Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
das Ergebnis der Bundestagswahl ist ein politisches Beben. Nach Angela Merkels Mittekurs und dem Experiment der linksliberalen Ampelkoalition rückt das Land nach rechts: knapp 29 Prozent für die Union, die CDU-Chef Friedrich Merz deutlich konservativer positioniert hat als seine Amtsvorgänger. Und mehr als 20 Prozent für die rechtsextremistisch geprägte AfD, die vielerorts im Osten sogar stärkste Kraft wird.
Knapp die Hälfte der Wahlberechtigten wünscht sich eine andere Politik als bisher: Gegen dieses Votum ist kein Staat zu machen, wie auch immer die künftige Bundesregierung aussieht. Bei den Aufregerthemen Migration, Energie, Wirtschaft wird die nächste Koalition grundlegende Kurswechsel einschlagen müssen, will sie nicht Gefahr laufen, ähnlich zu enden wie die Ampel. Es mag schwierig sein, AfD-Wähler für die demokratischen Parteien zurückzugewinnen, unmöglich ist es nicht. Die höchste Wahlbeteiligung seit der Wiedervereinigung (fast 84 Prozent!) dokumentiert die Re-Politisierung der Bevölkerung. Das ist das beste Teilergebnis dieser Bundestagswahl.
Fast alle anderen Resultate sind heikel. CDU und CSU können zwar als Wahlsieger die künftige Bundesregierung anführen, Friedrich Merz macht sich fürs Kanzleramt bereit. Bei aller Kritik, die an manchen seiner Positionen und Sätze zu üben ist: Wie er sich jahrelang in der CDU nach oben gearbeitet und aus der Union wieder eine profilstarke Truppe gemacht hat, nötigt Respekt ab. Doch ein strahlender Sieger ist er nicht, dafür ist das Ergebnis zu dünn. “Ein Triumph sieht anders aus”, schreibt unser Politikchef Christoph Schwennicke.
Die Schwäche hat Folgen: Aus dem christlich-sozialen Flügel der CDU kommt Kritik am Kurs des Vorsitzenden, noch hinter vorgehaltener Hand, aber das muss nicht so bleiben. Zudem dürfte Markus Söder mit seinem starken CSU-Ergebnis im Rücken versuchen, Merz vor sich herzutreiben. Und dann ist auch noch auf die gedemütigte SPD als Koalitionspartnerin Rücksicht zu nehmen, da es ja für ein schwarz-rotes Bündnis reicht. Einfach wird das Regieren für Merz nicht.
Die AfD kann feiern. Sie hat ihr Ergebnis seit der letzten Bundestagswahl fast verdoppelt, im Osten führt kein Weg an ihr vorbei. In aufgewühlten Zeiten, angesichts zahlreicher Gewalttaten von Asylbewerbern und befeuert von russischer Propaganda in den Social-Media-Kanälen hat sich die Partei weiter radikalisiert – und hat Erfolg damit. Der extremistische Flügel um Björn Höcke gibt den Ton an, Parteichefin Alice Weidel tanzt nach seiner Pfeife. Das ist wohl das düsterste Ergebnis dieser Wahl: Dass so viele Menschen kein Problem darin sehen, die AfD trotz ihrer fremden- und EU-feindlichen, kremlfreundlichen Positionen zu wählen. Selbstbewusst macht Weidel nun Merz Avancen: “Unsere Hand ist ausgestreckt, um den Willen des Volkes umzusetzen.” Doch der CDU-Chef hat eine Zusammenarbeit gestern Abend abermals kategorisch ausgeschlossen – und Weidel verfällt wieder in die AfD-Kampfrhetorik: “Wir werden die anderen jagen!” Mit solchen Leuten ist keine konstruktive Politik zu machen.
Die SPD holt das schlechteste Bundestagswahlergebnis ihrer Geschichte. Der Absturz der Sozialdemokraten ist brutal – und vor allem einem Mann anzukreiden: Olaf Scholz wird von den Wählern mit einer Klatsche aus dem Amt getrieben; die große Mehrheit traut ihm nicht zu, das Land gut zu regieren. Scholz beteuert, seine neuerliche Kandidatur sei trotzdem richtig gewesen, aber damit dürfte er spätestens jetzt mutterseelenallein dastehen. Mit Boris Pistorius, dem populärsten deutschen Politiker, hätte die SPD sicher besser abgeschnitten. Dass Scholz ihn als Spitzenkandidaten verhindert hat, ist das größte Versagen des scheidenden Kanzlers.
Und die anderen Parteien? Die Grünen sind über ihre eigenen Fehler gestolpert, die Linke hat dank eines fulminanten Wahlkampfendspurts zugelegt, das BSW hatte sich von seiner Namenspatronin Sahra Wagenknecht mehr erhofft, die FDP wird für ihre destruktive Verweigerungspolitik bestraft – Parteichef Christian Lindner trat noch gestern Abend zurück. Allenfalls die Grünen konnten sich einige Stunden lang Hoffnung auf ein Plätzchen am Kabinettstisch machen, aber auch sie müssen aus ihren Schwächen lernen: der mangelnden Verankerung im ländlichen Raum, der ungeschickten Kampagnenführung, dem Hin und Her bei wichtigen Fragen. Unsere Reporter haben die wichtigsten Erkenntnisse zu allen Parteien hier zusammengefasst.
Der politische Rechtsruck wird Deutschland verändern. Zum Glück obliegt es der demokratischen Union, den Politikwechsel anzuführen, nicht der AfD. Friedrich Merz will ganz andere Schwerpunkte setzen als die Ampelregierung. Ob ihm das angesichts der schwierigen Kräfteverhältnisse gelingt, ist im besten Fall ungewiss, im schlechtesten unwahrscheinlich. Bleibt zu hoffen, dass er zwar einen neuen, aber auch einen besonnenen Kurs einschlägt. Polarisiert ist das Land schon genug.
Aus Frust Extremisten wählen? Ist kreuzdumm. Und die Stones haben den passenden Song dazu.
Heute vor drei Jahren begann Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Seither hat Russlands Diktator so viele Menschen ins Verderben gestürzt wie wenige andere Zeitgenossen. Bis zu 100.000 ukrainische Soldaten sind gestorben, auf russischer Seite könnten es 220.000 sein. Die Verletztenzahlen sind noch höher. Mehr als 10.000 ukrainische Zivilisten verloren ihr Leben, darunter fast 700 Kinder. Rund 30.000 Zivilisten wurden verletzt. Fast 7 Millionen Ukrainer sind aus ihrem Heimatland geflohen, 1,2 Millionen nach Deutschland. Die Partnerländer haben der Ukraine 267 Milliarden Euro an Hilfsgeldern überwiesen; zusammengenommen ist der Anteil der europäischen Staaten sogar größer als der amerikanische.
Die Widerstandskraft der Ukrainer hat Putin ebenso überrascht wie die Gegenwehr der westlichen Staaten: Die Sanktionen treffen die russische Wirtschaft; die diplomatische Blockade beraubt den Kreml internationalen Einflusses. Umso wilder schlägt das Moskauer Regime um sich, schickt Saboteure gegen europäische Firmen und Infrastruktur, stachelt Dschihadisten auf, diffamiert im Internet demokratische Regierungspolitiker und unterstützt Extremisten.
Der Krieg und die Sabotage haben Deutschland aus seinem Dornröschenschlaf geweckt. Die Energiekrise hat die Wirtschaft in die Krise gestürzt, extreme Parteien erstarken. Trotzdem steht die Bundesrepublik nach drei Jahren Krieg in Europa immer noch stabil da und sucht den Schulterschluss mit den EU-Partnern.
Loading…
Loading…
Loading…