Als sich Mitglieder der polnischen Sozialdemokratie 1910/1911 an einer antisemitischen Hetzkampagne beteiligten, führte Rosa Luxemburg das auf deren Nationalismus zurück. Man könne kein »Sozialnationalist« sein, schrieb sie pointiert in der polnischen Zeitschrift Czerwony Sztandar (Rote Fahne), »ohne Antisemit zu sein«. Die »Pestflut des Antisemitismus« gehe »überall auf der Welt mit dem Nationalismus« einher.

Die Kampagne hatten Zeitungen aus dem Umfeld der Związek Postępowo-Demokratyczny (Demokratische Fortschrittsunion) angezettelt. Die nationalliberale Partei wollte eine revolutionäre Stimmung abwenden, wie es sie fünf Jahre zuvor, 1905, in polnischen Industriezentren gegeben hatte. Ihre Hetzkampagne richtete sich vor allem gegen die Partei Rosa Luxemburgs, die 1893 gegründete Socjaldemokracja Królestwa Polskiego i Litwy (Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen, SDKPiL). Dafür strickten die Nationalliberalen die Verschwörungstheorie, das polnische Proletariat werde von »Juden« gegen seine nationalen Interessen in die Irre geführt.

Nur vor dem Hintergrund, dass sie die »nationale Befreiung« immer und überall ablehnte, lässt sich Luxemburgs spöttische Haltung zum Zionismus verstehen.

Zu Luxemburgs Entsetzen beteiligten sich auch Mitglieder der anderen polnischen sozialdemokratischen Partei, der Polska Partia Socjalistyczna (Polnische Sozialistische Partei, PPS), an der Hetze. »Die letzten Monate«, schrieb Luxemburg im Februar 1911 im Czerwony Sztandar, hätten etwas gezeigt, was »noch nie dagewesen, solange die Welt besteht: An der antisemitischen Kampagne hat sich eine Gruppe beteiligt, die sich sozialistisch schimpft, und zwar die ›Revolutionäre‹ Fraktion der PPS.«

Oftmals verbarg sich der Antisemitismus während dieser Kampagne hinter Codes wie »Litwaken«. Das Wort »Litwak«, dem jiddischen Namen für Litauer entlehnt, sollte Menschen bezeichnen, die weiter aus dem Osten kamen und in Polen fremd blieben. In einer Zeitschrift der PPS wurde Luxemburg als »Hysterikerin« bezeichnet; über Luxemburgs Parteikollegen Leo Jogiches hieß es, er sei »ein russischer Jude«, der »bis heute nicht gelernt« habe, »richtig polnisch zu sprechen und zu schreiben«.

Schon zuvor hatte Luxemburg den tiefsitzenden Nationalismus der PPS kritisiert. Diese 1892 in Paris gegründete Partei betrachtete nämlich lange eine unabhängige polnische Republik, die »Wiederherstellung Polens«, als Bedingung für eine soziale Veränderung. Es kam zur Spaltung der Linken. Bezeichnenderweise war der Grund, so der Historiker Włodzimierz Borodziej in seiner »Geschichte Polens im 20. Jahrhundert«, »nicht das Verhältnis zu Demokratie oder Revolution«, sondern »die nationale Frage«.

Für die Selbstbestimmung des Proletariats 

Ausführlicher setzte Luxemburg sich 1908 mit der Thematik auseinander. In ihrer Artikelserie »Nationalitätenfrage und Autonomie« schrieb sie, die Sozialdemokratie sei »nicht zur Verwirklichung eines Selbstbestimmungsrechts der Nationen berufen«, sondern habe sich nur für die Selbstbestimmung des Proletariats einzusetzen. In diesem Zusammenhang kritisierte sie auch die Idee einer »›nationalen‹ Befreiung«.

Was daran falsch war, zeigte sie mit Blick auf die Geschichte der Entkolonisierung. Brasilien, Argentinien oder Australien hätten wie die USA die Unabhängigkeit von den europäischen Staaten erlangt, um fortan selbst »den Handel mit den Schwarzen selbständig durchführen und sie auf den Plantagen ausbeuten sowie alle schwächeren Kolonien in der Umgebung annektieren zu können«. Nationale Autonomie führe nicht zur Aufhebung von Ausbeutung und Unterdrückung.

Anders als später die Kommunistische Internationale unter Lenin und Stalin wollte Luxemburg auch nicht den Nationalismus »unterdrückter Völker« im Kampf gegen »den« Imperialismus befeuern. Denn nach ihrer Imperialismusanalyse standen nicht einige westliche imperialistische Staaten vermeintlich antiimperialistischen Völkern der Welt gegenüber, sondern jeder Staat mit einer kapitalistischen Wirtschaftsform verfolge imperialistische Tendenzen, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.

Luxemburgs Hoffnung auf eine baldige Weltrevolution

Nur vor dem Hintergrund, dass sie die »nationale Befreiung« immer und überall ablehnte, lässt sich Luxemburgs spöttische Haltung zum Zionismus verstehen – über den sie sich ohnehin selten äußerte. Sie hoffte auf eine baldige Weltrevolution; die Welt in Nationalstaaten zu zerteilen, erschien ihr deshalb als rückschrittlich. Am Ende des Ersten Weltkriegs notierte sie in einem Fragment gebliebenen Text: »Der Nationalismus ist augenblicklich Trumpf. Von allen Seiten melden sich Nationen und Natiönchen mit ihren Rechten auf Staatenbildung an.« Die Zionisten würden schon »ihr Palästina-Ghetto« errichten, »vorläufig in Philadelphia«.

Zu dieser Zeit, nach der Russischen Revolution, wurde ihre Kritik polemischer. In ihrem Text »Zur russischen Revolution«, bekannt für das Bonmot, die Freiheit sei »immer die Freiheit der Andersdenkenden«, warnte sie außer vor Zensur, der Einschränkung der Meinungsfreiheit und einer möglichen Diktatur unter den Bolschewiki auch vor den Gefahren durch den Nationalismus. Denn die Bolschewiki hatten das »Selbstbestimmungsrecht der Nationen« in ihr Parteiprogramm aufgenommen. Dieses »famose« Recht sei »nichts als hohle kleinbürgerliche Phraseologie und Humbug«. Weiter schrieb Luxemburg: Die »Phrase von der Selbstbestimmung und die ganze nationale Bewegung« bildeten »gegenwärtig die größte Gefahr für den internationalen Sozialismus«.

Bekanntlich setzte sich in der Kommunistischen Internationale (Komintern) die entgegengesetzte Position durch. 1920 beschloss sie, weltweit »nationale Befreiungsbewegungen« zu unterstützen. Die Solidarität galt ausdrücklich auch jenen Nationalbewegungen, die keine sozialistische oder kommunistische Politik vertraten; also beispielsweise in China nicht nur der dortigen Kommunistischen Partei, sondern auch der bürgerlich-nationalistischen Kuomintang – die nach der Eroberung Shanghais 1927 Gewerkschafter und Kommunisten massakrierte. Unter Stalin war ohnehin keine öffentliche Kritik am »Sozialismus in einem Lande« mehr möglich.

Antisemitismus blieb nicht unwidersprochen

Zurück zu Polen: Die 1910 entfachte antisemitische Hetzkampagne währte nicht lange. Denn wie so oft, wenn Antisemitismus von Liberalen oder von Linken kommt, blieb er in den eigenen Reihen nicht unwidersprochen. Innerhalb der PPS regte sich Unmut gegen die antisemitischen Anfeindungen, die aus der sogenannten Revolutionären Fraktion kam. Liberale Zeitungen distanzierten sich von den Hetzartikeln. Doch das antikommunistisch-antisemitische Gerücht, »Juden« würden das Proletariat in die Irre führen, blieb in Polen wie auch anderswo erhalten. Es verbreitete sich unter dem Schlagwort »Żydokomuna« (»Judäokommune«) und prägte in den folgenden Jahrzehnten das polnische Geschichtsbewusstsein, wie die Osteuropa-Historikerin Agnieszka Pufelska in »Die ›Judäo-Kommune‹ – ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939–1948« analysierte.

Schon vor Luxemburg hatten anarchistische oder kommunistische Linke auf Antisemitismus in ihrem Umfeld hingewiesen. 1862 hatte Moses Heß, zeitweise politischer Weggefährte von Karl Marx, in »Rom und Jerusalem« geschrieben, »nicht nur bei Gegnern, sondern bei meinen eigenen Gesinnungsgenossen« habe er erleben müssen, dass sie sich antisemitisch äußerten.

Die in Litauen geborene, US-amerikanische Anarchistin Emma Goldman berichtete in ihrer Autobiographie 1931 über ihre entsprechenden Erfahrungen mit nichtjüdischen Genossen in den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aber erst Luxemburg legte den Grundstock für eine ideologiekritische Erklärung dieses Phänomens. Dass der moderne Nationalismus und der Antisemitismus innig miteinander verwoben sind, ist bis heute eine der zentralen Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung.

»Solidarität mit dem palästinensischen Volk«

Am 15. Januar 1919 wurden Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin von rechtsextremen Freikorps ermordet. Jedes Jahr rufen neben der Linkspartei verschiedene linke Gruppen zur Teilnahme an sogenannten Liebknecht-Luxemburg- oder Liebknecht-Luxemburg-Lenin-Demonstrationen auf. Dieses Wochenende ist es wieder so weit.

Im vergangenen Jahr liefen bei der großen »LL-Demo« auch die trotzkistische Kleingruppe »Klasse gegen Klasse« und die antizionistische Gruppe »Palästina spricht« mit, um ihre »Solidarität mit Palästina« zu zeigen. Erstere unterstützt »bedingungslos« das Recht der Hamas auf »bewaffneten Widerstand«, wenn sie auch die »Verbrechen der Hamas gegen die palästinensische und israelische Zivilbevölkerung« nicht rechtfertigen wolle. Letztere feierte die Massaker am 7. Oktober als »revolutionären Tag«, auf den man »stolz sein« könne.

Was an einer politischen Haltung falsch ist, die sich in Slogans wie »Solidarität mit dem palästinensischen Volk« ausdrückt, hat Luxemburg bereits 1908 ausgeführt. Denn sich mit einem »Volk« zu solidarisieren, schließt alle Schichten und Klassen ein. Bezogen auf den gegenwärtigen Gaza-Krieg bedeutet das, die Solidarität von »Palästina spricht« gilt der Hamas ebenso wie einer Bourgeoisie im Gaza-Streifen oder einem antisemitischen Mob, während sich Luxemburg immer nur mit dem Proletariat verbunden wusste. Auf Luxemburg kann sich deshalb kaum berufen, wer eine »Befreiung Palästinas« fordert.