In Deutschland nimmt die Gewalt gegen Lehrer zu: Die Fälle physischer Angriffe stiegen seit 2018 um ein Drittel, die von Cybermobbing haben sich nahezu verdoppelt. Neben den sozialen Medien und Corona macht der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes dafür vor allem eine Sache verantwortlich.

Im Januar erschien im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) eine Umfrage unter Schulleitern zu Gewalt von Schülern und Eltern gegen Lehrkräfte. Ergebnis: An 65 Prozent der Schulen gab es innerhalb der vergangenen fünf Jahre Fälle psychischer Gewalt, an 35 Prozent der Schulen Fälle physischer Gewalt gegen Lehrer. Womit dieser Anstieg zusammenhängt, erklärt Stefan Düll, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.

WELT: Herr Düll, können Sie die kürzlich veröffentlichten Ergebnisse der Umfrage bestätigen, dass Gewalt gegen Lehrkräfte zunimmt?

Stefan Düll: Ja, sowohl verbale und psychische Gewalt als auch physische Gewalt haben zugenommen. Allerdings haben sich auch das Bewusstsein für das Thema und die Definition von Gewalt verändert.

WELT: Was wäre ein Beispiel für diese Veränderung?

Düll: Mobbing beispielsweise. Früher sagte man, dass Mobbing nur von einem hierarchisch Höhergestellten ausgehen kann. Heute sehen wir dagegen, dass auch Lehrer Opfer von Mobbing durch die Schüler sein können.

WELT: Wie erklären Sie den plötzlichen Anstieg der Gewalt zu Beginn von Corona?

Düll: Die Corona-Zeit hat das Sozialverhalten beeinträchtigt. Ganz selbstverständliche Dinge, wie sich in einer Schlange hinten anzustellen, haben sich gerade bei den Jüngeren nicht wirklich entwickelt. Ich würde mich aber davor hüten, Corona als die Ursachen allen Übels zu sehen. Seit Corona achtet man etwa mehr auf sich und andere Kollegen tauschen sich heute regelmäßiger untereinander über ihre Erfahrungen aus.

WELT: Also alles bloß gesteigerte Wahrnehmung?

Düll: Auch, aber nicht nur. Gerade über die sozialen Medien hat die Gewalt gegen Lehrkräfte zugenommen, weil es heute die Möglichkeit dazu gibt. Beleidigungen oder negative Behauptungen wie „Die hat sich nicht im Griff“, oder Schlimmeres können einfach so verbreitet werden. Das belastet.

WELT: Auch Polizisten, Politiker und sogar Ärzte sind zunehmend Angriffen ausgesetzt. Welchen Einfluss hat das auf die Schüler und ihr Verhältnis zu den Lehrern?

Düll: In den vergangenen Jahren sehen wir wieder eine zunehmende Verrohung unserer Gesellschaft. Siehe in den Parlamenten, von gewissen Seiten aus, oder in den Medien. Was früher am Stammtisch gesagt wurde und dortblieb, geht heute für alle lesbar online. Das färbt auf die Kinder und Jugendlichen ab.

WELT: Online-Inhalte tragen also dazu bei, dass die Gewalt gegen Lehrer an Schulen zunimmt?

Düll: Dass junge Menschen sich an Erwachsenen reiben wollen und müssen, war schon immer so. Aber die sozialen Maßstäbe verschieben sich durch das, was die Kinder heute online vorgelebt bekommen. Dazu trägt meiner Meinung nach unter anderem auch die Rap-Kultur bei. Deren Verbreitung und Selbst-Inszenierung hat auf TikTok, Instagram oder YouTube noch einmal neue Ausmaße erreicht, die in Teilen gewaltverherrlichend und vollkommen respektlos ist. Das kann auf Einzelne wirken.

WELT: Können Sie das an einem Beispiel erklären?

Düll: Vor einigen Jahren brüstete sich ein Junge an unserer Schule, er wolle das Lehrerkollegium „dezimieren“. Dazu zeigte er ein Foto von sich mit einer Waffe. Die Polizei musste entsprechend handeln. Letztlich war die Waffe eine Attrappe und der Schüler hatte das Wort „dezimieren“ nicht wirklich verstanden. Harte Worte werden als harmlos betrachtet – auch daran merken wir eine Verrohung der Sprache. Und bei den Kollegen bleibt ein Bedrohungsgefühl.

WELT: Gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Schularten?

Düll: Gewalt gibt es an allen Schularten, aber im Vergleich zu Gymnasien ist sie etwa an Gesamtschulen noch mal eine Stufe höher.

WELT: Weshalb ist das so?

Düll: Das liegt auch an der Schülerzusammensetzung. Dass Jugendliche – meist Jungs – mit Messern unterwegs sind, gibt es schon lange, aber jetzt werden diese auch gezeigt und bei Auseinandersetzungen außerhalb der Schule benutzt. Gerade die Autorität von Frauen wird von gewissen Schülern nicht anerkannt. Es fallen Bemerkungen, die nicht tolerabel sind wie„Du Nutte hast mir nichts zu sagen“. Solche Ausfälle haben gegenüber weiblichen Lehrkräften eindeutig zugenommen.

WELT: Steht das in einem kulturellen Zusammenhang?

Düll: Ja. Noch sind es wenige, die so negativ auffallen, aber viele Schüler haben solches Verhalten entweder nach Deutschland mitgebracht oder es ist, was sie zu Hause erleben. Gerade im orientalischen Raum ist körperliche Züchtigung seitens der Familienoberhäupter durchaus üblich. Und dann ist da die Fluchterfahrung. Gewalt ist in Kriegsgebieten normal. Die Kinder lernen, dass der Stärkere sich durchsetzt.

WELT: Geht diese zunehmende Gewalt also hauptsächlich von Flüchtlingen aus?

Düll: Nein, nicht ausschließlich und es ist auch nur ein kleiner Anteil der geflüchteten Jugendlichen, die gewalttätig werden. Man sollte aber nicht vergessen, dass in anderen Ländern Gewalt an Schulen, auch von Lehrerseite, durchaus noch toleriert wird. Wir wünschen uns, überall auf der Welt hätten alle den gleichen kulturellen Entwicklungsstand, was die Achtung des Gegenübers angeht. Wenn man sich aber überlegt, welche Respektlosigkeit sich Frauen bei uns noch in den 1960er-Jahren an Diskriminierung und sexualisierter Gewalt gefallen lassen mussten – das haben wir heute längst vergessen. Und obgleich es gesetzlich schon verboten war, bekam ich als Schüler noch jedes Jahr eine Ohrfeige. Andere Mitschüler wurden jeden Tag geprügelt. Der verantwortliche Lehrer war wohl vom Krieg traumatisiert. Das zeigt, unsere Gesellschaft hat Jahrzehnte gebraucht, um so gewaltfrei zu sein.

WELT: Welche Rolle spielen die Eltern dieser auffälligen Kinder und Jugendlichen?

Düll: Die Schüler erleben zu Hause Syrien und in der Schule Deutschland. Das verwirrt. Wobei es bei den Familien die ganze Bandbreite von Einstellungen gibt, von „wie die Deutschen leben, ist falsch“, bis zu „Wir haben hier als Gast Schutz gefunden, dafür sind wir dankbar und wollen uns anpassen“.

WELT: In der anfangs genannten VBE-Studie heißt es, sogar die Eltern würden gegenüber Lehrkräften gewalttätig werden.

Düll: Bei den Eltern merkt man häufig eine Anspruchshaltung. Bei einigen fehlt auch der Respekt für Lehrerinnen. Dann wird teilweise erwartet, dass die Schule die gesamte Bildungsarbeit übernimmt und sie als Eltern nichts tun müssen. Es wird auch schnell mal mit einer offiziellen Beschwerde oder dem Anwalt gedroht.

WELT: Wie hoch ist die psychische Belastung für Lehrkräfte durch die zunehmende Gewalt gegen sie?

Düll: Ich kenne eine Schule, an der es einen Amok-Lauf gab. Da hat es zehn und mehr Jahre gedauert, bis diese Erfahrung nicht mehr mitschwang, bis Lehrer nicht mehr beim kleinsten Anzeichen dachten „Oh Gott, bei diesem Schüler müssen wir genau hinschauen“. Insgesamt muss man hier einmal sagen: Ja, es gibt schlimme Dinge, aber es ist nicht überall so wie in einigen Brennpunktschulen in Neukölln oder im Ruhrgebiet.

WELT: Trägt die mediale Aufmerksamkeit für solche Themen zum Bedrohungsgefühl bei?

Düll: Natürlich! Trotzdem muss man Probleme auch präventiv ansprechen, um gegenzusteuern.

WELT: Welche Unterstützung bräuchten Schulen, um mit der zunehmenden Gewalt besser klarzukommen?

Düll: Die Schulen leisten verdammt viel für den sozialen Kitt unserer Gesellschaft. Wir brauchen aber mehr Schulpsychologen und Sozialarbeiter, um der steigenden Anzahl von herausfordernden Schülern gerecht zu werden. Integrationsschüler, Lese-Rechtschreib-Schwächen, ADHS, Inklusionsschüler – unsere Lehrer haben meist kaum noch Zeit für dringend nötige Beziehungsarbeit mit den vielen Einzelnen, die mehr brauchen als der große Rest. Und auch der hat ein Recht, gesehen zu werden.

Und dann brauchen wir Sprachprogramme. Viele Kinder, die als Seiteneinsteiger zu uns kommen, haben vielleicht nie eine Schule besucht oder ihr Unterricht fand wegen des Krieges gar nicht oder unter freiem Himmel statt. Nun sollen sie still in einer Schulklasse sitzen und einem Unterricht folgen, den sie sprachlich kaum verstehen. Da brauchen wir Dolmetscher und Sprach- sowie Kulturförderung. Auch damit die Schüler verstehen, was ist gewaltfreie Konfliktlösung, was Gleichberechtigung, warum ist das wichtig?

WELT: Was halten Sie für das derzeit größte Problem an Schulen?

Düll: Gewalt ist ein ernstes Problem. Aber wir haben auch genügend andere Probleme: Verhaltensauffälligkeiten, Identitätskonflikte, Depressionen, Essstörungen, Absentismus, bei dem die Kinder es nicht mehr aushalten, in der Schule zu sein. Das beschäftigt uns viel, und zunehmend – von Lehrermangel, Schulsanierungsstau und schleppender Digitalisierung gar nicht zu reden.

Zur Person:
Stefan Düll, Jahrgang 1964, ist Schulleiter im schwäbischen Neusäß und seit 2023 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.