Neu entdeckte Tonbandaufzeichnungen arabischer Revolutionsführer sorgen international für Aufsehen. Ausgerechnet der einstige Held des arabischen Nationalismus, Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser, distanzierte sich dabei gegenüber Libyens Machthaber Muammar al-Gaddafi vom Vernichtungskampf gegen Israel.

In der Öffentlichkeit propagierte er die Vernichtung Israels und begeisterte damit die arabischen Massen – doch hinter verschlossenen Türen gab er zu, dass er ein Palästina „from the river to the sea“ (gemeint ist: vom Jordan bis zum Mittelmeer) für eine Illusion hielt. Erst jetzt wurde der Mitschnitt eines persönlichen Gesprächs entdeckt, das der damalige ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser 1970 mit dem damals noch neuen libyschen Machthaber Muammar al-Gaddafi führte. Es wirft ein neues Licht auf Nasser, dem einst umjubelten Helden des arabischen Nationalismus.

Zum Zeitpunkt der Aufnahme ist Nassers Stern jedoch schon am Sinken. Drei Jahre zuvor hat der Präsident der damals größten arabischen Militärmacht den Sechs-Tage-Krieg gegen Israel verloren und gerade liefert sich sein Land im sogenannten Abnutzungskrieg ständige Schusswechsel mit dem jüdischen Staat. Doch auf den ganz großen Sieg scheint Nasser gar nicht mehr zu hoffen. „Heute sagen sie, entweder ganz Palästina vom Fluss bis zum Meer oder gar nichts“, sagt er in der Tonbandaufzeichnung über die Hardliner im arabischen Kampf gegen Israel. „Wenn jemand kämpfen will, dann soll er kämpfen. Aber Ägypten will nicht kämpfen. Lasst uns in Ruhe.“

Tatsächlich stand Nassers Aufstieg zum populärsten arabischen Staatsmann seiner Zeit in direktem Zusammenhang mit dem Kampf gegen den jüdischen Staat. Noch bevor er an die politische Spitze Ägyptens trat, kämpfte Nasser als damals 30-jähriger Hauptmann im Arabisch-Israelischen Krieg von 1948. Die arabischen Armeen verloren diesen Konflikt, doch Nasser und seine Kampfgefährten hielten ihre Stellung hinter den feindlichen Linien in Faludscha, auf halbem Weg zwischen Jerusalem und dem Gaza-Streifen. Sie wurden nach dem Waffenstillstand evakuiert und zurück in Ägypten als Helden gefeiert.

Wenige Jahre später putschten Nasser und andere Offiziere gegen den ägyptischen König Faruk, und nach internen Rochaden wurde Nasser Präsident. Es dauerte nicht lange, bis er wieder gegen Israel kämpfte. Nasser verstaatlichte 1956 den Suezkanal, der zwar durch ägyptisches Territorium verläuft, aber bis dahin einer britisch-französischen Gesellschaft unterstand. Großbritannien und Frankreich griffen ein, zusammen mit Israel, das unter anderem palästinensische Kämpfer auf ägyptischem Territorium bekämpfen wollte. Die Supermächte der neuen Weltordnung, die USA und die Sowjetunion, erzwangen eine diplomatische Lösung.

Nasser galt nun als „der starke Mann am Nil“, der den imperialistischen Bestrebungen der Europäer ein Ende setzte und antikoloniale Bewegungen auf der ganzen Welt inspirierte. In mehreren arabischen Ländern nahmen sich Offiziere ein Beispiel an ihm und putschten gegen ihre Herrscher – so auch ein junger Oberst in der libyschen Wüste: Muammar al-Gaddafi.

Aber Nasser galt auch als härtester Gegner des jüdischen Staates. Immer wieder versprach er in Reden, Israel ein für alle Mal auslöschen zu wollen: „Unser grundlegendes Ziel ist die Vernichtung Israels“, verkündete Nasser Ende Mai 1967. „Das arabische Volk will kämpfen.“

Doch dann holte Israel zum Präventivschlag aus: Innerhalb von sechs Tagen besiegten israelische Truppen die Armeen dreier arabischer Staaten: Ägyptens, Syriens und Jordaniens. Die syrischen Golanhöhen, das zu Jordanien gehörende Westjordanland, der von Ägypten verwaltete Gaza-Streifen und die ebenfalls zu Ägypten gehörende Sinai-Halbinsel wurden besetzt. Nassers Radikalität hatte zum Gegenteil geführt: Statt der versprochenen Vernichtung Israels verlor er ägyptisches Territorium, einschließlich der Kontrolle über den strategisch und wirtschaftlich wichtigen Suezkanal.

Verzweifelt versuchte Nasser, die Lage nach dem Waffenstillstand für Ägypten zu verbessern, indem er den Abnutzungskrieg gegen Israel begann: kleine Scharmützel gegen die israelischen Truppen, dazu Unterstützung für palästinensische Freischärler.

Am 1. September 1969 putschte in Libyen der 27-jährige Gaddafi und stürzte die Monarchie. Als Anhänger der panarabischen Idee suchte er die Nähe zu seinem politischen Idol – auch wenn Nasser durch die Schmach des Sechs-Tage-Kriegs beschädigt war.

Knapp 13 Monate lang teilten sich Gaddafi und Nasser die politische Bühne, bevor Ägyptens Präsident Ende September 1970 überraschend an Herzversagen starb. Über Gaddafi sagte Nasser gegenüber Vertrauten, eigentlich möge er den Libyer ganz gern: „Er erinnert mich an mich selbst, als ich in seinem Alter war.“ Bei anderer Gelegenheit jedoch soll er geätzt haben, Gaddafi sei „ein netter Kerl, aber furchtbar naiv“. Vielleicht meinte Nasser damit Gespräche wie jenes, dessen Mitschnitt nun für Aufsehen sorgt.

„Deshalb treffen wir uns heute“, sagt der libysche Machthaber in der Aufnahme zum ägyptischen Präsidenten, „um zu besprechen, wie wir kämpfen, wie wir zerstören“. Der Kampf stehe unmittelbar bevor. Doch Nasser antwortet desillusioniert: „Wie sollen wir kämpfen? Woher das Geld nehmen? Ihr könnt mit Syrien, Algerien, Irak, Südjemen kämpfen.“ Er nennt auch palästinensische Gruppen und Kommandeure. Und er wehrt sich gegen Kritik arabischer Hardliner an seiner Politik.

Kurz vor dem Treffen hatte Nasser angekündigt, einen US-Vorschlag zur Beendigung des seit zwei Jahren andauernden Abnutzungskriegs auf der Sinai-Halbinsel und Gespräche über die diplomatische Anerkennung Israels annehmen zu wollen. Dafür hagelte es Kritik von arabischen Nationalisten. Das war der Hintergrund für das Zusammentreffen mit Gaddafi. Der Libyer war nach Kairo gekommen, um zwischen Nasser und den Hardlinern in Bagdad und Damaskus zu vermitteln.

Doch Ägyptens Präsident war enttäuscht über Israels starken Rückhalt in den USA und noch mehr über die begrenzte Unterstützung der UdSSR für die Araber. Jahre später sollte Nassers Nachfolger Anwar al-Sadat behaupten, Nasser habe „in Moskau am Kreml-Tisch“ den Friedensplan der Amerikaner akzeptiert und den Sowjets gesagt, sie ließen ihm keine andere Wahl.

Ähnlich abgeklärt argumentiert Nasser in der Aufnahme beim Thema Israel. Wenn die Araber „ganz Palästina“ fordern würden, dann erreichten sie am Ende gar nichts – im Gegenteil. „Das würde bedeuten, dass wir Ost-Jerusalem, den Gaza-Streifen und das Westjordanland verlieren.“ Das Ergebnis, so Nasser, wäre so ähnlich wie nach dem Krieg 1948 und der Staatsgründung Israels, wo die Araber ebenfalls mit Maximalforderungen gescheitert waren. „Wir können sagen, wir werden kämpfen, wir werden befreien. Wir werden nichts befreien. Das ist bitter, ich weiß. Es tut mir leid, das zu sagen – aber wer wird das Westjordanland befreien?“

Nach der Niederlage 1967 hat Nasser ein Hauptziel: die Wiedererlangung der von Israel eroberten Sinai-Halbinsel. Alles andere wäre Symbolpolitik, die sein Land erneut in einen aussichtslosen Krieg führen könnte, argumentiert er. In Bagdad würden schon Demonstrationen gegen ihn organisiert, klagte Nasser. „Wenn ihr kämpfen wollt – warum nicht an der Ostfront (Israels)?“ Nasser will sich nicht in einen neuen Krieg treiben lassen: „Wer hat Opfer gebracht, wie wir es getan haben?“, fragt er Gaddafi: „Ihr werft mich ins Wasser und sagt, ich soll nicht nass werden!“

Mehr als fünf Jahrzehnte später entfaltet die Aufnahme breite Wirkung. In Ägypten hat das Gespräch, das Nassers Sohn kürzlich auf YouTube veröffentlichte, eine lebhafte Debatte über die Sinnhaftigkeit des Kampfes gegen Israel ausgelöst – und darüber, ob Politik mehr bewirken kann als Gewalt. Auch wenn Nassers Position bereits in veröffentlichten Sitzungsprotokollen jener Zeit nachzulesen war, hören viele Ägypter zum ersten Mal solche Töne von ihrer nationalen Ikone.

Wie seine Landsleute diese Aussagen aufnehmen würden, scheint Nasser schon damals geahnt zu haben. Er wisse, so sagt er in der Aufzeichnung gegenüber Gaddafi, dass seine Entscheidung für eine Verhandlungslösung mit Israel ihm nicht nur Verratsvorwürfe einbringen dürfte, sondern ihn auch das Leben kosten könne. Vielleicht werde er als Verräter von militanten Hardlinern ermordet, sagt er.

Dass Nasser mit dieser Einschätzung recht hatte, musste sein Nachfolger erfahren. Sadat, der kurz nach dem Gespräch und nach Nassers Tod Präsident Ägyptens wurde, sollte nach einem weiteren Krieg gegen Israel 1979 Frieden mit dem jüdischen Staat schließen. Zwei Jahre später erschoss ihn ein islamistischer Offizier während einer Militärparade vor laufenden Kameras.

Als später ein Journalist Gaddafi fragte, wie er auf die Ermordung Sadats reagiert habe, spottete der Libyer: „Sadat wurde nicht ermordet, an ihm wurde ein Todesurteil vollstreckt.“

Amin Al Magrebi ist Volontär an der Axel Springer Academy. Unter anderem schreibt er über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Nahostkonflikts.