1958 reiste ein Italiener durch Deutschland. Er besuchte die Absturzkneipen und Bierkeller. Besonders schockiert war er von den deutschen Geschäftsmännern in ihrer „Schutzschicht aus Fett“. Und von deutschen Frauen, die ungehemmt Würste essen.
Die Deutschen? „Wenn man sie sich so ansieht, sind es die zahmsten Tiere der Welt“. Was ein Franzose und ein Italiener sich da wie Komplizen in einem Münchner Bierkeller zuraunen, ist kein bloßer Kneipenwitz. Im Jahr 1958 steckt den Europäern der Zweite Weltkrieg noch tief in den Knochen. Die Deutschen haben der Welt gezeigt, zu welchen abscheulichen Taten sie fähig sind.
Und jetzt? Sitzen sie da und geben sich leutselig: „An rustikalen Tischen, auf Stühlen mit hohen Holzlehnen essen Frauen mittleren Alters Würste und trinken Bier. Ohne jegliche Zurückhaltung widmen sie sich ganz und gar diesen Köstlichkeiten, diesem Hochamt von Mund und Eingeweiden. Sie essen nicht: Sie fressen, verleiben ein, verschlingen, schlucken, kauen, zermalmen, saugen auf wie riesige Seidenraupen, völlig versunken in die reine Gefräßigkeit.“ Der hässliche Deutsche ist zum Erstaunen des italienischen Schriftstellers Carlo Levi manchmal auch eine Sie.
Die von Levi geschilderten Begegnungen mit Kneipengestalten erinnern manchmal an Patrick Leigh Fermors „Zeit der Gaben“, vielleicht, weil beide Deutschlandreisen im Advent spielen und so offensichtlich literarisch verdichtet sind. Bei Levi huschen Postangestellte mit spitzem Mardergesicht durchs Bild, Studenten mit aufgeschlitzten Visagen und eine Frau lässt den Erzähler inmitten aller Bierseligkeit misstrauisch wissen: „Alle haben ein Lächeln auf den Lippen, aber es gibt hier nur Hass.“
Carlo Levi, berühmt durch „Christus kam nur bis Eboli“
Levi, der 1902 als Spross einer assimilierten jüdischen Familie in Turin geboren wurde und Anfang 1975 in Rom starb, hat sich jenseits seiner Deutschlandreise vor allem mit einem Werk in die Weltliteratur eingeschrieben: „Christus kam nur bis Eboli“. Der 1945 erschienene Roman war ein Produkt der Zeitläufte, denn der Arzt und Maler Levi war als antifaschistischer Untergrundjournalist vom Mussolini-Regime 1934 verhaftet und dann nach Süditalien verbannt worden. Durch seine Schilderung der ärmlichen, rückständigen Lebensverhältnisse an der Stiefelsohle wurde Levi zur literarischen Stimme des Mezzogiorno. Ausgerechnet als Turiner, aber vermutlich hätte ein Einheimischer gar nicht den Blick für solche Lebensverhältnisse gehabt.
Auch Levis Reisenotizen zu Deutschland haben diesen Röntgenblick, denn es ist Levis allererster Deutschland-Besuch, äußerer Anlass sind ein Vortrag und ein Treffen mit seinem Verleger in Stuttgart. Am Nikolaustag 1958 nimmt Levi das Flugzeug von Rom nach München. Dort checkt er ins Hotel Vier Jahreszeiten ein und besucht die Bierkeller der Stadt, ein paar Tage später auch das NS-Konzentrationslager Dachau, in dem jetzt deutsche Vertriebene aus dem Sudetenland hausen. Weiter geht die Reise nach Augsburg, Ulm und Stuttgart, Schwäbisch Hall und Tübingen sowie in die Frontstadt des Kalten Kriegs: Berlin. Levis Passagen zur geteilten deutschen Hauptstadt, wo sich jede Hälfte wie im ideologischen Schaufenstermodus für die jeweils andere Hälfte inszeniert, gehören zu den eindrücklichsten Zeugnissen des Buches.
Die Verlag C.H. Beck publiziert den literarischen Ertrag von Levis Deutschlandtour 1958 wie eine Zeitkapsel neu auf Deutsch – 40 Jahre, nachdem im Jahr 1984 schon einmal eine deutsche Übersetzung von Levis Notizen erschienen war. Was Levis Eindrücke, die man nicht als Tatsachenbericht, sondern -roman („romanzo vero“) lesen muss, so wertvoll macht, ist die ethnografische Verdichtung, die Deutschland bis zur Kenntlichkeit entstellt als schuldversehrte Nation, deren kollektive Psyche nach Rehabilitierung lechzt.
Dass Levi als Zeitzeuge und damit historisch live (für uns re-live) wahrnimmt, was ein Philosoph wie Hermann Lübbe ein Jahrzehnt später als „kommunikatives Beschweigen“ apostrophiert hat, spricht für die literarische Qualität dieses Textes. Deutschland wird geschildert als ein Land, das sich vor sich selbst versteckt, seine Traumata mit Wiederaufbau, Wirtschaftswunder Weihnachtsmarktgemütlichkeit verdeckt. Deutsche Geschäftsmänner sind bei Levi durchweg dick, „umgeben von einer Schutzschicht aus Fett und Gleichgültigkeit“. Ein literarisches Zeugnis zur deutschen Fresswelle der 1950er, serviert von einem Italiener.
Carlo Levi: Die doppelte Nacht. Eine Deutschlandreise im Jahr 1958. Mit einem Nachwort von Bernd Roeck. C.H. Beck, 176 Seiten, 20 Euro
In einer früheren Version dieses Artikels waren in der Bildunterschrift zu Carlo Levi falsche Lebensdaten angegeben. Wir bitten, das Versehen zu entschuldigen.