Wenn man in die europäischen Geschichtsbücher blickt, ist es eigentlich offensichtlich, dass es alle paar Jahrzehnte zu großen Umbrüchen kommt. Als auf Kontinuität ausgelegten Gewohnheitstieren fällt es uns trotzdem schwer, auf solche Ereignisse, die sich nur ein- oder zweimal in unserem Leben ereignen, angemessen zu reagieren. Wer dachte, dass wir nach dem letzten Erdbeben dieser Art, der deutschen Wiedervereinigung, nun mehr oder weniger kontinuierlich in einen regel- und werteorientierten Sonnenuntergang reiten, muss neu denken.  

Europa auf dem falschen Fuß erwischt

Nachdem Wladimir Putin die europäische Friedensordnung durch seinen Angriff auf die Ukraine „angeschlagen“ hatte, droht ihr nun durch das mögliche Ende der transatlantischen Allianz, des Grundsteins unser europäischen Sicherheitsarchitektur, der zum Glaubensbekenntnis aller amerikanischen Präsidenten nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte, sogar ein „K.O.“ durch Donald Trump. Überrascht von diesem Szenarium, das sich seit Monaten, wenn nicht Jahren, andeutete, kann eigentlich niemand sein, aber die Europäer sind es anscheinend trotzdem. Man hat auf das Beste gehofft, aber sich auf das Schlechteste nicht vorbereitet. 

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Als heterogene Staatengemeinschaft teils mit, teils ohne EU- oder Nato-Mitgliedschaft ist das, was ich hier Europa nenne, heute nur bedingt, nur reaktiv und mit einer schwer zu ertragenden Langsamkeit entscheidungs- und handlungsfähig. Nicht nur die Bundeswehr, auch andere europäische Streitkräfte wurden in den Jahrzehnten vor Putins Angriff den strapazierten Haushalten geopfert und sind jetzt, trotz Bekenntnis zur Zeitenwende und auch wenn das Geld bereitstünde, fünf bis zehn Jahre von einer angemessenen Einsatzbereitschaft entfernt – die einen Verlust der amerikanischen Fähigkeiten, insbesondere bei militärischer Aufklärung und nuklearer Abschreckung, trotzdem nicht ausgleichen würde.   

Seit Donald Trump die USA wie ein Unternehmen mit merkantilistischen, wenn nicht präditorischen Zielen führt, in dem es um Gewinnmaximierung und nicht um rechtsstaatliche Prinzipien oder Werte zu gehen scheint, wachen wir widerwillig aus einem Dornröschenschlaf auf. Wie tief dieser war, versinnbildlichte uns auf surreale Weise die damalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, als sie medienwirksam vor nicht einmal drei Jahren der Ukraine noch mit 5000 Helmen zu Hilfe eilen wollte. Erst Putin, jetzt Trump haben Europa mit einem Doppelschlag auf dem falschen Fuß erwischt, weil Europa gar keinen richtigen Fuß mehr besitzt.  

Ehekrise zwischen den USA und Europa

Es ist ein bisschen wie in einer Ehe. Krisen hat es zwischen den USA und den Europäern in der Nato immer wieder mal gegeben: der temporäre Austritt Frankreichs aus der Militärstruktur während des Vietnamkrieges; als Jimmy Carter US-Truppen in Europa ab- und Ronald Reagan in Europa aufrüsten wollte; als man nach dem Ende des Kalten Krieges in den 90er Jahren die Notwendigkeit des Bündnisses in Frage stellte; als das vermeintlich „alte Europa“ mit Deutschland und Frankreich sich weigerte, George Bush in den Irakkrieg zu folgen; als Donald Trump im ersten Mandat höhere Beiträge der Europäer forderte – ein Warnschuss, den man damals hoffte, aussitzen zu können – und zuletzt der schlecht koordinierte Abzug der Amerikaner aus Afghanistan unter Biden.  

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Aber niemand zog den Beistandsartikel 5 in Zweifel oder drohte offen mit einem Austritt aus der Nato wie jetzt Donald Trump in seinem zweiten Mandat. Einer der Ehepartner macht nun klar, dass er nicht an einer Fortsetzung der Partnerschaft interessiert ist, der andere, abhängige, möchte die Ehe gerne noch weiterführen, lässt sich deshalb einiges bieten, versucht es noch einmal mit Charmeoffensiven und hofft vielleicht noch auf bessere Zeiten.

Die Rede des amerikanischen Vizepräsidenten J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz und die öffentliche Demütigung Selenskyjs im Oval Office sind nicht nur wegen der Stilfragen schockierend und für die Ukraine möglicherweise schicksalhaft. Im besten Fall offenbart sich hier eine Gleichgültigkeit gegenüber einem als Verlustgeschäft wahrgenommenen Europa, das man ohne europäische Schutzzahlungen lieber beenden möchte. Im schlimmsten Fall ist es Ausdruck einer dezidierten Strategie, einen unliebsamen Wirtschaftskonkurrenten zu spalten und zu schwächen, oder, wie es nicht nur der ehemalige französische Premierminister Villepin vermutet, sogar zu unterwerfen. In jedem Fall ist es ein Paradigmenwechsel mit schlechten Voraussetzungen für die Fortsetzung einer glücklichen Ehe.  

Zeit, sich neu zu positionieren

Es ist nach heutiger Lage noch nicht klar, ob Trump mit seinem innen- und außenpolitischen Blitzkrieg langfristig in seinem Sinne erfolgreich sein wird oder ob er, in zu viele Konflikte verstrickt, wie Napoleon im Russlandfeldzug den Clausewitzschen Kulminationspunkt überschreitet, irgendwann den Rückzug vom Rückzug aus Europa antreten oder sogar insgesamt krachend scheitern wird. Wir mögen uns wünschen, dass in einem zunehmend pazifisch geprägten Zeitalter noch einmal die Transatlantiker in den USA die Oberhand gewinnen, verlassen kann man sich darauf aber nicht. 

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Ernsthafter Widerstand gegen Trump regt sich in der republikanischen Partei nicht oder nicht mehr, unterdessen lecken die Demokraten ihre Wunden und haben im Augenblick andere Probleme als Europa. Angesichts der gegen Europa tickenden Uhr kann es sich Europa nicht leisten, den Ausgang dieser Reality Show abzuwarten, die ausgehen könnte wie das Warten auf Godot. Es ist Zeit, dass sich Europa strategisch neu positioniert und den Reset-Button drückt.    

Zwischen Appeasement und Derisking

Das strategische Schachbrett in Bezug auf das europäische Verhältnis zu den USA hat zwei Hauptdimensionen: Abhängigkeit vs. Autonomie bzw. Kooperation vs. Konfrontation. Europas bisherige Position war die der Abhängigkeit und Kooperation. Wir werden Jahre, vielleicht Jahrzehnte brauchen, uns aus der Abhängigkeit zu befreien. Eine Konfrontation nach dem Motto „Make Europe Great Again“ würde das sichtbar schwache europäische Blatt überreizen und dem am längeren Hebel sitzenden Trump einen Vorwand bieten, seine antagonistischen Pläne zu rechtfertigen und noch zu forcieren.  

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Unter den gegebenen Umständen scheint es für Europa besser, eine Doppelstrategie zu fahren: einerseits, nicht aus Liebe, sondern aus Pragmatismus, die amerikanisch-europäische Ehe so gut und so lange es geht fortzusetzen und sich um ihre Wiederbelebung zu bemühen – warum keine Paartherapie versuchen; um es nicht Appeasement zu nennen. Wenn der Partner aus dem gemeinsamen Haus tatsächlich ausziehen will, kann man ihn vielleicht nicht daran hindern, aber man braucht ihn auch nicht in vorauseilendem Gehorsam rauszuschmeißen, sondern sollte versuchen, einen Strategic Retreat der Amerikaner, wo möglich, zu verlangsamen und die militärischen Lücken, die er hinterlässt, so gut und schnell es geht zu füllen – erste Lücke: die Ukraine.  

Zweitens, ähnlich wie im Falle Chinas oder Russlands, braucht Europa ein Derisking in Bezug auf die USA. Das geht weit über militärische Aspekte hinaus. Es geht um Technologie und Digitalwirtschaft, wie Chips, Clouddienste, soziale Medien, Suchmaschinen und KI, um Finanzsysteme, wie das Zahlungssystem SWIFT, um Rohstoffquellen und -lieferketten, z.B. für die E-Mobilität, um Sicherheits- und Überwachungsrisiken wie den US Cloud Act – der es den US-Behörden erlaubt, Daten von US-Unternehmen einzusehen, auch wenn die Server in Europa stehen – und, last but not least, um Energie, wie Flüssigerdgas (LNG).

Strategische Unabhängigkeit Europas

Europa hat den Schuss gehört, aber braucht deshalb nicht umzufallen. Wirtschaftlich ist Europa immer noch eine Supermacht. Das BIP der europäischen Nato-Mitglieder entspricht, bei deutlich geringerer Staatsverschuldung, etwa dem der USA und ist ungefähr zehnmal höher als das Russlands. Trotz einiger noch aus der Kolonialzeit stammenden Ressentiments in Teilen Afrikas und Asiens hat Europa viele Freunde und zumindest Soft Power in vielen Teilen der Welt, die auch kein Interesse daran haben, dass sich diese nun in ein Haifischbecken verwandelt, in dem kleinere Fische als Futter für die Größeren dienen.

Es ist aber Zeit, dass sich insbesondere die EU nicht mehr mit gutgemeinten Luftballonverordnungen, Kaffeemaschinenregulierungen oder Bürokratiemonstern wie dem Lieferkettengesetz verzettelt, sondern sich nun auf Kernaufgaben wie die der strategischen Unabhängigkeit Europas fokussiert. Zu vielen der angesprochenen Herausforderungen gibt es bereits Ansätze, auf denen man aufbauen kann, darunter 

Pesco, die 2017 ins Leben gerufene Initiative zur Verbesserung der verteidigungspolitischen Zusammenarbeit innerhalb der EUder 2021 aufgelegte European Defense Fund (EDF) für Forschung und Entwicklungdie auch von Deutschland vorangetriebene Initiative des European Sky Shielddie Pläne der Europäische Zentralbank für ein digitales Euro-Zahlungssystemder Gaia-X-Cloud-Standard zum Aufbau einer souveränen DateninfrastrukturGalileo, das seit 2016 aktive EU-SatellitensystemIris2, ein bis 2027 voll einsatzbereites EU Satellitenkommunikationsnetzwerkder European Chips Act, und vieles mehr. 

Ganz sicher muss man bei der gemeinsamen paneuropäischen Beschaffung und der Interoperabilität unterschiedlicher Systeme vorankommen und letztlich wird man auch nicht darum herumkommen, die komplexe Frage einer europäischen nuklearen Abschreckung zu lösen.   

Brüsseler Bürokratie

Wünschenswert wäre eine Governance der vielen bestehenden und notwendigen neuen Initiativen, die sich von der Brüsseler Geschwindigkeit und Bürokratie entkoppeln kann und die nicht Teil der Nato ist – warum nicht ein europäisches Verteidigungsministerium, denn die Verteidigung Europas ist wirklich etwas, das nicht national gelöst werden kann. Inspirieren lassen kann man sich bei all dem vom Aufbau der Airbus Group mit ihren zivilen und militärischen Bereichen, der ebenfalls dem Ziel der strategischen Unabhängigkeit Europas diente – auch keine leichte Geburt, aber durchaus erfolgreich.  

Wenn man rückblickend die amerikanischen Investitionen in Verteidigungstechnologien als Ursprung und Treiber des Silicon Valley und der amerikanischen Technologieführerschaft versteht und gleichzeitig die von der Deindustrialisierung bedrohte deutsche Wirtschaft berücksichtigt, kann der Aufbau der strategischen Unabhängigkeit Europas, militärisch und zivil, durchaus als eine Chance für Deutschland und Europa verstanden werden. Unterdessen sollte man die Selbstheilungskräfte der amerikanischen Demokratie, die auch in der Vergangenheit immer wieder gefordert waren, nicht unterschätzen. Ein transatlantisches Bündnis bleibt weiterhin möglich und wünschenswert, ist auf Augenhöhe aber vielleicht auch nachhaltiger.  

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