Meinung

AboBehördenchaos in Berlin –

Wie ich lernte, die Schweizer Bürokratie zu lieben

Ein Mann entfernt Ordner nach einem Protest des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks vor dem Bundeskanzleramt in Berlin, 26. Februar 2024.

Protest gegen die deutsche Bürokratie: Aktion des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks.

Foto: Florian Gärtner (Getty Images)

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In Zürich, Bern und Basel gehört es zum guten Ton, über die Behörden zu lästern: zu teuer, zu langsam, zu bürgerfern seien sie. Vor den letzten städtischen Wahlen kürte eine bürgerliche Kampagne Zürich gar zur «Hauptstadt der Bürokratie». Reglemente, Verbote und Auflagen, so der Vorwurf, bestimmten dort den Alltag. 

Doch mit Verlaub: Wer in Berlin lebt, kann über solche Klagen aus der Heimat nur müde lächeln. Im Vergleich zum Berliner Verwaltungsdschungel sind die lokalen Schweizer Behörden Musterbeispiele für Innovation, Effizienz und Freundlichkeit. 

Digitalisierung? Ein Fremdwort in Berlin

Das zeigt sich schon bei der Anmeldung: In Schweizer Städten genügt in der Regel ein kurzer Besuch bei der Einwohnerbehörde. In Berlin braucht man dafür einen Termin – und der ist schwer zu bekommen. Eine Stichprobe Mitte Juni zeigt: Die Wartezeit beträgt mindestens sieben Wochen. Alltag in einer Stadt, in der Einwanderer aus aller Welt auf eine analoge und unterdotierte Bürokratie treffen.

Wer Deutsch spricht und sich von langen Warteschleifen am Telefon nicht entmutigen lässt, kann versuchen, über die allgemeine Berliner Verwaltungsnummer einen Termin zu ergattern – mit etwas Charme und Glück kann das gut gehen.

Für Expats ohne Deutschkenntnisse droht aber eine verhängnisvolle Kettenreaktion: Ohne Anmeldung fallen staatliche Transferzahlungen weg und es ist schwer, einen Handyvertrag abzuschliessen oder ein Bankkonto zu eröffnen. Ohne deutsches Bankkonto kann der Abschluss eines Internetvertrages zum Problem werden. Und ohne Internet ist das Leben selbst im papier- und formularverliebten Deutschland kaum vorstellbar. 

Die Folgen sind spürbar: Deutsche Wirtschaftsverbände warnen, dass die langen Wartezeiten ausländische Fachkräfte abschrecken und Unternehmen belasten. Studien zeigen, dass die überforderte Bürokratie ein Grund ist, weshalb Hochqualifizierte andere Länder Deutschland vorziehen. 

Wer trotzdem kommt, sucht nach Umwegen: Die Berliner Verwaltung hat eine regelrechte Industrie hervorgebracht, die sich um die begehrte Anmeldung dreht. Ein kanadischer Informatiker gehört zu den gutwilligen Vertretern: Auf seiner Website All About Berlin informiert er auf Englisch und bietet eine App an, die freie Termine für «The Anmeldung» per Push-Nachricht meldet – Bezahlung freiwillig.

Fragwürdige Geschäfte mit der Termin-Not

Daneben blühen fragwürdige Geschäfte: IT-Profis nutzen Bots, um verfügbare Termine frühzeitig abzugreifen und verkaufen diese auf spezialisierten Websites, über Facebook und Telegram. Die Preise gehen bis zu 100 Euro. Was gratis sein soll, wird zu Geld gemacht.

Die Bürokratisierung lähmt nicht nur die Verwaltung, sondern auch die Privatwirtschaft. Wer bei der Deutschen Telekom einen Internetanschluss bestellt, kann erleben, dass der Auftrag nach einer Bonitäts- und Risikoprüfung storniert wird. Warum? Das weiss bei der Telekom niemand so genau. Die Begründung soll irgendwann nachgereicht werden – per Briefpost. 

«So ist das halt bei uns»

Die Menschen in Berlin ertragen ihre kafkaeske Bürokratie zu einem grossen Teil mit einer bewundernswerten Gelassenheit. «So ist das halt bei uns», lautet der Tenor. Wer aus der Schweiz zuzieht, vermisst in Berlin aber weder Käse noch die Berge – sondern die lokalen Behörden.

Bürokratie in der Schweiz

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