Mit der Eroberung von Gebieten in Kursk gelang der Ukraine im August vergangenen Jahres die vielleicht größte Überraschung des Krieges. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg besetzte eine fremde Armee russisches Staatsgebiet – eine Armee wohlgemerkt, die sich im eigenen Land gegen eine Invasion verteidigt. Doch gut ein halbes Jahr später ist von den ukrainischen Eroberungen nicht mehr viel übrig.
Ursprünglich konnten die Ukrainer ungefähr 1200 Quadratkilometer in der russischen Grenzregion Kursk erobern, was dreimal der Fläche Kölns entspricht. Inzwischen ist das besetzte Territorium auf knapp 78 Quadratkilometer zusammengeschrumpft, berichtete die „New York Times“ am 16. März. Das ist die Größe einer kleinen deutschen Gemeinde.
Das Timing ist denkbar schlecht, wollte die Ukraine ihre Kursk-Eroberungen doch für spätere Friedensverhandlungen mit Russland sichern. Während der russische Machthaber Wladimir Putin hierbei offensichtlich auf Zeit spielt und US-Präsident Donald Trump bisher kaum etwas getan hat, ihn effektiv unter Druck zu setzen, verliert die Ukraine ihr Faustpfand Stück für Stück. Was lief falsch? Militärexperte Gustav C. Gressel sieht einen entscheidenden Wendepunkt – und dann hat Trump alles noch schlimmer gemacht.

Gustav C. Gressel ist Experte für Osteuropa, Sicherheitspolitik und Militärstrategien. Er war bis 2024 Forscher am European Council on Foreign Relations.
Zunächst zu Russland. Bereits im Dezember 2024 gelang es Putins Armee demnach, die ukrainischen Nachschubwege in Kursk zumindest ein Stück weit zu unterbrechen. Drohnen und Gleitbomben waren die Mittel der Wahl. „Seither wurde es schwieriger und schwieriger, die Truppen in Kursk zu versorgen, Verwundete zu evakuieren und defektes Gerät abzutransportieren“, sagt Gressel. Für die Ukrainer war es dann „eine Frage der Zeit, bis die Kosten den Nutzen überwogen.“
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Auch weltpolitisch verschlechterte sich gegen Ende des vergangenen Jahres die Lage für die Ukraine. War es bis zur Wiederwahl des Rechtspopulisten Trump darum gegangen, die westlichen Unterstützer zu mehr Hilfen zu bewegen, zeichnete sich nun ein kompletter Stopp der wichtigen US-Lieferungen ab. Zumindest zwischenzeitlich machte Trump Ernst. Er stellte nach dem Eklat im Weißen Haus zwischen ihm und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj die US-Hilfen für Kiew ein – auch geheimdienstliche Aufklärungsdaten flossen nicht mehr.
Ausgerechnet in dieser Zeit führte die russische Armee laut Gressel drei Angriffe im Grenzgebiet durch: einen auf die ukrainischen Truppen in Kursk, zwei gegen Orte im angrenzenden ukrainischen Gebiet Sumy.
Trump machte die ukrainischen Soldaten blind
Doch Trump hatte der ukrainischen Armee ein Stück weit die Sicht genommen. Sie konzentrierte sich in dieser unklaren Situation ohne US-Aufklärung also wahrscheinlich lieber auf die Verteidigung des eigenen Kernlandes, meint Gressel.
Aber auch dort, an der Front im Osten der Ukraine, gelingt den russischen Invasoren seit Monaten ein langsamer, stetiger Vormarsch. Der Schluss liegt nahe, dass die ukrainische Armeeführung ihn durch die Kursk-Offensive begünstigt hat, weil knappe Ressourcen zulasten der eigenen Verteidigung nach Russland verlegt wurden. Diese verbreitete Annahme ist zwar nicht falsch, erklärt Gressel.
Allerdings sei das Problem für die Ukraine an der Ostfront eher qualitativer denn quantitativer Natur. Denn die besten ukrainischen Brigaden seien nach Kursk geschickt worden, obgleich es sich im Vergleich zum Osten um relativ wenige Soldaten handelte.
Die Brigade Eine Brigade besteht aus 1500 bis 5000 Soldaten.Sie ist der kleinste Großverband des Heeres.Brigaden gehören zu Divisionen.
Was passiert nun mit den verbliebenen ukrainischen Soldaten in Kursk? Zumindest die große Einkesselung, von der Putin und Trump öffentlich gewarnt hatten, gab es laut Gressel „höchstwahrscheinlich nicht“. Sie sei eine Erfindung Putins. Der US-Präsident wiederum „plappert das nach, was er von seinem Meister hört.“ Die Agentur Reuters hat inzwischen ebenfalls berichtet, dass es keine Einkesselung gibt. Es besteht also die Hoffnung, dass ukrainische Soldaten lebend aus Kursk zurück in die Heimat gelangen.
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Hoffnung auf Frieden, wie sie viele Beobachter im Westen und auch die Menschen in der Ukraine haben, sieht Gressel derzeit leider nicht. „Echte Friedensverhandlungen sind noch weit weg“, sagt er. „Das, was wir zwischen Washington und Moskau erleben, ist eine Farce. Putin nutzt Trumps Ungeduld und Naivität, um Zeit zu gewinnen und die militärische Ausgangslage für Russland zu verbessern.“