Interaktive Geschichte

Ahnensuche vom Aargau bis nach Wien – eine Recherche ohne gewünschten Erfolg, aber mit offener Fortsetzung

Schweizerkinder sind keine Schweizer Kinder. Mit der Schweiz haben sie aber sehr viel zu tun. Und einige davon finden sich in meiner Verwandtschaft, wie ich feststellen durfte. Es ist der Start in eine Recherche.

Alles beginnt mit der kleinen Serie zu Aargauer Grenzgebieten, die Anfang 2025 erschienen ist. Im zweiten Teil geht es unter anderem auch um Augst und Kaiseraugst, die miteinander verwachsen sind. Das weckt offenbar Erinnerungen bei meiner Schwiegermutter, die selber aus Wien stammt, aber seit Jahrzehnten im Aargau lebt. «Persönliches Detail zu Kaiseraugst: 1919 wurden Kinder aus Wien zum Aufpäppeln in verschiedene Länder geschickt», schreibt sie mir per Textnachricht.

«Hella, die jüngste Schwester meiner Mutter, kam nach Kaiseraugst zu einem Bauern.» Siebeneinhalb Jahre alt ist das Mädchen damals. «Der Bauer hatte eine Schar Kinder und dachte sich wohl, auf eines mehr oder weniger am Tisch kommt es nicht mehr an.»

Eine Gruppe von Wiener Kindern erreicht im Frühjahr 1919 mit nachdenklichen Mienen die Schweiz.
Eine Gruppe von Wiener Kindern erreicht im Frühjahr 1919 mit nachdenklichen Mienen die Schweiz.

Bild: Archiv Hansruedi Rohrer

Da ich nebst der Geografie auch sehr an Geschichte interessiert bin, ist meine Neugier geweckt. Ich will mehr wissen über Hella, den Hintergrund ihrer Reise und wo sich der Hof damals befunden hat. Eine mögliche kleine «Pilgerreise» mit meinen Schwiegereltern an den Ort wird ein Thema. Aber dazu müsste man wissen, wohin die Reise gehen soll. Existiert der Hof noch? Ich beginne nachzuforschen.

Die spärlichen Infos machen die Ahnensuche jedoch anspruchsvoll. Und ich brauche zunächst Hintergrundwissen. Ich finde heraus, dass die damalige Aktion auch «Kinderverschickung» genannt wird. Am Ursprung stehen die beiden Weltkriege und deren Folgen auf die städtische Bevölkerung.

Die Kinder sind damals von Mangelernährung geplagt, leiden unter Krankheiten und werden in ihrer Entwicklung beeinträchtigt. «Nach dem Ersten Weltkrieg ergaben Messungen unter Wiener Lehrlingen ein Untergewicht im Vergleich zur Vorkriegszeit von rund 10 Kilogramm und eine Körpergrösse, die 10 Zentimeter unter der der Vorkriegszeit lag», schreibt die Stadt Wien in ihrem «Geschichte-Wiki».

Mit 19 Zügen via Buchs SG in die Schweiz

Um dem Abhilfe zu schaffen, werden Landaufenthalte für die unterernährten Stadtkinder organisiert. Schon 1917 kommen erstmals Kinder aus Wien zum «Aufpäppeln» in die Schweiz. Presseberichte über den Hungerwinter 1918/19 schrecken dann die Bevölkerung in weiteren Ländern auf. Nebst Hilfsaktionen vor Ort stellen humanitäre Organisationen 1919 die erwähnten Kinderverschickungen auf die Beine. Mit 19 Zügen kommen über den Bahnhof Buchs SG während der ganzen Aktion insgesamt 71 österreichische Lehrerinnen und 13’319 Kinder in die Schweiz.

Eine Schar Kinder aus Österreich versammelt sich im Bahnhof Buchs SG zum Erinnerungsbild.
Eine Schar Kinder aus Österreich versammelt sich im Bahnhof Buchs SG zum Erinnerungsbild.

Bild: Archiv Hansruedi Rohrer

Hella ist eines dieser Kinder, das im Jahr 1919 einen mehrwöchigen Erholungsaufenthalt verbringen darf. Ihre neunjährige Schwester Pauline bleibt gar ein halbes Jahr. Sie reist aber nicht in die Schweiz, sondern nach Kopenhagen, wie meine Schwiegermutter berichtet. Das älteste Mädchen, später die Grossmutter meiner Frau, hätte nach Holland kommen sollen. Das klappt aber nicht, weil sie mit 13 Jahren schon zu alt dafür ist.

In der Zwischenzeit erfahre ich zudem, dass noch ein weiteres Mädchen aus der Familie damals im Aargau weilt. Es ist die Tante meines Schwiegervaters, Leopoldine. Sie ist 1919 in Hunzenschwil bei einer Familie Finsterwald. Ihrem «Gspänli» Hans bleibt sie lebenslang verbunden und schreibt jedes Jahr Weihnachtsgrüsse. Da jedoch mittlerweile auch Leopoldines Tochter gestorben ist, hat sich die Spur heute verloren. Der Kontakt zu diesem Strang der Familie ist abgebrochen.

Auf den Spuren von Hella und Leopoldine

Ich versuche also, die wenigen Spuren, die Hella und Leopoldine im Aargau hinterlassen haben, wiederzufinden. Doch bei den beiden Gemeinden kann mir niemand weiterhelfen. Und im Dorfhistoriker von Kaiseraugst sowie in der Bibliothekarin von Hunzenschwil finde ich zwar sehr nette Helfer (vielen Dank!), ihre Recherchen und Nachfragen liefern aber nichts Handfestes. Immerhin eine Studienarbeit mit vielen Informationen zu den Schweizerkindern wird mir zugespielt.

Ein Film über die Kinderhilfe nach dem Zweiten Weltkrieg. Damalige Kinder erzählen ihre Geschichte.

Quelle: SRK Zürich

Ich frage beim Staatsarchiv und bei Hilfsorganisationen nach. Aber auch hier gibt es keine Namenslisten von teilnehmenden Schweizer Familien oder von Wiener Kindern, die nach dem Ersten Weltkrieg in der Schweiz weilten. Nur die Aktionen nach dem Zweiten Weltkrieg sind dokumentiert, hier erhalte ich viele weitere Hintergrundinfos. Alles läuft auf eine Sackgasse hinaus. Doch dann geht es plötzlich schnell.

Auslöser ist der Club der ehemaligen Schweizerkinder in Wien. Dort wird meine E-Mail ausführlich beantwortet. Wie sich herausstellt, war gar eines der Gründungsmitglieder und späterer Präsident als Kind im aargauischen Wohlen. Sein Sohn ist heute Webmaster des Internetauftritts. Ich erhalte auch briefliche Post aus Wien und eine Liste von Kindern, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Erholung im Aargau waren. Drei davon sind noch aktive Vereinsmitglieder.

Aus einem Erholungsurlaub wurde Liebe

Ein Vorstandsmitglied des Wiener Vereins macht einen Aufruf, worauf sich mehrere Personen melden und mir ihre Geschichte erzählen wollen. Unter ihnen ist ein Mann aus dem Berner Oberland. Seine Mutter kam ebenfalls aus Österreich zur Erholung in die Schweiz und fand hier die Liebe. Daraus sei er entstanden. Seine Mutter hat die ganze Geschichte in ein Buch verpackt und der Mann hat offenbar Bilder von den Kindertransporten nach dem Ersten Weltkrieg.

Schweizerkinder aus Österreich treffen sich, 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, im November 2005 in Bern.

Bild: Edi Engeler / Keystone

Die vielen Geschichten, die sich mir nun eröffnen, zeugen von viel Dankbarkeit und sind alle interessant. Nur: Sie gründen allermeist auf Aktionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg organisiert wurden. Die Kinderverschickung nach dem Ersten Weltkrieg aber scheint zu weit weg, wurde weniger dokumentiert. Und wenn es doch etwas gibt, fehlt der Bezug zur Familie oder zum Aargau. Bei der eigentlichen Stossrichtung meiner Recherche komme ich damit nicht weiter.

Somit stehe ich weiterhin ohne das Ergebnis da, das ich mir erhofft hatte. Wo die Kinder aus meiner Verwandtschaft damals gewohnt haben, ob die Gebäude noch existieren, habe ich nicht herausgefunden. Ein Besuch der genauen Orte mit meinen Schwiegereltern ist also nicht möglich. Das ist schade.

Aber ich bin doch um viel Wissen reicher, ich habe einiges über meine «angeheiratete» Familie erfahren und über die damalige Zeit. Und die Reise in die Vergangenheit muss trotzdem noch nicht zu Ende sein. Schliesslich haben sich mir jede Menge interessante Geschichten ohne Familienbezug eröffnet. Ob und wie es nun weitergeht, überlasse ich der Leserschaft. Und: Falls Sie Aargauer Schweizerkinder kennen oder weitere Infos haben, freue ich mich über Ihr E-Mail.

Worüber möchten Sie mehr lesen? A: Die Geschichte der drei Clubmitglieder, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Aargau erholt haben.B: Ein Besuch beim Sohn der Frau, die nach dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz verschickt wurde, hier die Liebe fand und ein Buch darüber schrieb.C: Mehr über die Organisation und den geschichtlichen Hintergrund der Kinderhilfen nach den beiden Weltkriegen.D: Keines davon. Thema allgemein uninteressant.