Die Forderung an die kommende Bundesregierung ist weitreichend. „Ein sofortiges Ende der militärischen und politischen Unterstützung für Netanjahus Regierung ist dringend geboten“, heißt es in dem Schreiben, das in dieser Woche veröffentlicht wurde. Schritt eins, so die Autoren, müsse das „sofortige Ende aller Waffenlieferungen an Israel“ sein.

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Es ist das erste Mal seit Beginn des Gaza-Krieges, dass Bundestagsabgeordnete von SPD, Grünen und Linken einen Stopp von Waffenlieferungen sowie eine aktive Rolle der Bundesregierung bei Waffenstillstandsverhandlungen und der Freilassung der israelischen Geiseln fordern.

Und nicht nur das: Isabel Cademartori (SPD), Kassem Taher Saleh (Grüne) und Nicole Gohlke (Linke) wollen zudem die Anerkennung Palästinas als Staat vorantreiben.

335.000

Kinder in Gaza unter fünf Jahren sind laut UNICEF vom Hungertod bedroht.

Ihren offenen Brief haben die Abgeordneten gemeinsam mit dem Deutsch-Palästinenser Jules El-Khatib und dem Israeli Nimrod Falschenberg veröffentlicht. Handlungsdruck sehen die Autoren vor allem wegen der anhaltenden Blockade von Hilfslieferungen in den Gaza-Streifen, die Israel seit dem 2. März verhängt hat.

Alle 335.000 Kinder unter fünf Jahren in Gaza seien vom Tod durch akute Unterernährung bedroht, schreiben die Autoren mit Verweis auf UNICEF-Angaben. „Insgesamt leben 96 Prozent der Bevölkerung inzwischen in akuter Ernährungsunsicherheit.“

Die Autoren setzen sich schon länger für Palästina ein

Die Abgeordneten fordern von der nächsten Bundesregierung, sich zu positionieren: „Steht sie an der Seite dieser israelischen Regierung, die auf Krieg, Besatzung und Landnahme setzt – oder auf der Seite der Menschenrechte, der palästinensischen Zivilbevölkerung und der Hunderttausenden Israelis, die seit Monaten für einen dauerhaften Frieden demonstrieren?“

Dass der Krieg in Gaza mit dem Überfall der Hamas auf Israel mit mehr als 1200 getöteten Israelis begann, erwähnen die Autoren mit einem Satz.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Abgeordneten die Öffentlichkeit suchen. Grünen-Politiker Saleh, geboren im Irak und nach seiner Flucht aufgewachsen in Plauen, forderte bereits im vergangenen Jahr die deutsche Anerkennung Palästinas als Staat. „Erst mit zwei Staaten ist ein Frieden möglich“, sagte er damals dem Tagesspiegel.

Kassem Taher Saleh ist baupolitischer Sprecher der Grünen.

© Imago/Future Image

Auch SPD-Politikerin Cademartori forderte bereits im Januar 2024 gemeinsam mit 19 anderen Bundestagsabgeordneten einen Waffenstillstand in Gaza, gemeinsam mit Parlamentariern aus Kanada und den USA. 13 der 20 sind noch immer im Parlament, darunter neben Cademartori etwa die frühere Bundestags-Vizepräsidentin Aydan Özoğuz.

Es ist eine verkorkste Debatte.

SPD-Politiker Ralf Stegner schließt sich der Forderung nach einem Stopp von Waffenlieferungen nicht an.

Sie fiel in der vergangenen Legislaturperiode dadurch auf, dass sie auf Instagram ein antisemitisches Posting teilte. Das Bild eines brennenden Gebäudes, mutmaßlich in Gaza, war versehen mit der Bildunterschrift „This is Zionism“, das ist Zionismus. So ein Posting verbiete sich, sagte ihre Parteigenossin, die damalige Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, dem Tagesspiegel.

Auch SPD-Urgestein Ralf Stegner unterzeichnete damals den Brief. Gegenüber der neuen Initiative ist er dennoch skeptisch. „Es ist eine verkorkste Debatte“, sagte er dem Tagesspiegel. „Die einen erwähnen nur, wie wichtig es ist, Israel zu unterstützen. Die anderen reden vom Leid der Palästinenser.“ Wichtig sei aber, „das eine so klar wie das andere anzusprechen, denn Humanität muss für alle Menschen gelten“.

Die Forderung, keine Waffen mehr an Israel zu liefern, würde Stegner nicht mittragen. „Den Deutschen gebührt in dieser Sache nicht die Rolle derjenigen am Megafon, sondern beim beharrlichen diplomatischen Einsatz“, sagt er. In den vergangenen Monaten habe Deutschland aber aus seiner Sicht international an Ansehen verloren, weil es das Leid in Gaza zu wenig anspreche.

Merz will Netanjahu in Deutschland empfangen

Nun habe auch noch der designierte Kanzler Friedrich Merz (CDU) angekündigt, Benjamin Netanjahu in Deutschland empfangen zu wollen, trotz eines Strafbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den israelischen Premier. Stegner hält das für den falschen Weg. „Ich bin nicht dafür, Netanjahu festzunehmen. Aber ich finde, wer ihn treffen will, soll das in Israel tun, damit sich das Problem erst gar nicht stellt.“

Beim künftigen Koalitionspartner ist das Verständnis davon, was Solidarität mit Israel bedeutet, ein anderes. Merz hat unmittelbar nach der Wahl klargestellt, er halte es für eine „ganz abwegige Vorstellung“, dass ein israelischer Ministerpräsident die Bundesrepublik Deutschland nicht besuchen könne. Man werde „Mittel und Wege finden, dass er Deutschland besuchen kann und auch wieder verlassen kann, ohne dass er in Deutschland festgenommen worden ist“.

Es ist der erklärte Wille des zukünftigen Bundeskanzlers Friedrich Merz, alles zu tun, um Israels Sicherheit zu gewährleisten.

CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt will mehr Waffen nach Israel liefern.

Entsprechend kritisch sieht man nun auch die Initiative von Cademartori. Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, erinnert daran, im Koalitionsvertrag sei vereinbart, dass das Existenzrecht und die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson seien. „Es ist der erklärte Wille des zukünftigen Bundeskanzlers Friedrich Merz, alles zu tun, um Israels Sicherheit zu gewährleisten“, sagte er dem Tagesspiegel.

Aus Hardts Sicht kommt ein Stopp der Waffenlieferungen an Israel nicht infrage. Er denkt sogar genau in die umgekehrte Richtung. Aus seiner Sicht muss es künftig womöglich nicht weniger, sondern mehr Waffenlieferungen geben, damit Israel sich gegen seine Angreifer verteidigen kann.

Zur deutschen Unterstützung „werden, sofern von Israel erbeten, auch exportkontrollpflichtige Güter zählen“, sagte Hardt. „Das war bislang schon so und wird bis zu einer Freilassung der Geiseln und dem Ende der Hamas-Herrschaft wie auch angesichts der Lage im Libanon und Syrien vielleicht im Umfang noch steigen müssen.“ Er nimmt den künftigen Koalitionspartner in die Pflicht: „Dafür werden wir im Sinne des Koalitionsvertrags einen Weg finden, den alle Mitglieder der Koalition mittragen können.“

Die Abgeordnete Cademartori dürfte sich da kaum überzeugen lassen. „Ich habe große Sorge, ob in der künftigen Koalition auch Kritik am Vorgehen Israels Raum haben wird“, sagte sie dem Tagesspiegel. Sie erwarte „auch von der Union, dass sie Deutschlands Verpflichtung aufs humanitäre Völkerrecht ernst nimmt und in politisches Handeln umsetzt“.

Keine Waffenlieferungen mehr an Israel, es wäre eine drastische Kehrtwende. In den Reihen der SPD-Fraktion ist dafür keine Mehrheit in Sicht. Allerdings: Ein prominenter Fürsprecher Israels, Michael Roth, ist mit der Wahl aus dem Bundestag und der SPD-Fraktion ausgeschieden. Cademartori hofft, dass sich das Meinungsklima dreht.

„Der eine oder andere kommt vielleicht derzeit ins Grübeln, denn die Lage in Gaza verschlechtert sich immer weiter. Es ist nicht mehr in Zweifel zu ziehen, dass Israel Völkerrecht bricht und Hilfslieferungen blockiert“, sagte sie dem Tagesspiegel.

Isabel Cademartori sitzt für die SPD im Bundestag.

© picture alliance/dpa

Die Blockade von Hilfslieferungen hatten kürzlich auch die Außenminister von Deutschland, Großbritannien und Frankreichs scharf kritisiert. „Humanitäre Hilfe darf niemals als politisches Instrument eingesetzt werden“, erklärten sie gemeinsam. Grundsätzlich ist die Frage der völkerrechtlichen Bewertung aber hochumstrittenen.

Israel betont, dass die Hamas bewusst militärische Infrastruktur inmitten ziviler Einrichtungen platziere und somit die eigene Bevölkerung als menschliche Schutzschilde missbrauche, sodass gezielte Angriffe auf legitime militärische Ziele erschwert würden.

Doch je länger der Krieg in Gaza dauert, desto größer werden die Zweifel an dem Einsatz. Auch bei den Grünen mehren sich die Stimmen, die Israels Vorgehen kritisieren. „Solange keine humanitäre Hilfe in den Gazastreifen gelangt, sollte die deutsche Bundesregierung die Waffenlieferungen pausieren“, sagt die Außenpolitikerin Lamya Kaddor dem Tagesspiegel.

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Die humanitäre Lage im Gazastreifen sei „katastrophal und menschenunwürdig“, so Kaddor. Sie schloss sich der Forderung des offenen Briefs an: „Deutschland muss seinen Einfluss auf die israelische Regierung nutzen, um den Menschen vor Ort wieder Zugang zu Lebensmitteln zu verschaffen und gleichzeitig die entführten Geiseln endlich befreien zu können.“