DruckenTeilen
In kurdischen Gefängnislagern in Syrien leben zehntausende IS-Kämpfer und deren Frauen und Kinder. Jetzt könnte die Bewachung bröckeln.
Mitten in der Wüste flattern Tausende Zelte im Wind. Wie eine Fata Morgana. Aufnahmen aus dem Zeltlager Al-Hol im Norden Syriens zeigen ein kaum überschaubares Sammelsurium aus provisorischen Behausungen. Hier, nahe der Grenze zum Irak, leben gut 40.000 Menschen. Die meisten sind Frauen und Kinder von Kämpfern der Terrororganisation Islamischer Staat (IS). Nebenan, in solideren Gefängnisbauten, sind etwa 10.000 Männer und minderjährige Jungen inhaftiert, die für den IS gekämpft haben sollen.
Bewacht werden sie seit Jahren von einem Zusammenschluss kurdischer Milizen, den Syrian Democratic Forces (SDF), zu denen auch die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG gehören. Noch. Denn die Kurden in dem Gebiet geraten unter Druck: einerseits durch die Verhandlungen zwischen der Türkei und der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Andererseits durch den Rückzug der Amerikaner – und mögliche Ansprüche der syrischen Interimsregierung: Denn in dem von den Kurden kontrollierten Gebiet gibt es reiche Öl- und Gasvorkommen, die Begehrlichkeiten wecken könnten.
IS-Kämpfer und zehntausende Frauen und Kinder in Syrien-Lager: Fluchtgefahr droht
Wenn die Bewachung und Versorgung des Lagers, das halb Gefängnis und halb Flüchtlingscamp ist, bröckelt, hätte das fatale Folgen, da sind sich Expertinnen und Experten einig. Erstens sind die humanitären Zustände schon jetzt katastrophal und würden sich weiter verschlechtern. Zweitens besteht Fluchtgefahr – und viele der Insassen gelten immer noch als radikalisiert. Sie stammen aus mehr als 70 Nationen – auch aus Deutschland. Die Befürchtung: Der IS könnte Tausende von ihnen erneut rekrutieren und ein neues Kalifat aufbauen. Damit würde weltweit die Wahrscheinlichkeit von Terroranschlägen weiter wachsen.
Neuer Newsletter „Unterm Strich“
Was? Exklusive Einblicke in den Politik-Betrieb, Interviews und Analysen – von unseren Experten der Agenda-Redaktion von IPPEN.MEDIA
Wann? Jeden Freitag
Für wen? Alle, die sich für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft interessieren
Wo? Direkt in ihrem E-Mail-Postfach
Wie? Nach einer kurzen Registrierung bei unserem Medien-Login USER.ID hier kostenlos für den Newsletter anmelden
Hans-Jakob Schindler, Terrorexperte und Direktor des Counter Extremism Project (CEP), nennt das „eine explosive Situation“: „Gerade zeichnet sich so etwas wie ein Frieden zwischen der Türkei und der PKK ab, es gibt erste Verhandlungen“, sagt Schindler. Über Jahrzehnte hatte es blutige Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und der in vielen Staaten als Terrororganisation eingestuften PKK gegeben. Jetzt hat Anführer Abdullah Öcalan die PKK und alle mit ihr verbundenen Gruppen aufgefordert, die Waffen niederzulegen. Es gab erste Gespräche zwischen ihm und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. „Die türkische Regierung will dabei vor allem eine kurdische Autonomiezone in Syrien verhindern“, erklärt Schindler.
Die SDF und die YPG-Milizen wiederum sind eng mit der PKK verbandelt. Die Türkei hatte in den vergangenen Jahren mehrfach mit Offensiven gegen die Milizen gedroht. Auf sie wachse nun der Druck, sagt Schindler. Was, wenn auch von ihnen verlangt wird, dass sie die Waffen niederlegen?
Friedensschluss von Türkei und PKK mit Folgen: „Es wird mehr besprochen, als wir mitbekommen“
Macit Karaahmetoğlu ist SPD-Bundestagsabgeordneter und Nahostkenner. Er sagte im Gespräch mit dieser Redaktion: „Die Türkei nimmt die SDF als verlängerten Arm der PKK wahr.“ Man habe dort wenig Verständnis dafür, dass die USA und Europa die Milizen als Gesprächspartner sehen. Aber: „Man wird eine pragmatische Position einnehmen. Es ist sicher ratsam, wenn Deutschland zwischen der Türkei und SDF vermittelt und Verbindungen für direkte Verhandlungen herstellt.“
Karaahmetoğlu glaubt, dass schon jetzt erste Gespräche zwischen SDF und türkischen Vertretern stattfinden. „Es wird bereits mehr besprochen, als wir das in der Öffentlichkeit mitbekommen. Ich glaube sogar, dass der Abzug der US-Kräfte aus Nordsyrien Teil längerfristiger Verhandlungen ist.“ 2019 hatten sich die US-Streitkräfte aus Nordsyrien zurückgezogen.

Das Lager al-Hol in Syrien: Zehntausende Frauen und Kinder sowie IS-Kämpfer leben hier. © Bernat Armangue/dpa
Jetzt zeichnet sich ab, dass die USA noch weiter in den Hintergrund treten. Ende Januar hatte US-Präsident Donald Trump die amerikanische Entwicklungshilfe zu großen Teilen eingefroren und Mittel des US-Außenministeriums streichen lassen – darunter auch Gelder für die Versorgung und Bewachung von Al-Hol. Deutsche Sicherheitsbehörden sehen das mit Sorge, weil sich erstens so die ohnehin schlechte humanitäre Lage weiter verschlimmert und zweitens das Risiko steigt, dass radikalisierte Männer und Frauen fliehen und unbemerkt in ihre Herkunftsländer zurückreisen könnten.
Grünen-Abgeordneter schlägt deutsche Unterstützung in Syrien gegen islamistische Kräfte vor
Max Lucks ist Bundestagsabgeordneter der Grünen, Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe und beobachtet die Lage im Norden Syriens. Er sagt: „Al-Hol ist ein extrem gefährliches Pulverfass, vor allem angesichts des Rückzugs der Amerikaner.“ Er fordert mehr deutsche Beteiligung in der Region. „Im Nordirak hat die Bundeswehr Peschmerga-Soldaten im Kampf gegen den Islamischen Staat ausgebildet. Deutschland sollte darüber nachdenken, diese Arbeit auch auf Syrien auszuweiten und dort ebenfalls bei der Verteidigung gegen islamistische Kräfte zu unterstützen. Dabei soll die strategische Unterstützung der SDF im Mittelpunkt stehen.“ So könne man ein Wiederaufleben des Islamischen Staats im Keim ersticken.
Tatsächlich sei die Gefahr groß, dass der IS erneut ein Kalifat in Syrien aufbauen will, sagt Terrorexperte Schindler. „2024 war ein Rekordjahr von IS-Anschlägen in der Region. Global fühlen sich radikalen Islamisten seit 2021 im Aufwind.“ Noch habe die Terrororganisation nicht genug Personal, um Gebiete zu halten. „Aber wenn die Bewachung der Gefängnislager schwächer wird, könnte es Angriffe und Befreiungsaktionen wie 2022 auf das Gefängnis in Hasaka geben. Nur, dass diesmal gar Tausende IS-Kämpfer freikommen könnten.“
IS will neues Kalifat errichten – Gefahr von Terroranschlägen steigt
Mit weltweiten Folgen. „Wenn der IS erneut ein festes Gebiet etablieren kann, haben wir wieder die Situation wie 2012. Und dann steigt auch die Gefahr weltweiter Anschläge, auch in Deutschland“, so Schindler. Er sieht vor allem die Herkunftsländer der Al-Hol-Bewohner in der Pflicht. „Europa hat bei der Rückholung von IS-Kämpfern zu lange gezögert. Einige Länder, wie Deutschland, haben nur Frauen und Kinder zurückgeholt.“ Jetzt werde die Situation immer komplexer. „Bei männlichen Kämpfern, die in Deutschland angeklagt werden, wird im Falle einer Verurteilung die Zeit in den Lagern in Syrien angerechnet, wenn der Angeklagte kooperativ ist.“ Das heißt: Selbst bei schwersten Verbrechen könnte es passieren, dass radikale IS-Anhänger nicht mehr in Haft müssen, weil sie unter Umständen schon seit Jahren und länger in Syrien inhaftiert waren.