leonhardt, der sich schon lange Zeit mit paramilitärischen Netzwerken beschäftigt: „Immerhin ist die Hisbollah trotz des israelischen Bombardements nach wie vor in der Lage, jeden Tag Dutzende Raketen auf Israel abzufeuern.“
Flexibles Hisbollah-Netzwerk
Weist Nassims Gesprächsangebot darauf hin, dass die Hisbollah an Macht einbüßt? „Sicherlich durchlebt die Schiitenmiliz gerade eine ihrer größten Krisen“, sagt Leonhardt. Allerdings bedeute dies nicht, dass sie vor einem Machtverlust stehe. „Sie ist zwar erheblich geschwächt, aber systemisch noch lange nicht am Ende.“
Der Nahostexperte hält es für wahrscheinlicher, dass die Hisbollah in der Lage sei, die schweren Rückschläge aufgrund ihrer straffen Organisation, ihres Korpsgeistes und ihrer Krisenerfahrung zu überstehen, sich also neu zu organisieren. „Tatsächlich hat die Hisbollah in ihrem über 40-jährigen Bestehen schon einige schwere Rückschläge verkraften können.“
Wie berichtet, hat sich die Hisbollah, die als Netzwerk arbeitet, auch an die Verbote ihrer Strukturen im Exil angepasst. In bestimmten Moscheen und unter namhaften Großfamilien werden demnach auch in Deutschland nach wie vor hohe Summen für die Hisbollah akquiriert.
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Weil die Hisbollah im Nahen Osten ein nicht zu ignorierender Faktor ist, soll sich der Vize-Chef des Bundesnachrichtendienstes, Ole Diehl, zweimal in diesem Jahr mit einem Vertreter der Islamisten-Truppe getroffen haben.
Der BND bestätigt diese Gespräche nicht, die mit Naim Kassim stattgefunden haben sollen. Der war schon damals in der Führung der Organisation, wenngleich noch nicht ihr Oberhaupt.