Der ehemalige Präsident der EU-Kommission spricht der Schweiz Mut zu: Sie verkörpere Europa geradezu und müsse deshalb auch keine Angst vor geteilter Verantwortung in Europa haben.

PD
Wegen seines Auftritts blieben die meisten Teilnehmer des diesjährigen Swiss Economic Forum bis ganz zum Schluss. Was hat José Manuel Barroso zur Zukunft der europäischen Integration in der gegenwärtigen angespannten geopolitischen Konstellation zu sagen? Er, der von 2004 bis 2014 als EU-Kommissions-Präsident das Ringen um den Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone und den Zusammenhalt der EU von innen mitgeprägt und zuvor zwölf Jahre lang in konservativen portugiesischen Regierungen gewirkt hatte?
Wladimir Putin und Donald Trump seien zu den grössten Integratoren Europas geworden, erklärte Barroso dem Publikum. Er sehe die Gefahren einer Spaltung, glaube aber aus eigener Erfahrung, dass Europa diese bewältigen werde. Die Kraft des gemeinsamen politischen Willens werde gerade von Ökonomen immer wieder unterschätzt. Und er ergänzte zum Thema der europäischen Vision lächelnd, es sei nicht der grosse Sprung, sondern die vielen kleinen Schritte, die zählten. «Es bringt nichts, voranzugehen, wenn du beim Zurückblicken feststellen musst, dass dir keiner folgt.»
Barroso erwies sich in einem an seinen öffentlichen Auftritt anschliessenden längeren Gespräch mit der NZZ als nachdenklicher Stratege mit Weitsicht. Er erzählte nach eigener Aussage zum ersten Mal öffentlich von einem europäischen Bekenntnis der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und erinnerte sich an ein verhängnisvolles Zögern des damaligen US-Präsidenten Barack Obama. Für die Schweiz hatte er eine klare Empfehlung parat.
Herr Barroso, die EU bewältigt Krisen, kommt aber bei der wirtschaftlichen Integration kaum mehr voran.
Der Binnenmarkt für Güter funktioniert hervorragend. Aber bei den Dienstleistungen, bei der Digitalisierung und auch beim Kapitalmarkt gibt es erhebliche Defizite. Warum? Ich sage immer wieder: Zu viele europäische Politiker sind skeptisch gegenüber dem Markt, dem Kapital und gegenüber dem Begriff der Union. Sie glauben, das komme bei ihren Wählerinnen und Wählern nicht gut an. Die Kapitalmarktunion vereinigt alle drei Begriffe, deshalb kommt sie nicht voran. Dabei wäre sie essenziell, um Innovation zu finanzieren.
Europäische Startups suchen ihr Glück deswegen in den USA.
Genau, weil sie dort bessere Finanzierungs- und Skalierungsmöglichkeiten finden. Es ist bezeichnend, dass wir uns nicht einmal trauen, von einer «Kapitalmarktunion» zu sprechen. In Brüssel heisst das Projekt jetzt «Spar- und Investitionsunion» – das ist ein Euphemismus, der einen politischen Diskurs über eine vertieftere Integration in einem kritischen Bereich verhindert.
Die Lissabon-Strategie von 2000 wollte Europa zum «wettbewerbsfähigsten Raum» der Welt machen. Was ist schiefgelaufen?
Ich war damals Oppositionsführer in Portugal, und ich habe die Strategie kritisiert – nicht inhaltlich, sondern weil ich davon überzeugt war, dass sie schlicht nicht realisierbar war. Ich halte es für einen Fehler, ambitionierte Ziele auszurufen, wenn man die Mittel, diese auch zu erreichen, nicht hat. Später, während der Euro-Krise, wurde dezidierter gehandelt: Der Euro wurde gerettet, Rettungspakete wurden umgesetzt, das Bankensystem wurde reformiert. Auch in der Pandemie hat die EU gezeigt, dass sie rasch liefern kann. Trotzdem sollten wir uns stets an die Lektion der Lissabon-Strategie erinnern: Visionen müssen durchsetzbar sein, sonst haben sie keine Glaubwürdigkeit.
Apropos Rettung: Das setzt doch gefährliche Anreize, wenn die EU-Staaten darauf zählen können, dass sie am Ende von den anderen gerettet werden. Sie können Reformen hinausschieben und immer mehr Schulden machen.
Man hat damals viel über diesen sogenannten «moral hazard» diskutiert. Aber nein, Griechenland, Portugal, Spanien – alle haben sie ihre Lehren gezogen. Heute zahlt Griechenland auf den Kapitalmärkten fast die gleichen Zinsen wie Frankreich. Das war 2012 unvorstellbar. Viele Ökonomen lagen falsch, weil sie die politische Entschlossenheit unterschätzt haben. Sie glaubten, wirtschaftliche Modelle könnten politische Realität ersetzen. Das kann ich heute dazu zum ersten Mal öffentlich erzählen: 2011 habe ich Angela Merkel in Cannes gefragt: «Wenn Italien wankt, wird Deutschland helfen?» Ihre Antwort war klar: «Ohne Italien kein Euro. Und ohne Euro kein Europa.»
«Trump und Putin haben Europa geeint und gestärkt.»
Es wurden aber auch Chancen verpasst, etwa mit TTIP – dem grossen transatlantischen Handelsprojekt.
Absolut. Ich war persönlich involviert: Beim G-8-Gipfel 2012 in Camp David haben wir Europäer Präsident Obama direkt gefragt, ob er ein Freihandelsabkommen mit Europa wolle. Seine Antwort war: «Ja – aber erst nach der Wiederwahl.» In Obamas zweiter Amtszeit kam leider nichts mehr. Dabei wäre eine transatlantische Freihandelszone mit den USA und Kanada geopolitisch und wirtschaftlich sehr sinnvoll gewesen. Heute sind die politischen Bedingungen schwieriger. Aber die Idee bleibt richtig.
Wir reden über Krisenmanagement, technische Massnahmen und vor allem wirtschaftliche Zwänge. Wo bleibt der sogenannte europäische Geist?
Der europäische Geist lebt. Er ist nicht bloss institutionell – er ist ein Versprechen: Frieden, Demokratie, Würde, Zusammenarbeit. Als Portugiese weiss ich, was Europa bedeutet: den Übergang von Diktatur zu Freiheit. Aber ohne Umsetzung bleibt der Geist wirkungslos. Visionen sind wichtig – aber sie müssen pragmatisch umgesetzt werden. Europas Stärke ist, Ideale mit Realität zu verbinden. Und gerade weil es so schwer ist, ist es umso wertvoller.
Europa ist derzeit geopolitisch gefordert wie noch selten. Erleben wir in den USA gerade eine strukturelle Verschiebung – oder nur eine Episode unter Trump?
Ich denke, wir stehen vor einer qualitativen Veränderung. Selbst wenn die USA formal an Europa festhalten, ist das Gefühl der «Selbstverständlichkeit» verlorengegangen. In meiner Generation war die transatlantische Partnerschaft eine Grundüberzeugung. Heute ist sie für viele nur noch eine Option. Das ändert auch die europäische Haltung: Wir dürfen nicht länger nur auf Washington warten – wir müssen unsere strategischen Interessen selbst definieren.
Aber agiert Europa nicht zu zögerlich, um geopolitisch mithalten zu können?
Europa ist strukturell eher reaktiv als proaktiv – das liegt in seiner Natur. Entscheidungen müssen von vielen Akteuren getragen werden. Das dauert manchmal frustrierend lange. Aber die EU hat sich als widerstandsfähig erwiesen. Gerade in Ausnahmesituationen gelingen ihr Fortschritte, die vorher politisch blockiert waren. Integration erfolgt in Europa schrittchenweise – manchmal aber eben auch in grossen Sprüngen. Wenn der politische Wille da ist, kann die EU handeln. In diesen Momenten wird aus institutioneller Schwerfälligkeit strategische Stabilität.
Die russische Invasion in der Ukraine war so ein Moment.
Genau. Weder Donald Trump noch Wladimir Putin wollten Europa stärken – aber Trump und Putin haben Europa geeint und gestärkt. Putin hat mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine die europäische Friedensordnung angegriffen, Trump erschüttert das transatlantische Vertrauen. Beides hat Europa aufgeschreckt und zusammengeschweisst. Das stärkt die EU. Heute erkennt man in Paris oder Berlin, dass es keine strategische Autonomie ohne europäische Einigkeit gibt.
Was verstehen Sie unter strategischer Autonomie?
Nicht Selbstgenügsamkeit. Sondern die Fähigkeit, unsere Interessen eigenständig zu definieren und zu verfolgen – wirtschaftlich, sicherheitspolitisch, technologisch. Immer in Partnerschaft, aber nicht in Abhängigkeit.
«Viele Ökonomen lagen falsch, weil sie die politische Entschlossenheit unterschätzt haben.»
Europa fehlen allerdings die militärischen Schlüsselfähigkeiten dafür.
Die USA bleiben unabdingbar für Europas Sicherheit – aber das Vertrauen hat gelitten. Wenn ein amerikanischer Präsident offen sagt, die EU sei gegründet worden, um die USA «über den Tisch zu ziehen», dann beschädigt dies das Fundament der transatlantischen Partnerschaft. Sprache ist in der Politik kein Beiwerk – sie ist das Rohmaterial der Beziehungen. Vertrauen entsteht nicht nur durch Verträge, sondern durch Haltung. Ich hoffe, dass der nächste Nato-Gipfel hilft, die entstandene Unsicherheit zu verringern.
Die Nato ist ein transatlantisches Projekt – und damit auch ein amerikanisches.
Die Nato bleibt zentral. Aber Europa muss stärker werden – auch innerhalb der Nato. Wir brauchen einen europäischen Pfeiler, der glaubwürdig ist. Das bedeutet keine Doppelspurigkeit, sondern eine Ergänzung. Viele EU-Staaten sind Nato-Mitglieder, andere wie Schweden oder Finnland sind gerade erst beigetreten. Wir müssen vermeiden, dass die europäische Sicherheit und die Verteidigungsfähigkeit von der Tagesform amerikanischer Politik abhängen.
Trotzdem wächst der Nationalismus in Europa. Wie gefährlich ist das?
Es wäre naiv, die Gefahr zu unterschätzen. Es gibt politische Kräfte, die Europa von innen schwächen wollen – teils aus Überzeugung, teils aus Opportunismus. Aber bis jetzt überwiegt die Einigungskraft. Die EU hat seit 2022 sechzehn Sanktionspakete gegen Russland beschlossen – und das mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten. Auch Regierungen mit nationalistischem Profil wie diejenige Ungarns haben sich nicht grundsätzlich verweigert. Orban war von Anfang an gegen Sanktionen, aber er hat gesagt: «Wenn es Konsens gibt, blockiere ich nicht.» Dieser Konsens besteht bis heute. Das zeigt: Selbst Nationalisten erkennen den Wert europäischer Handlungsfähigkeit – solange sie das Gefühl haben, gehört zu werden.
Orban und seine Verbündeten, Kickl in Österreich, Fico in der Slowakei und Babis in Tschechien, fordern letztlich das Ende der EU.
Einige von ihnen stellen zentrale Grundprinzipien infrage – die Unabhängigkeit der Justiz, die Pressefreiheit, die Vorrangstellung europäischen Rechts. Das ist gefährlich. Aber kaum jemand will die EU formell wirklich verlassen. Auch die Nationalisten leben von der EU – politisch, wirtschaftlich, finanziell. Orban ist ein gutes Beispiel: Er kritisiert Brüssel bei jeder Gelegenheit, nimmt aber europäische Gelder gerne entgegen. Das ist ein Widerspruch, aber auch Teil des Systems. Ich glaube nicht, dass die Nationalisten die EU zerstören können – aber sie können sie schwächen. Deshalb braucht es klare Prinzipien und, wo nötig, auch politische Gegenwehr.
Grossbritannien ist nicht mehr in der EU, aber militärisch stark für die Sicherheit Europas engagiert – unter anderem mit einer dezidierten Unterstützung der Ukraine. Wie sehen Sie das künftige Verhältnis zwischen der EU und Grossbritannien?
Realistisch und eng. London sollte eingebunden bleiben. Die Briten verfügen über bedeutende Fähigkeiten – militärisch, nachrichtendienstlich, diplomatisch. Auch wenn sie nicht mehr in der EU sind, sollten wir Wege für eine vertiefte Kooperation finden. Der Fiskalpakt von 2012, also die Abmachungen im Umgang mit der Verschuldung nach der Euro-Krise, hat gezeigt, dass Integration auch ohne die Teilnahme aller Mitgliedstaaten funktioniert, solange der Weg für alle offen bleibt. Es braucht flexible Strukturen – aber ohne dass daraus Hierarchien entstehen.
Sie plädieren also für «variable Geometrie» – aber ohne ein Europa der zwei Klassen?
Unbedingt. Es darf keine erste und zweite Klasse geben. Jedes Land hat die gleiche Würde, die gleichen Rechte. Aber nicht jedes muss bei allem mitmachen. Wir kennen diese Formel bereits mit Blick auf Schengen oder die Euro-Zone. Wichtig ist, dass jene, die bereit dazu sind, voranschreiten können – und andere später dazustossen dürfen. Es geht um Offenheit statt Ausschluss, um Flexibilität statt Spaltung. Das ist kein theoretisches Ideal, sondern praktische Notwendigkeit.
Gilt das auch für Länder wie die Ukraine oder die Türkei?
Für die Ukraine könnte man heute schon flexible Formen der Integration schaffen – etwa Teilnahme an EU-Gremien ohne Stimmrecht. Eine EU-Vollmitgliedschaft der Ukraine halte ich für realistisch, aber nicht kurzfristig. Eine Nato-Mitgliedschaft scheint mir hingegen unwahrscheinlich. Bei der Türkei ist es umgekehrt: Das Land ist in der Nato, aber eine EU-Vollmitgliedschaft sehe ich in absehbarer Zeit nicht. Wirtschaftlich bleibt die Kooperation wichtig – etwa über die Zollunion. Aber wer glaubt, die Entwicklung Ankaras liege nur an Europas Verhalten, unterschätzt die Eigendynamik der türkischen Politik.
Zum Schluss ein Wort zur Schweiz und zu ihrem Ringen um ein stabiles, aber eigenständiges Verhältnis zur EU. Verstehen Sie die Angst der Schweizerinnen und Schweizer, mit dem neuen Vertragspaket einen Teil ihrer Souveränität zu verlieren?
Ich habe grossen Respekt vor der Schweiz und kenne sie gut. Ich habe hier studiert und gearbeitet, mein Sohn ist in der Schweiz geboren. Sie ist ein Land mit starker demokratischer Kultur, vier Sprachen, einer hohen Innovationskraft. Die Schweiz ist geradezu die Verkörperung von Europa. Wer so gefestigt ist, sollte keine Angst haben vor geteilter Verantwortung im Rahmen der europäischen Integration. Im Gegenteil: Kooperation erhöht den Einfluss. Das Paket, das ausgehandelt wurde, ist ausgewogen, und die EU ist den Anliegen der Schweiz weit entgegengekommen. Aus meiner Sicht hat die Schweiz mehr erreicht als Grossbritannien. Es wäre unklug, dieses Ergebnis leichtfertig zu riskieren. Die Schweiz bleibt natürlich ausserhalb der EU, aber sie kann europäische Politik mitgestalten, wenn sie sich selbst nicht ins Abseits stellt.