Der Präsidentschaftskandidat könne schon mal anfangen, für die Verteidigung Polens zu trainieren. Mit diesen Worten äußerte sich der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij bei seinem Besuch in Warschau vergangene Woche zum polnischen Wahlkampf. In den er mit aller Macht hineingezogen wird. Wenn die Ukraine nicht Mitglied der EU und Nato werde, dann werde Russland irgendwann auch in Polen einmarschieren, erklärte Selenskij in einem Interview mit verschiedenen polnischen Medien.
Die bislang überparteiliche Zusage, dass Polen das große Nachbarland bei seinem Beitritt zur Europäischen Union und zum Verteidigungsbündnis unterstützen werde, hatte Karol Nawrocki infrage gestellt. Der 41-jährige parteilose Historiker kandidiert für die rechtsnationalistische PiS-Partei und will die Wahl am 18. Mai gewinnen. Noch trennen ihn in Umfragen etwa zehn Prozentpunkte von Rafał Trzaskowski, einem Parteifreund von Ministerpräsident Donald Tusk. Der Warschauer Oberbürgermeister trat bereits vor fünf Jahren an und unterlag damals knapp Amtsinhaber Andrzej Duda.
Die PiS-Partei wirft der Ukraine mangelnde Kooperation, sogar Undankbarkeit vor
Der Präsidentschaftswahlkampf in Polen hat offiziell begonnen – und die Ukraine ist mittendrin. Schon länger zeichnet sich ab, dass sich die PiS-Partei zur Ukraine anders stellt als die Bürgerplattform von Donald Tusk, die wie die CDU zur Europäischen Volkspartei gehört. Bereits im Parlamentswahlkampf 2023 war das spürbar. Sowohl PiS als auch rechtsextreme Parteien versuchten, den Aufstand der Landwirte und Lastwagenfahrer für sich zu nutzen. Diese beklagten sich darüber, dass der Markt mit günstigen ukrainischen Lebensmitteln überschwemmt werde und dazu Lastwagenfahrer aus der Ukraine die Preise unterböten. PiS warf der Ukraine mangelnde Kooperation, sogar Undankbarkeit vor.
Auch die Rhetorik gegenüber ukrainischen Kriegsflüchtlingen wurde schärfer. In der Partei wurde über die Höhe der Unterstützung diskutiert. Ein heißes Eisen ist zudem der Umgang mit der Weltkriegsgeschichte. Ukrainische Nationalisten töteten in den Jahren 1942 bis 1947 Zehntausende polnische Männer, Frauen und Kinder, vor allem Bauernfamilien, ganze Dörfer wurden ausgelöscht. Es kam jedoch auch zu polnischen Vergeltungsaktionen an Ukrainern. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die bis dahin polnischen Gebiete der Sowjetunion zugeschlagen.
Allein beim sogenannten Wolhynien-Massaker im Sommer 1943 wurden etwa 60 000 Polinnen und Polen ermordet. Bis heute streiten die Länder um die Aufarbeitung der Geschichte.
PiS-Präsidentschaftskandidat Nawrocki, Leiter des Instituts für nationales Gedenken (IPN), hat nun gesagt, dass er „für die Ukraine keine Zukunft in der Europäischen Union und der Nato sehe, solange unsere Probleme nicht gelöst sind, einschließlich der Exhumierung der Opfer des Völkermordes von Wolhynien“. In Polen spricht man tatsächlich von Völkermord, die Ukraine lehnt den Begriff bislang ab.
Viele Polen erwarten von ihrem Nachbarland ein Schuldeingeständnis
Nach Jahren des Stillstands zu Zeiten der PiS-Regierung gab die Ukraine aber nun die Erlaubnis, dass Leichen wieder exhumiert werden dürfen, mit dem Ziel, sie würdig zu bestatten. Ein Erfolg, den die Tusk-Regierung für sich verbuchen kann, während sich Nawrocki beeilte, das herunterzuspielen und weitere Forderungen nachzuschieben.
Tatsächlich erwarten viele Polen auch eine offizielle Anerkennung des Leids der polnischen Opfer und ein Eingeständnis der Schuld. Auf ukrainischer Seite hält man noch an der Verehrung patriotischer Freiheitskämpfer fest.
Selenskij äußerte sich in Warschau nun nicht nur recht negativ über Nawrocki – er traf sich auch mit dessen Kontrahenten Rafał Trzaskowski. Selenskij überreichte Trzaskowski eine Auszeichnung für den Einsatz der Stadt Warschau bei der Unterbringung und Versorgung ukrainischer Flüchtlinge. Das war einerseits ein normaler Höflichkeitsbesuch beim Oberbürgermeister der Hauptstadt, Selenskij hatte sich auch mit Ministerpräsident Tusk und Präsident Duda getroffen. Aber Trzaskowski kam es gelegen.
Der liberale Kandidat versicherte, dass der Platz der Ukraine in der EU und Nato sei. Am nächsten Tag warb Trzaskowski auf Wahlkampftour dafür, polnische Produkte zu kaufen – Trzaskowskis Art, Solidarität mit den polnischen Landwirten auszudrücken. Zudem erklärte er, zum Thema Landwirtschaft müsse zwischen Polen und der Ukraine vor einem EU-Beitritt Verständigung erreicht werden.
Der Beitritt der Ukraine als dann größtem Agrarstaat hätte für die EU-Landwirte gravierende Folgen. Polen wäre nicht länger der Hauptempfänger von EU-Subventionen und könnte mit der schieren Masse, die im flächenmäßig fast doppelt so großen Nachbarland produziert wird, nicht mithalten.
Letztlich geht es nun vor allem um den Ton, der gegenüber der Ukraine angeschlagen wird. Und der ist im Falle der Partei von Donald Tusk umgänglicher als im Falle der PiS. Die Themen sind dieselben. Nawrockis Forderung, die Wolhynien-Frage mit der Unterstützung für den EU-Beitritt zu verbinden, war zuvor auch schon aus Tusks Koalition zu hören gewesen. Tusk hielt nach seinem Treffen mit Selenskij in Warschau vor allem die Reihenfolge fest, in der die Länder aufeinander zugehen sollten. Erstens: Gemeinsam den russischen Feind besiegen. Zweitens: Nachbarschaftsstreits lösen.