Die Kirchen in Deutschland liefern kaum noch Antworten auf existenzielle Fragen. Sie machen Aktivismus für die vermeintlich gute Sache. Kein Wunder, dass sie immer mehr Gläubige verlieren.

Messdiener knien betend vor dem Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki.
Messdiener knien betend vor dem Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki.

Christoph Hardt / Imago

Sie lesen einen Auszug aus dem Newsletter «Der andere Blick», heute von Johannes Boie, Autor der NZZ Deutschland. Abonnieren Sie den Newsletter kostenlos. Nicht in Deutschland wohnhaft? Hier profitieren.

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Nach dem Tod des Papstes brach Hektik aus. Im Vatikan, wo es gleichzeitig die Beerdigung und die Organisation der Wahl des Nachfolgers zu bewältigen gilt. Und offensichtlich auch bei einigen deutschen Prominenten und Politikern, die ihren routiniert getippten Abschiedsgruss unbedingt mit einem Foto aus dem eigenen Archiv bebildern wollten – auf dem nicht nur der Papst, sondern auch der jeweilige Promi selbst zu sehen war. «Ich und der Papst», das Ende eines Kirchenoberhauptes als willkommene Marketingmassnahme.

Es gibt eine Grauzone zwischen einem würdevollen und einem würdelosen Umgang mit der Kirche. Viele bewegen sich nicht erst seit den dramatischen Stunden nach dem Tod des Papstes in diesem Grenzbereich. Auch die Kirchen selbst tun das. Und immer öfter drohen sie vollends ins Würdelose abzudriften.

Der ehemalige «Bild»-Journalist Carl-Victor Wachs hat vor wenigen Tagen beschrieben, wie sich auf der ökumenischen Karfreitagsprozession in Berlin «ein Performer, nackt, mit Schlamm bedeckt und in Ketten» durch den Zug schrie. Der Auftritt, so schreibt Wachs, sei vorher von der evangelischen Pastorin Silke Radosh-Hinder erklärt worden – er sollte die Verfolgung queerer Menschen in Ghana thematisieren.

Das Geschlecht des Mannes sei deutlich sichtbar gewesen. Bilder von der Prozession zeigen erschrockene Menschen, die in Berlin des Todes und der Auferstehung Christi gedenken wollten, aber sich im Namen der Queer-Bewegung Ghanas vor fliegenden Schlammbrocken in acht nehmen mussten. Auch eine Imamin mit Hijab trat bei der Kreuzzugsprozession auf; sie nutzte die Gelegenheit, um ihre Meinung kundzutun, nach der Muslime in Deutschland durch Christen unterdrückt würden.

Abschreckend für Gläubige

Es ist nur das jüngste Beispiel von vielen, die einen fragwürdigen Umgang der Kirche mit sich selbst illustrieren. Er dürfte einen grossen Teil der Gläubigen abstossen. Zum Ende des vergangenen Jahres berichtete die NZZ zum Beispiel über einen antisemitischen Weihnachtsmarkt einer Gemeinde in Darmstadt, auf dem Terrorsymbole präsent waren. (Der Pfarrer hat sich dafür inzwischen entschuldigt – wenn auch auf fragwürdige Weise.)

An Ostern 2019 erfuhren europäische Christen von einem brutalen Massaker an ihren Glaubensbrüdern und -schwestern in Sri Lanka. Zugleich wurde im Berliner Dom über die Hilfe für afrikanische Staaten gepredigt. Kein Wort über die 270 ermordeten Christen, die Islamisten vor allem in Ostergottesdiensten getötet hatten.

Die Liste liesse sich beliebig verlängern.

Und so ist es nicht verwunderlich, dass auch in diesem Jahr über die Ostertage eine Debatte losbrach, wie sie seit ein paar Jahren regelmässig zu den hohen Festen des Kirchenjahres entsteht. Sie drehte sich um die Frage, ob die Kirchen noch Kirchen sind – Orte des Mystischen, Geistlichen, Sakralen. Oder ob sie sich zu sehr im Alltag verlieren, zu nahbar, zu politisch, zu aktivistisch, womöglich auch zu links und zu «woke» geworden sind.

Zur Wahrheit gehört, dass manche Kritik wohlfeil ist. Schlüge der Aktivismus der Kirchen in die konservative Kerbe, würden sich linke Politiker dagegen verwahren. Nun, da insbesondere die evangelische Kirche häufig nach links kippt, sind es eher rechte Köpfe, die über den vermeintlichen Verfall der Kirche klagen. Es geht in diesen Fällen nicht immer darum, dass die Kirche zu politisch geworden ist. Sondern darum, welche politischen Ansichten sie vertritt.

Aber das ändert nichts daran, dass Tausende Menschen die Kritik an den Kirchen offensichtlich teilen.

In Deutschland treten jedes Jahr Hunderttausende aus der Kirche aus. Es ist offensichtlich, dass sich viele Menschen nach einem Raum sehnen, der einerseits mit ihrem Alltag kompatibel ist und andererseits dediziert für das Nichtalltägliche da ist und obendrein noch Antworten auf existenzielle Fragen bereithält. Das Bedürfnis äussert sich auch im Zulauf zu allerlei Ersatzreligionen, von Yoga bis Klimaaktivismus, von Selbstoptimierung bis Esoterik.

Das Christentum ist nur in Europa bedroht

Doch offensichtlich können oder wollen die Kirchen diesen Bedarf nicht mehr decken – sie stecken im Dilemma: Sie können dem Drang neuer Mitglieder und Führungsfiguren wie der Superintendentin Frau Radosh-Hinder nachgeben, die den nackten Lehmverschmierten für den Kreuzzug als passend empfand. Dann verlieren sie sukzessive jene Christen, die sich nach Ernsthaftigkeit und Sakralität sehnen. Sie können den Rückwärtsgang einlegen und einen konservativeren Kurs einschlagen. Dann laufen sie Gefahr, jene zu verlieren, die in schwierigen Zeiten neu zur Kirche hinzugestossen sind.

Ein Ausweg insbesondere für die streng hierarchische katholische Kirche zeichnet sich allerdings ab. Es ist einer, mit dem hierzulande die wenigsten rechnen. Und einer, der sinnbildlich für ein Europa steht, das sich im Klein-Klein vieler Diskussionen verheddert, während anderswo Tatsachen geschaffen werden.

Denn tatsächlich ist das Christentum nur in Europa bedroht. In fast allen anderen Regionen der Welt ist es – nach dem Islam – eine der am schnellsten wachsenden Glaubensgemeinschaften. Insbesondere in Afrika, jenem Kontinent, den viele in den europäischen Kirchen ausschliesslich als hilfsbedürftig wahrnehmen. Dort kristallisiert sich eine traditionelle, von Politik und Alltag weit entfernte Kirche heraus.

Sollte ein Afrikaner Papst werden, könnten gerade jene linken, progressiven Kirchenanhänger, die sonst jede Förderung Afrikas gutheissen, bitter enttäuscht werden: Viele Kardinäle aus dem südlichen Kontinent sind erzkonservativ und treten für eine Kirche ein, die sich auf ihren Kern besinnt. Mit einem derartigen Mann in Rom an der Spitze würde sich zumindest die katholische Kirche auch in Deutschland verändern. Und womöglich für traditionelle Katholiken wieder an Attraktivität gewinnen.