Die kurdische PKK hat angekündigt, sich aufzulösen und den bewaffneten Kampf zu beenden. Allerdings erwiesen sich ähnliche Erklärungen in der Vergangenheit immer wieder als Etikettenschwindel. Sollte die Partei es diesmal ernst meinen, wäre dies ein historischer Schritt.
Der Krieg ist zu Ende. 48 Jahre nach ihrer Gründung und 41 nach Aufnahme des bewaffneten Kampfes hat die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) angekündigt, sie werde dem Aufruf ihres Gründers Abdullah Öcalan folgen und sich selbst auflösen: „Der zwölfte Kongress der PKK hat beschlossen, die Organisationsstruktur der PKK aufzulösen und die Methode des bewaffneten Kampfes zu beenden“, hieß es in einer von der prokurdischen Nachrichtenagentur ANF verbreiteten Erklärung. Nach schätzungsweise 80.000 Todesopfern – PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten – endet der längste bewaffnete Konflikt innerhalb eines Nato-Staates und neben dem Nordirlandkonflikt der einzige, der (zeitweise) in bürgerkriegsähnlicher Form ausgetragen wurde.
Wenn die PKK tatsächlich den bewaffneten Kampf beendet und sich diese Ankündigung nicht, so wie gleichlautende Ankündigungen in der Vergangenheit, als Etikettenschwindel erweist, wäre dies ein historischer Schritt. Und ein überfälliger. Denn in ihrer jetzigen Form ist die PKK ein Anachronismus.
Gegründet wurde sie 1978 als marxistisch-leninistische Kaderorganisation, zu einer Zeit, als der Kalte Krieg die Weltpolitik beherrschte und das Wort „Kurde“ verboten war. Zunächst blieb die Organisation, die sich um Abdullah Öcalan formte, nur eine kleinere Gruppierung. Sie erklärte anfangs nicht dem türkischen Staat den Krieg, sondern bekämpfte in blutigen Fehden die innerlinke Konkurrenz, separate kurdische Gruppen ebenso wie gesamttürkische. Zugleich sagte sie den feudalen Strukturen den Kampf an. Jedoch nicht in einem radikalen sozialrevolutionären Sinne. Bewaffnete Auseinandersetzungen lieferte man sich nur mit jenen Feudalherren, die nicht bereit waren, sich der PKK zu unterwerfen.
Dieser rigorose Alleinvertretungsanspruch war schon in ihrer Gründung angelegt. Aber durchsetzen konnte die PKK diesen erst durch zwei weitere Begebenheiten: Weitsicht und Widerstand. Ende der siebziger Jahre sah die PKK einen Militärputsch kommen und machte sich, anders als viele türkische Linke, keine Illusionen, dass es sich um eine „progressive“ Intervention handeln würde. Öcalan und andere Führungskader verließen ab 1979 das Land in Richtung Syrien und schlugen in der syrisch kontrollierten Bekaa-Ebene ihr neues Hauptquartier auf, von wo aus sie 1984 den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat aufnehmen sollten.
Die Generäle wiederum ergriffen im September 1980 die Macht. Sie gingen unerbittlich gegen politische Gegner vor, nirgends aber mit einer so sadistischen Brutalität wie im Militärgefängnis Diyarbakir. Dort erwies sich die PKK als zäheste Gruppe. Ohne die Folterhölle von Diyarbakir – und ohne den Widerstand, den die PKK-Gefangenen leisteten – hätte die PKK niemals ihre Bedeutung erlangen können. Nach der Vertreibung aus dem Libanon bzw. Syrien wurde Öcalan 1999 in Kenia gefangengenommen, die PKK aber bezog im Nordirak ein neues Quartier und setzte von dort ihren Kampf fort.
Wer weiß, vielleicht hätte sich ohne die PKK, ohne die Spirale von Terror und Gewalt, Gegenterror und Gegengewalt, eine Kraft geformt, die sich mit friedlichen Mitteln für die Belange der Kurden eingesetzt hätte. Aber wahrscheinlicher ist, dass dieses Amalgam aus Rückständigkeit und Unterdrückung spätestens nach dem Ende des Kalten Krieges und dem weltweiten Aufschwung des politischen Islam einen militanten kurdischen Islamismus hervorgebracht hätte.
Den gab es auch so – in Gestalt der türkisch-kurdischen Hizbullah, die sich in den neunziger Jahren mit dem türkischen Staat arrangierte und deren Kämpfer als Todesschwadronen gegen das Umfeld der PKK vorgingen. Im Jahr 2000 zerschlug der türkische Staat die Hizbullah, ihre legale Nachfolgeorganisation ist heute verbündet mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.
Allerdings blieb die Hizbullah eine Randerscheinung, auch weil es der PKK mit dem ihr eigenen Pragmatismus gelang, moderate kurdisch-islamische Strömungen an sich zu binden. Nach dem Ende des Kalten Krieges ersetzte sie den Marxismus-Leninismus durch den kurdischen Nationalismus, dann durch den „Demokratischen Konföderalismus“, einem vom libertären US-Sozialisten Murray Bookchin inspirierten Modell.
Kampf gegen feudale Strukturen
War die kurdische Gesellschaft Ende der siebziger Jahre sehr ländlich geprägt, änderte sich dies im Zuge des Krieges. In den neunziger Jahren entvölkerte das Militär systematisch kurdische Dörfer. Wer nicht vertrieben wurde, floh vor der Gewalt oder wanderte aus ökonomischen Gründen in kurdische Städte oder in die Westtürkei aus. Gesonderte Zahlen für das kurdisch geprägte Ost- und Südwestanatolien liegen nicht vor, aber der Anteil der Landbevölkerung dürfte 1980 noch über dem damaligen türkischen Durchschnitt von 56 Prozent gelegen haben. Heute dürfte er dem aktuellen Durchschnitt von 6,6 Prozent entsprechen.
Die PKK hätte allen Grund, die Überwindung der feudalen Strukturen als Erfolg zu verbuchen; ebenso die Tatsache, dass in der Türkei heute niemand mehr die Existenz der Kurden verleugnet. Doch als ihren größten Erfolg sieht sie etwas anderes, nämlich „die Befreiung der Frauen“, wie Cemil Bayik, die Nummer Zwei der Organisation hinter Öcalan, im Sommer 2015, kurz nach dem Ende der letzten Friedensverhandlungen im WELT-Interview sagte.
Ob die Realität diesem Anspruch immer gerecht wird, sei dahingestellt. Aber feststeht, dass die PKK trotz aller ideologischen Metamorphosen eine säkulare Bewegung blieb, die der dominanten Strömung der Region, dem politischen Islam, etwas entgegenzusetzen hatte. So konnte sie im Zuge des syrischen Bürgerkrieges im Norden Syriens (Rojava) eine De-Facto-Eigenstaatlichkeit aufbauen und – mit Unterstützung der US-Luftwaffe, aber unter immensem Blutzoll – die Terrormiliz „Islamischer Staat“ niederringen. Nicht zuletzt dank dieser Erfahrung fielen nach dem Überfall der Hamas auf Israel Bayiks Stellungnahmen deutlich ausgewogener aus als die Einlassungen des türkischen Staatspräsidenten.
Die PKK ist zu einem regionalen Akteur geworden. Und genau das, die Autonomie in Rojava, möchte sie nach dem Sturz des Assad-Regimes wahren. Den Guerillakampf in der Türkei hatte sie ohnehin verloren, nachdem 2015/16 ihr Versuch, den Krieg in die Städte zu führen, blutig gescheitert war. Im Drohnenkrieg des türkischen Militärs wurden im Folgenden ihre Guerillaeinheiten weitgehend ausgelöscht. Der Krieg in der Türkei war also faktisch ohnehin zu Ende, noch ehe die PKK offiziell den bewaffneten Kampf für beendet erklärte. Im Gegenzug wird sie Sicherheitsgarantien für Rojava wohl bekommen – aus Sicht der PKK kein schlechter Deal.
Dem Vernehmen nach soll Öcalan nicht freigelassen werden, sondern unter angenehmeren Haftbedingungen auf der Gefängnis-Insel Imrali verbleiben – und dürfte de facto die Führung der prokurdischen DEM-Partei übernehmen.
Auf der anderen Seite dürfte sich Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die Unterstützung der Kurden dabei erhoffen, lebenslang im Präsidentenamt zu bleiben. Dass diese Rechnung aufgeht, darf allerdings bezweifeln werden: Nach einem halben Jahrhundert ist die kurdische Gesellschaft keine feudale mehr, aber eine hochgradig politische. Blind wird sie niemandem folgen, auch nicht Öcalan.
Allerdings war es nicht Erdogan, der im Herbst vorigen Jahres die Initiative zu einer Friedenslösung mit der PKK ergriff, sondern überraschenderweise dessen Verbündeter Devlet Bahceli, Chef der ultranationalistischen MHP und zugleich Sprachrohr des Staatsapparates.
Was diese älteren Herren – Bahceli (Jahrgang 1948), Öcalan (1949), Erdogan (1954) und Bayik (1955) – ausgemacht haben, welche Zugeständnisse und Gegenleistungen versprochen wurden, ist nicht bekannt. Diese Intransparenz könnte sich als Bürde erweisen. Aber wenn alles glattgeht, ist das Ende des bewaffneten Kampfes ein guter Tag für die Türkei. Eine Demokratisierung bedeutet das noch nicht, erleichtert aber deren Bedingungen. Wenn er nicht mehr alles und jeden, der ihm im Weg steht, der Terrorunterstützung bezichtigen kann, wird es für Erdogan noch schwieriger, sich langfristig an der Macht zu halten.