Nationalistische Tendenzen, eine überbordende Regulatorik, veraltete Strukturen und der demografische Wandel stellen die EU vor erhebliche Aufgaben. Noch dazu steht ein unberechenbarer US-Präsident „ante portas“.

Der Schriftsteller und EU-Vordenker Robert Menasse träumt schon lang vom Überwinden des nationalen Denkens. In seinem jüngsten Buch „Die Welt von morgen“ streitet er für ein souveränes und demokratisches Europa. Was müssen Politik, Wirtschaft und auch Banken dabei tun, was müssen sie leisten und erdulden? Antworten darauf kennen Menasse und Peter Bosek, CEO der Erste Group, Österreichs größter Bank. Sie diskutierten mit Madlen Stottmeyer, „Die Presse“, über die Rolle Europas von morgen und ob die EU eher ein Spielball fremder Mächte oder selbst ein großer Player ist. Es waren nur 66 Prozent der Österreicher, die sich am 12. Juni 1994 für den Beitritt zur Europäischen Union aussprachen. Robert Menasse wäre einer von ihnen gewesen, befand sich aber nicht im Land. „Rückblickend weiß ich heute nicht, wie ich abgestimmt hätte, aber mit ziemlicher Sicherheit doch für den EU-Beitritt“, erinnert sich der politische Essayist. „Ich hätte gehofft, dass die trübsinnigen Szenen der österreichischen Innenpolitik Geschichte werden, da dann Innenpolitik europäische Innenpolitik bedeuten würde. Viele Menschen haben damals ohne eine konkrete Vorstellung von der Idee und der damaligen Konstruktion der Europäischen Union abgestimmt. Eine sehr gute Kampagne der Regierung produzierte eine Stimmung, die zu dem Ergebnis geführt hat.“ Für Peter Bosek, damals Assistent am Juridicum, stellte sich die spannende Frage, wie der Beitritt die österreichische Rechtsordnung verändern würde: „Ich habe die Zeit als positiv aufgeregt erlebt, als einen Schritt in ein größeres Ganzes. Ich blicke, damals wie heute, sehr positiv auf den Beitritt, da Österreich damit ein Teil einer internationalen Gemeinschaft wurde.“

Weckruf für Europa

Drei Jahrzehnte später ist die Welt eine andere und mit der zweiten Amtszeit von Donald Trump stehen vermutlich turbulente Zeiten bevor. Für den CEO der Erste Group sollte das ein Weckruf für Europa sein. „Europa muss viel unabhängiger werden. Es ist eine Frage des Selbstbewusstseins, wie wir mit der Situation umgehen und wie wir Europa nicht nur von den USA unabhängig machen, sondern auch von China. Wir müssen ein Momentum innerhalb Europas kreieren, das nach vorn gerichtet ist“, mahnt Bosek. Für Menasse sind die politischen Eliten gefragt, um verstärkt über die Möglichkeit einer größeren Souveränität Europas zu diskutieren: „Mich stört, dass das nicht einmal seriös besprochen wird. Die Notwendigkeit wird ab und zu erwähnt, aber ich sehe niemanden, der beginnt, die Diskussion ganz konkret zu führen. Aber das wird notwendig sein.“ Für Menasse kann die EU nur dann funktionieren, wenn sie nicht als Club von Nationalstaaten, sondern im Sinne einer Gemeinschaftspolitik agiert.

Peter Bosek

Peter Bosek Mirjam Reither

»Europa muss viel unabhängiger werden. Wir müssen ein Momentum innerhalb Europas kreieren, das nach vorn gerichtet ist. «

Peter Bosek

CEO der Erste Group

Die dringlichsten Zukunftsthemen liegen für Peter Bosek auf der Hand. „Das ist einerseits die Energietransformation, die digitale Transformation und eine Veränderung unserer eigenen Verteidigungssysteme. Das kostet alles sehr viel Geld, aber das sind Investitions­chancen für Europa. Die Energietransformation war bisher mit einem negativen Narrativ besetzt, man kann das aber auch positiv betrachten“, führt der CEO der Erste Group aus. „In Österreich benötigen wir etwa 50 Milliarden Euro für die Energieinfrastruktur und es ist die beste Investition, die man tätigen kann, denn das schafft nachhaltige Werte. Den betroffenen Unternehmen gewähren wir sehr gern Kredite.“ Auf Ebene der EU sollten Sonntagsreden der Vergangenheit angehören und die neue EU-Kommission als Chance gesehen werden. Der Fokus sei auf die wesentlichen Themen zu legen.

Für Menasse wäre sogar ein drastischer Schritt nötig: „Ich würde mit einem Federstrich den Europäischen Rat abschaffen, denn der Rat der nationalen Regierungschefs ist die große Blockade im europäischen, demokratischen System. Perspektivisch muss er zurückgedrängt und entmachtet werden. Das System muss so aufgestellt werden, dass das Parlament Gesetze beschließt.“

Europäische Lösungen nötig

Eine bedenkliche Entwicklung ortet der Schriftsteller bei der Renationalisierung der Mitgliedsstaaten. „Das ist dem geschuldet, dass wir die Abgeordneten zum EU-Parlament nur auf nationalen Listen wählen können. Dadurch kommen viele Nationalisten ins Parlament, von denen einige die Gemeinschaftsentwicklung torpedieren“, so Menasse. Deshalb müssten die nationalen Einflüsse gebrochen werden, um die Entwicklung einer vernünftigen Gemeinschaftspolitik zu ermöglichen: „Das wird zwar in Brüssel diskutiert, doch es wagt niemand, das politisch-pragmatisch aufzunehmen.“ Bosek wiederum fehlt es am Verständnis, dass globale und europäische Probleme nur auf europäischer Ebene gelöst werden können. „Kein Land in Europa kann die Klimatransformation für sich allein bewältigen. Europa kann eine Richtung vorgeben. Es wird auch kein Verteidigungssystem geben, wenn sich Länder nicht koordinieren“, ist der Banker überzeugt.

Robert Menasse

Robert Menasse Mirjam Reither

»Ich würde mit einem Federstrich den Europäischen Rat abschaffen, denn der Rat der nationalen Regierungschefs ist die große Blockade im europäischen, demokratischen System. «

Robert Menasse

Schriftsteller

Menasse erachtet die fehlende Budgethoheit des Europäischen Parlaments als gravierendes Defizit. „Das ist eines der Beispiele für den inneren Widerspruch. Bei der Einführung einer gemeinsamen Währung wäre es logisch gewesen, das mit einer gemeinsamen Finanzpolitik zu begleiten. Das wollten die nationalen Finanzminister und Parlamente nicht“, moniert er. „Die heilige Kuh der nationalen Parlamente ist die Budgethoheit, die sie nicht aus der Hand geben. Wir stoßen immer wieder auf diesen sinnlosen, dummen, unproduktiven Widerspruch zwischen einer vernünftigen nach-nationalen Entwicklung und der Renationalisierung der Mitgliedsstaaten.“

Schlanke Bürokratie

Ausufernde Regelwerke und eine überbordende Bürokratie sind weitere wunde Flanken der EU. Bosek: „Europa hat den Zugang, Regulatorik als Waffe zu sehen, anstatt innovativ zu sein. Das ist ein kulturelles Grundproblem. Als sich die Welt in den vergangenen zwanzig Jahren von der Industrie zur Software entwickelt hat, ist uns dazu wenig eingefallen. Es gibt mit SAP eine einzige größere Software-Company in Europa. Aber wir freuen uns, wenn Google verurteilt wird. Wenn die nächste Welle an Technologie vor Europa halt macht, da sie Apple gar nicht mehr implementiert, dann habe ich die Sorge, dass wir hier irgendwann als Museum enden.“ Überschießende Regulatorik leiste keinen nachhaltigen Beitrag zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Eine Zivilisation ist ohne Bürokratie allerdings für Robert Menasse unvorstellbar, stellt sie doch das Fundament für die Verwaltung und die Entwicklung des Zusammenlebens dar. „Bürokratie sollte aber schlank sein. Die Europäische Union hat zur Verwaltung des ganzen Kontinents weniger Beamte zur Verfügung als die Stadt Wien“, so der Essayist. „Bei der Regulatorik gibt es manchmal Dinge, die über das Ziel hinausschießen.“

Im „Presse“-Studio sprachen Ende vergangenen Jahres Robert Menasse und Peter Bosek mit Madlen Stottmeyer über die dringenden nächsten Aufgaben für die Europäische Union.

Im „Presse“-Studio sprachen Ende vergangenen Jahres Robert Menasse und Peter Bosek mit Madlen Stottmeyer über die dringenden nächsten Aufgaben für die Europäische Union. Mirjam Reither

Alte Zöpfe abschneiden

Zur Lösung eines der dringlichsten Probleme Österreichs, einer längst überfälligen Reform des Pensionssystems, müsse man nur den Blick in den Norden der EU richten, wo es exzellente Vorbilder gäbe. „Die österreichischen Pensionskassen haben ungefähr 23 Milliarden Euro an Vermögen, die dänischen 800 Milliarden und das bei fünf Millionen Einwohnern. Wir werden ein neues Momentum brauchen. Wir haben in Europa alles, was wir benötigen, um wirklich Gas geben zu können. Es ist eine Willensentscheidung, dass, wenn wir mit dem Status quo unzufrieden sind, alte Zöpfe abschneiden müssen“, fordert Peter Bosek. „Die Strategie des Durchwurschtelns der vergangenen zwanzig Jahre ist vorbei, das wird nicht mehr funktionieren. Wir müssen, wenn wir unseren Wohlstand bewahren wollen, raus aus dieser Untätigkeit, denn es wird uns niemand helfen. Wohlstand kommt nicht aus dem Bankomaten und fällt nicht von oben herab, sondern wir müssen dafür arbeiten.“

Information

Die Diskussion fand in Kooperation mit „Die Presse“ statt und wurde finanziell unterstützt von der Erste Group.