Herr Willig, Herr Rauhut, seit Jahren herrscht in Deutschland Fachkräftemangel, insbesondere im Ingenieurwesen. Nun steckt die Automobilbranche in der Krise, sogar von „Deindustrialisierung“ ist die Rede. Braucht es bald keine Ingenieure mehr?
WILLIG: Das denke ich nicht. In der Tat befindet sich Deutschland in einer sehr herausfordernden Phase. Doch selbst wenn wir derzeit in Sachen E-Autos nicht so schnell vorankommen, gibt es unzählige Aufgaben für hochqualifizierte Ingenieurinnen und Ingenieure. Sie werden sogar immer mehr: Die Transformation zur nachhaltigen Mobilität und erneuerbarer Energietechnik insgesamt, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz, Automation, Raumfahrt, Medizintechnik – die gesamte Weltwirtschaft erfindet sich gerade neu. In vielen dieser Branchen ist Deutschland nach wie vor Spitze. Und in allen spielen Ingenieurinnen und Ingenieure eine zentrale Rolle. Die Nachfrage wird weiterhin wachsen.

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Aber ausgerechnet im Ingenieurland Deutschland kommen nicht genug Ingenieure nach. Wie groß ist der Mangel? RAUHUT: Laut dem Ingenieurmonitor, den der VDI gemeinsam mit dem Institut der deutschen Wirtschaft herausgibt, ist der Mangel ernst. Zwar ist Deutschland nach wie vor ein Land der Ingenieurinnen und Ingenieure, aktuell arbeiten hier knapp 2,5 Millionen in dieser Berufssparte. Ihr Anteil am gesamten Arbeitsmarkt ist deutlich höher als in anderen Ländern. Dennoch waren im zweiten Quartal 2024 – das sind die aktuellsten verfügbaren Daten – knapp 136.000 Ingenieursstellen offen. Und pro Jahr kommen nur etwa 70.000 bis 75.000 Absolventen nach. Auf 100 arbeitssuchende Ingenieurinnen und Ingenieure gibt es über 300 offene Stellen.

Adrian Willig ist Diplom-Ingenieur und Direktor Verein Deutscher Ingenieure (VDI)

Woher rührt dieser Mangel?
RAUHUT: Zugrunde liegt vor allem das demographische Problem, das den gesamten Arbeitsmarkt betrifft: Die Geburtenrate in Deutschland ist sehr niedrig, die Bevölkerung überaltert. Die Babyboomer aus den geburtenstarken Jahrgängen in den 50er und frühen 60er Jahren sind nun im Rentenalter.

Ingo Rauhut ist Diplom-Ökonom und Arbeitsmarktexperte beim Verein Deutscher Ingenieure (VDI)

Der Verlust dieser Fachleute kann allein durch Hochschulabsolventen nicht kompensiert werden – zumal die Studierendenzahlen in Fächern wie Bauingenieurwesen, Energie- und Elektrotechnik rückläufig sind. Dabei sind es gerade jene Berufsfelder, in denen wir aktuell vor den größten Herausforderungen stehen: Energiewende, Modernisierung der Infrastruktur und so weiter.
WILLIG: Dazu kommt, dass die sogenannten MINT-Fächer – also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – zu wenig Beachtung finden, obwohl sie für unsere Wirtschaft so wichtig sind.

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RAUHUT: Ja genau. Viele wissen gar nicht, was man als Ingenieur überhaupt macht. In TV-Serien sind meist Ärzte, Polizistinnen oder Anwälte die Helden, Ingenieurinnen und Ingenieure kommen da selten vor…

 136.000

Ingenieursstellen blieben im zweiten Quartal 2024 unbesetzt.

Es muss also eine Ingenieurs-Serie her – oder was braucht es, um den Mangel abzustellen?
WILLIG: Jedenfalls müssen wir noch mehr aufklären, den Nachwuchs für technische Fächer begeistern und das Berufsbild des Ingenieurs schmackhaft machen – insbesondere auch für Frauen, deren Anteil immer noch nur 20 Prozent beträgt.

War die europäische Studienreform von Nachteil für das Ingenieurwesen? Der international hoch angesehene deutsche Titel „Diplom-Ingenieur“ musste Bachelor und Master weichen.
RAUHUT: Nach inzwischen 20 Jahren Erfahrung mit Bachelor und Master im Ingenieurwesen zeigt sich, dass deutsche Ingenieurinnen und Ingenieure heute auch ohne die Bezeichnung „Diplom“ hoch angesehen sind. Allerdings ist nicht jeder Ingenieur als solcher erkennbar, wenn er etwa einen Bachelor-Abschluss erworben hat. Darum empfiehlt der VDI, dass Hochschulen auf ihren Abschlusszeugnissen die erworbene Voraussetzung für diese geschützte Berufsbezeichnung vermerken.

Ist der Mangel an Ingenieuren auch ein Bildungsthema? Muss sich an Schulen und Hochschulen etwas ändern?
WILLIG: Auf jeden Fall! Wir müssen unbedingt mehr in die Bildung, speziell der MINT-Fächer, investieren. Das Fach Technik zum Beispiel gibt es an Schulen kaum, Informatik nur als Wahlfach. Und da brauchen wir nicht nur entsprechende Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch eine gewisse Ausstattung zum Experimentieren und Bauen. Es kostet also Geld.

Auf ohnehin schon strenge EU-Richtlinien setzt die deutsche Politik häufig sogar einen drauf.

Adrian Willig, VDI-Direktor

Verstehen Sie uns nicht falsch: Fächer wie Deutsch, Sprachen, Kunst und Religion sind auch wichtig. Aber das Fundament unseres Wohlstands ist die Technik, sind die Maschinen und Autos, die wir exportieren, weil sie wegen ihrer Qualität in aller Welt beliebt sind. Damit bezahlen wir auch unseren gut ausgebauten Sozialstaat. Und um das zu sichern, brauchen wir dringend mehr Ingenieursnachwuchs.

Hat es da politische Versäumnisse gegeben, die richtigen Weichen zu stellen?
WILLIG: Ein politisches Versagen sehe ich eigentlich nicht. Die Zahl der Ingenieure ist ja durchaus gestiegen in den vergangenen Jahren. Aber eben bei weitem nicht im notwendigen Maße. Wir kommen dem Bedarf nicht hinterher. Und es ist nicht so einfach, dem zugrundeliegenden Demographieproblem entgegenzuwirken. Aber es gibt neben der Bildung durchaus weitere Ansatzpunkte, wo zu wenig geschieht.

Welche sind das?
RAUHUT: Wir könnten mehr Fachleute aus dem Ausland durch attraktive Bedingungen nach Deutschland locken. Leider sind wir Deutschen aber sehr gut darin, solche Dinge stattdessen unnötig zu verkomplizieren und bürokratische Hürden aufzubauen. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz mit seinen knapp 140 verschiedenen Zuwanderungswegen ist dermaßen kompliziert, dass selbst Insider den Überblick verlieren. Wie soll das erst jemand verstehen, der unsere Sprache und Kultur nicht kennt?
In Indien zum Beispiel gibt es viele gut ausgebildete Ingenieurinnen und Ingenieure, die ins Ausland gehen wollen. Für die sind aber Länder wie die USA, Kanada und Australien attraktiver, weil sie dort weder auf eine Sprachbarriere noch auf allzu komplizierte Regeln treffen.
WILLIG: Wir wollen nicht ins übliche Politik-Bashing einsteigen, aber wenn es allein schon ein halbes Jahr dauert, um ein Visum zu erhalten – unter anderem, weil die Digitalisierung der deutschen Behörden hinterherhinkt, dann ist das natürlich suboptimal. Viele Dinge sind bei uns überreguliert, die Infrastruktur ist rückständig. Das zeigt sich auch auf EU-Ebene: Ambitionen zum Ausbau der Wasserstoffökonomie werden im Keim erstickt, zum Beispiel weil Wasserstoff nur dann als grün gelten darf, wenn er unmittelbar mit einer Windenergieanlage produziert wird.
So etwas ist tödlich für eine Transformation. Vielmehr sollte man die Regeln anfangs flexibel und erst mit der Zeit enger fassen, wenn sich eine neue Technologie etabliert hat. Auf ohnehin schon strenge EU-Richtlinien setzt die deutsche Politik häufig sogar einen drauf. Die Solartechnik, in der wir anfangs führend waren, hat sich nicht zuletzt deswegen nach China verlagert.
RAUHUT: Wir Deutschen tendieren dazu, statt der Chancen einer neuen Technologie erst einmal die Risiken zu sehen. Das hat nicht zuletzt kulturelle Gründe, macht es zum Beispiel aber für Start-ups mit einer guten neuen Idee schwer, Risikokapital einzuwerben. In den USA kommen da ganz andere Summen zustande.
WILLIG: Wir haben in Deutschland exzellente Universitäten und Forschungseinrichtungen mit wunderbaren Ideen. Aber oft scheitert es dann an der Umsetzung. Es fehlt an Start-up-Mentalität. Aber man muss eben Risiken eingehen, um disruptive Technologien entwickeln zu können und im internationalen Wettbewerb zu bestehen.
Nichtsdestotrotz gibt es in Deutschland hervorragende Jobs für ausländische Fachleute – nicht zuletzt bei vielen Hidden Champions im Mittelstand. Aber die Begleitumstände sind anderswo besser. Der VDI fordert deshalb dringend einen Abbau der Bürokratie und gezielte Zuwanderungsprogramme.

Der Verein Deutscher Ingenieure (VDI)

ist der größte technisch-wissenschaftliche Verband Deutschlands. Er vertritt die Interessen von rund 130.000 Ingenieurinnen und Ingenieuren, die dort Mitglied sind und setzt sich für Nachwuchs- und Technikförderung ein, entwickelt Richtlinien für technische Prozesse und betreibt Weiterbildungseinrichtungen.

In wenigen Wochen wird in Deutschland gewählt. Was sollte die neue Regierung außerdem tun?
WILLIG: Wir müssen die Energie insbesondere für energieintensive Industrien wie Stahl und Chemie bezahlbar halten. Sonst sind deutsche Unternehmen nicht mehr wettbewerbsfähig und wandern ab. Und damit auch die gut bezahlten Ingenieurs-Jobs. Die Politik muss gute Rahmenbedingungen schaffen und Anreize für ehrgeizige Ziele setzen – es dann aber mehr dem Markt überlassen, wie er das erreichen will.
Vor allem brauchen wir eine längerfristige Planung. Die deutsche Politik und auch viele Dax-Unternehmen denken aus unserer Sicht oft zu kurzfristig. In der Politik von Wahl zu Wahl, in der Wirtschaft von einem zum nächsten Quartalsbericht. Man schaut zu sehr auf schnelle Erfolge. Stattdessen sollte man wie so viele Hidden Champions des Mittelstandes – oft sind das Familienunternehmen – über Generationen hinweg planen: Was müssen wir heute tun, um in 10, 20, 30 Jahren erfolgreich zu sein?

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Welche Rolle spielt dabei die VDI-Initiative „Zukunft Deutschland 2050“?
WILLIG: Gemeinsam mit Fachleuten aus Industrie und Wissenschaft erarbeiten wir Vorschläge, wie wir unseren führenden Wirtschafts- und Technologiestandort langfristig stärken können. Wir müssen unsere Kompetenzen etwa in Maschinenbau, Klimatechnik, Elektrolyse und Künstlicher Intelligenz in Automation und Fertigung ausbauen. Und dringend Anschluss etwa in der Batterie- und Halbleiterproduktion finden. Da geht es nicht nur um Arbeitsplätze, sondern auch darum, unabhängiger von internationalen Lieferketten und krisenfester zu werden.

Was tut der VDI selbst, um seinen Ansprüchen an Politik und Wirtschaft gerecht zu werden?
WILLIG: Wir machen schon einiges, etwa in der Nachwuchsförderung. Für die Kleinsten gibt es die VDIni-Clubs, in denen Kinder ab vier Jahren spielerisch die Welt der Technik kennenlernen. Mit Bibliotheken kooperieren wir und bieten dort sogenannte Technotheken an, wo nicht nur Bücher zu Wissenschaft und Technik, sondern auch Experimentierkästen zur Ausleihe bereitstehen.
Studierende sowie junge Absolventinnen und Absolventen können von unserem VDI-Netzwerk Young Engineers profitieren, wo über 23.000 Mitglieder mit Rat und Tat beiseite stehen, um den Einstieg in Studium und Berufsleben zu erleichtern. Und für zugewanderte Fachleute haben wir ein Mentorenprogramm, in dem erfahrene Ingenieurinnen und Ingenieure bei der Integration helfen.
RAUHUT: Beim Thema Fachkräftemangel ist es wichtig, dass alle Stakeholder zusammenarbeiten, um ihn zu überwinden. Das ist auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: Es ist zum Beispiel an uns allen, dafür zu sorgen, dass sich zugewanderte Fachkräfte auch wohlfühlen in Deutschland. So kann jeder mithelfen, dass der Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Deutschland auch weiterhin führend bleibt.