Anfang der 1950er-Jahren war eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft ein zentrales Ziel westlicher Sicherheitspolitik. Hintergrund war der Angriff des kommunistischen Nordkoreas auf Südkorea. Warum scheiterte die Idee trotz prominenter Unterstützer?
Ausgerechnet Winston Churchill. Der damalige Oppositionsführer im britischen Unterhaus war der Erste, der am 11. August 1950 eine übernationale Streitmacht gegen die Bedrohung aus dem Osten anregte. In einer Rede bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg schlug er „die sofortige Schaffung einer europäischen Armee unter einem einheitlichen Kommando“ vor.
Hintergrund der Idee war der Angriff des kommunistischen Nordkoreas auf Südkorea. Dieser von der UdSSR gestützte Überfall am 25. Juni 1950 hatte im Westen Sorgen ausgelöst, etwas Ähnliches könnte Stalin in Mitteleuropa auch planen. In den USA, die nicht dauerhaft für den Schutz Europas verantwortlich sein wollten, machte der Koreakrieg in diplomatischen und militärischen Kreisen bereits kursierende Überlegungen politisch relevant, die gerade erst gegründete Bundesrepublik Deutschland solle einen Beitrag zur Verteidigung gegen den Ostblock leisten – im Rahmen der Nato.
Darauf reagierte der britische Premier der Jahre 1940 bis 1945. Denn er wusste um die Widerstände in Westeuropa gegen eine Wiederbewaffnung Deutschlands. Die Parlamentarische Versammlung in Straßburg stimmte Churchills Idee zwar zu. Doch in Frankreich, gerade einmal sechs Jahre zuvor befreit von der Besatzung durch die deutsche Wehrmacht, löste der Vorschlag fast die gleichen Abwehrreflexe aus wie der US-Vorschlag einer Nato-Mitgliedschaft.
Trotzdem wollte sich die Regierung in Paris in der Krise konstruktiv zeigen. So ergriff Ministerpräsident René Pleven neun Wochen später die Initiative. Am 24. Oktober 1950 schlug er eine europäische Armee vor, an der auch Deutsche teilnehmen. Die freien Völker des Kontinents sollten „gemeinsam einen Plan für die Bildung einer europäischen Armee ausarbeiten“.
Doch das war gar nicht das eigentliche Ziel – vielmehr ging es dem Vorsitzenden der (trotz ihres Namens) bürgerlich-konservativen Partei Union démocratique et socialiste de la Résistance darum, die Aufstellung einer eigenständigen westdeutschen Armee auch im Rahmen der Nato zu verhindern. Rein deutsche Divisionen oder die Gründung eines bundesrepublikanischen Verteidigungsministeriums könnten früher oder später zurück zum deutschen Militarismus führen, erklärte Pleven: „Eine solche Entwicklung würde auch für Deutschland selbst eine Gefahr bedeuten.“
Daher sollte die Bundesrepublik nur kleinere Verbände, maximal in Regimentsstärke, beisteuern, die in eine französische Kommandostruktur eingebunden würden. Das war für Bundeskanzler Konrad Adenauer nicht akzeptabel, der einen Beitrag zur Verteidigung Westeuropas von voller Gleichberechtigung abhängig machte. Auf Druck aus den USA nicht zuletzt wegen der dramatischen Kriegswende in Korea (seit dem 25. Oktober drängten nordkoreanische und vor allem chinesische Truppen die westlichen Streitkräfte zurück nach Süden) lenkte Paris Stück für Stück ein.
Lehren aus dem Krieg an der Ostfront?
Schon wenige Tage nach Plevens Rede ließ ein hoher Beamter des Quai d’Orsay durchsickern: „Da jetzt Einigung darüber besteht, dass deutsche bewaffnete Streitkräfte für eine europäische Armee benötigt werden, vertritt Frankreich die Auffassung, dass diese Streitkräfte völlig gleichberechtigt sein sollen. Wir können uns durchaus eine europäische Division vorstellen, die sich aus französischen, deutschen und anderen Soldaten zusammensetzt und von einem deutschen General geführt wird.“ Der erste europäische Verteidigungsminister werde zwar sicher kein Deutscher sein, aber warum nicht der zweite?
In den folgenden Monaten verhandelte Bonn zweigleisig: einerseits in Brüssel mit der Nato über die Aufnahme als souveränes Mitglied und die Aufstellung eigener Truppen, andererseits in Paris über die Bildung einer europäischen Armee.
Weil die USA erkannten, dass ein westdeutscher Wehrbeitrag nicht gegen Frankreich umgesetzt werden könnte, führten die bundesdeutschen Unterhändler um Staatssekretär Walter Hallstein beides zusammen (ein geschickter Schachzug), hielten aber an den eigenen Vorstellungen fest: Ihre militärischen Fachleute, darunter die ehemaligen Generalstabsoffiziere der Wehrmacht Adolf Heusinger, Hans Speidel und Johann Graf Kielmansegg, legten unter Berufung auf die Lehren aus dem Krieg an der Ostfront ein Konzept für moderne, gegen die sowjetische Strategie und Taktik besonders geeignete Streitkräfte vor.
Uneinig zeigten sich Deutsche und Franzosen vor allem in zwei Punkten: einerseits der Größe national homogener Verbände (ob nur bis zur Regimentsebene oder doch auf Divisionsebene oder gar darüber) und andererseits der Befehlsstruktur. Die französischen Verhandler wollten unbedingt die Aufstellung selbstständig einsetzbarer westdeutscher Einheiten verhindern; ihre deutschen Gesprächspartner hielten das aus fachlichen wie politischen Gründen für unbedingt notwendig.
Doch im Sommer 1951 zeigte sich, dass die anderen potenziell beteiligten Partner an einer Europaarmee Frankreich unterstützten. Es handelte sich um die Benelux-Staaten und Italien – also Länder, die im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht besetzt gewesen waren (Großbritannien hatte sich zurückgezogen). In den kommenden Monaten wurde ein Vertragsentwurf über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) ausgearbeitet, der viele politische Einwände berücksichtigte. Die Bundesrepublik, die nach dem Willen der Franzosen nur über die EVG in die Nato eingebunden sein sollte, würde Sicherheitsgarantien erhalten.
Im März 1952 versuchte die Sowjetunion, die EVG durch das Angebot eines wiedervereinigten, aber neutralen Deutschland zu hintertreiben. Ironischerweise verhalfen gerade diese nie ernst gemeinten Stalin-Noten der EVG zum Durchbruch, weil in Frankreich die Sorgen vor einer eigenständigen Armee eines solchen deutschen Staates mit insgesamt rund 70 Millionen Menschen überhandnahmen. So unterzeichneten die Außenminister der Benelux-Staaten, Frankreichs, Italiens sowie Adenauer, zu dieser Zeit in Personalunion Kanzler und Chefdiplomat, am 27. Mai 1952 den EVG-Vertrag.
Das Werk mit 132 Artikeln, das einschließlich Anlagen und Zusatzprotokollen in deutscher Fassung fast 31.000 Wörter umfasste, erwies sich als Totgeburt: In Frankreich schossen sich gleichermaßen die bürgerlich-nationalen, antisowjetischen Gaullisten wie die moskauhörigen Kommunisten auf die EVG ein; bei den verschiedenen Spielarten von Sozialdemokraten zeichnete sich eine Spaltung ab. Auch in den Pariser Ministerien nahm die Ablehnung zu.
Der seit Januar 1953 amtierende US-Präsident Dwight D. Eisenhower sah den zur Entlastung der eigenen Armee gewünschten westdeutschen Verteidigungsbeitrag in immer weitere Ferne rücken. Der Tod Josef Stalins am 5. März 1953 weckte zudem (leider unbegründete) Hoffnung auf eine substanzielle Entspannung zwischen Ost und West. Nach mehr als zwei Jahren Debatten setzte die französische Nationalversammlung am 30. August 1954 die eingeplante Ratifizierung des EVG-Vertrages kurzerhand von der Tagesordnung ab.
Für Europa Ein „Schwarzer Tag“?
Rückblickend beklagte Konrad Adenauer in seinen „Erinnerungen“ den „schwarzen Tag für Europa“; in Wirklichkeit war er gar nicht unzufrieden: Die Bundesrepublik wurde dank der Unterstützung durch den britischen Außenminister Anthony Eden 1955 als Vollmitglied in die Nato aufgenommen und durfte ohne französische Mitwirkung eigene Streitkräfte aufstellen. Die USA fügten sich zugleich in die Notwendigkeit, das freie Europa langfristig durch eigene Präsenz vor dem sowjetischen Imperialismus zu schützen.
„Das Aus für die EVG war der Beginn des deutschen Nato-Beitritts – dank Edens Krisenmanagement, denn er wusste: Ohne die Deutschen wäre die euroatlantische Allianz ein Torso geblieben“, urteilt der Hildesheimer Historiker Michael Gehler. Heute vermittele der Brite Keir Starmer, um mit Ursula von der Leyen die US-Präsenz am Kontinent zu retten. Aktuell fragt sich der Experte für die Geschichte der europäischen Zusammenarbeit: „Legen die Franzosen wieder ein Veto ein?“
Sven Felix Kellerhoff ist Leitender Redakteur bei WELT Geschichte. Zu seinen Themenschwerpunkten gehören Zweiter Weltkrieg, Nationalsozialismus, DDR, linker und rechter Terrorismus sowie Verschwörungstheorien.