DruckenTeilen
Expertin Minna Ålander hat mit Nachschub an Russlands Nato-Grenzen gerechnet. Nur Defensive? „Das glaube ich den Russen nicht“, sagt sie im Interview.
Russland rüstet an den Nato-Grenzen (wieder) auf. Gerade Finnland ist sich dessen wohl bewusst. Was aber bedeutet das? Eine harmlose defensive Reaktion auf den Bündnispartner der USA – oder Vorbereitungen für einen etwaigen Angriff?
Minna Ålander ist Expertin für die Verteidigungspolitik in Europas hohem Norden und im Baltikum. Für die Finnin kommt die Aufrüstung nicht überraschend. Ein bedeutsames Zeichen im Ukraine-Krieg sei sie gleichwohl – und reine Defensive nicht glaubwürdig. Im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau erklärt sie, was sich aus der Entwicklung ableiten lässt. Zudem erläutert die Wissenschaftlerin des Center for European Policy Analysis, warum Finnland so anders auf Russland blickt als Deutschland und warum die deutsche Debatte im Norden für Misstrauen sorgt.
Putins Aufrüstung an der Nato-Grenze: „Kriegsmaschinerie ausgebaut“
Frau Ålander, es gab zuletzt Berichte darüber, dass Russland seine militärische Präsenz an den Grenzen zu Finnland verstärkt. Ist das ein Zeichen, auf das die Nato reagieren muss? Wie ernst muss man das nehmen?
Das ist durchaus relevant – und es war vorhersehbar. Man muss wissen, dass Russland in den vergangenen drei Jahren sehr viel Gerät und Truppen aus den Basen entlang der finnischen Grenze in die Ukraine abgezogen hat. Im Sommer 2024 hat der finnische Militärgeheimdienst geschätzt, dass Russland bis zu 80 Prozent weniger Truppen an der Grenze stehen hatte als vor dem Großangriff auf die Ukraine. Von diesem Punkt aus baut Russland jetzt wieder auf. Schon 2023 hatte der damalige Verteidigungsminister Schoigu angekündigt, die Truppenstärke auf 1,5 Millionen Soldaten zu erhöhen und die Militärbezirke Leningrad und Moskau wieder zu bilden. Die Frage war also nur, wann Russland die Kapazitäten haben wird, um zu handeln.

Russland rüstet an der finnischen (Nato-)Grenze auf. Das nordische Land (eingeklinkt Petteri Orpo mit Friedrich Merz) blickt mit Skepsis auf Deutschland. © Montage: Kay Nietfeld/Alexander Demianchuk/dpa/picture alliance/Imago/Itar-Tass/fn
Jetzt hat Russland diese Kapazitäten also?
Man beginnt jedenfalls zu sehen, dass sich etwas tut. Die Frage ist, warum das gerade jetzt möglich ist. Einerseits hat Russland seine Kriegsmaschine womöglich so weit ausbauen können, dass es sich neue Projekte leisten kann. Ein wichtiges Indiz ist, dass Russland neues Gerät nicht mehr unbedingt aus der Produktion direkt in die Ukraine schickt, sondern auch in den Basen lagert. Und dann gab es im Frühjahr einen erfolgreichen Rekrutierungs-Push – auch, wenn der jetzt wieder etwas ins Stocken gekommen ist.
Und die andere Erklärung?
Es wirkt so, als habe es nach Trumps Amtsantritt in Russland den Optimismus gegeben, dass bald eine Feuerpause in der Ukraine eingeleitet wird. Vielleicht war das auch das Kalkül unter den neuen Rekruten. Womöglich hat auch der Kreml erwartet, dass man sich dann auf andere Projekte konzentrieren kann. So würde ich das interpretieren – natürlich ohne in Putins Kopf schauen zu können.
Putins Truppen-Aufbau im Norden nur defensiv? „Das glaube ich den Russen nicht“
Ihr litauischer Berufskollege Daivis Petraitis hat vor ein paar Wochen im finnischen Rundfunk erklärt, man müsse Russlands Truppenaufbau an den Nato-Grenzen vor allem als Folge einer recht starren defensiven Militär-Doktrin verstehen. Klingt das für Sie plausibel?
Für mich klingt es zumindest suspekt, Russland rein defensives Agieren zu unterstellen. Natürlich musste Russland auf Finnlands Nato-Beitritt reagieren, alleine schon um seine Glaubwürdigkeit zu bewahren. Es war ja schon ein bisschen peinlich, dass Russland die Grenze im Prinzip erstmal drei Jahre lang „leer gelassen“ hat. Das untergräbt schließlich die Erzählung, dass die Nato eine Bedrohung ist. Offenbar war die jetzt drei Jahre lang nicht so groß. Aber natürlich reflektiert das auch die strategischen Veränderungen.
Inwiefern?
Vor Finnlands Nato-Beitritt hat es aus der russischen Perspektive so ausgesehen, als könne man theoretisch recht entspannt auch offensive Aktionen gegen das Baltikum planen – ohne dass die Nato unglaublich viel dagegen hätte tun können.
Das ist jetzt anders?
Die Szenarien für die Verteidigungsfähigkeit der Nato sahen schon recht düster aus. Jetzt ist die Flanke aus russischer Sicht viel länger, das Baltikum ist nicht mehr so isoliert. Russland könnte kaum hoffen, einen begrenzten Angriff zu starten und das Baltikum vom Rest der Nato isoliert zu halten. Zugleich will Russland diese neue lange Grenze von Norwegen über Finnland bis zum Baltikum sichern. Insofern ist dieser Infrastrukturaufbau verständlich. Aber ich glaube den Russen nicht, dass das rein defensiv ist. Ich denke, sie wissen auch, dass die Nato Russland nicht zuerst attackieren wird.
In Deutschland wird gerade das „Friedensmanifest” aus SPD-Reihen heftig debattiert. Aus Finnland oder Schweden ist dergleichen nicht zu hören. Dabei sind das ja Länder, die bis vor einiger Zeit sogar einen Nato-Beitritt noch abgelehnt hatten. Warum läuft die Debatte dort so anders?
Der größte Unterschied ist, dass es in Finnland und Schweden sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft einen großen Konsens für die Unterstützung für die Ukraine gibt. Und auch darüber, dass mehr getan werden muss. Auch in Schweden gibt es Pazifisten – aber Russland-Fans nicht. Selbst die pazifistische Linke sieht ein, dass es diese Hilfe jetzt einfach geben muss. In Norwegen hat sich zwar gerade eine „Friedenspartei“ gegründet, die mit einem sehr vereinfachten Friedensplan für die Ukraine wirbt, der vor allem russischen Interessen dienen würde. Aber das ist eine sehr marginale Gruppe ohne politischen Einfluss.
Der Norden blickt auf Merz: „Es gibt sehr große Sorgen über die deutsche Russlandpolitik“
In Finnland und Schweden gibt es das wirklich gar nicht?
In Finnland nicht, in Schweden sind diese Gruppen von Pazifisten auch sehr marginalisiert. Nur ein Beispiel: In Stockholm gibt es jede Woche drei verschiedene Demonstrationen für die Unterstützung der Ukraine. Am Montag von den liberal-konservativen Parteien, am Mittwoch von Sozialdemokraten und am Sonntag von einem ukrainischen Verein. Auch im Parlament herrscht großer Konsens. Man tut sich schwer zu verstehen, warum es in Deutschland so viel zu diskutieren gibt.
Ist die deutsche Haltung ein Gesprächsthema?
In Deutschland ist das vermutlich unter dem Radar gelaufen, aber: Als im Mai berichtet wurde, dass sich Ralf Stegner und Ronald Pofalla in Baku waren und sich mit hochrangigen Gazprom-Vertretern getroffen haben, hat das wirklich viel Aufmerksamkeit erhalten – und zwar ausschließlich negative. Als sich Friedrich Merz in Finnland mit den nordischen Regierungschefs getroffen hat, war die Berichterstattung zwar positiv. Aber auch sehr vorsichtig.
Es gibt also Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit der Bundesregierung in diesen Fragen?
Man hat jedenfalls genau beobachtet, dass es diese Stimmen nicht nur von den politischen Rändern gibt, sondern auch aus den Regierungsparteien. Es gibt sehr große Sorgen über die deutsche Russlandpolitik. Etwa darüber, ob sich die Bundesregierung von russlandfreundlichen Stimmen beeinflussen lässt und ob man sich auf die Deutschen verlassen kann.
„Wenn das im Interesse des Kremls ist, ist es wohl nicht gut für uns“
Sie haben einmal gesagt, die Finnen machten gerne das Gegenteil von dem, was der Kreml empfiehlt…
…ja, das kann man schon so sagen…
…in Deutschland hingegen grassiert immer wieder die Angst vor einem russischen Atomschlag oder davor, zu sehr auf Konfrontation mit Russland zu gehen. Wie lässt sich erklären, dass die Finnen einen so anderen Standpunkt haben?
Das ist natürlich stark historisch bedingt. Wir haben nicht so viele gute Erfahrungen mit Russland gemacht. Deutschland in gewisser Weise schon: Die Sowjetunion hat Berlin zusammen mit den anderen Alliierten von den Nazis befreit, Gorbatschow hat eine entscheidende Rolle bei der Wiedervereinigung gespielt. In Deutschland hat man wohl immer gedacht, Russland werde gegen die Bundesrepublik nicht diese Strategien einsetzen, die man gegen die kleineren Nachbarländer anwendet.
Wladimir Putin: Der Aufstieg von Russlands Machthabern in Bildern

Ein Trugschluss, wenn man sich hybride Kriegsführung ansieht.
Ja. In Finnland gibt es ein anderes Bewusstsein. Wobei es auch sehr großes Wohlwollen gegenüber der russischen Bevölkerung gab. Man wollte gerne glauben, dass auch die Menschen in Russland ein Opfer von Putins Regime sind. Das hat sich in den letzten Jahren geändert – weil man sieht, dass leider viele „gewöhnliche“ Russinnen und Russen den Krieg gegen die Ukraine unterstützen. Letztlich ist es sehr schwer, als Politiker in Finnland prorussisch zu sein. Das wäre politischer Selbstmord.
Also ist die Haltung wirklich, das Gegenteil von dem zu tun, was Russland will?
Ein Beispiel: Im Sommer 2022 war die finnische Grenze zu Russland weit offen. Die Finnen dachten, es wäre gut, Russinnen und Russen aufzunehmen, die vor dem Regime fliehen wollen. Aber dann hat Peskow Finnland davor gewarnt, Visa-Restriktionen wie die baltischen Staaten einzuführen. Da hat sich die Meinung schlagartig geändert. Man hat gedacht: Wenn das im Interesse des Kremls ist, dann ist es wahrscheinlich nicht gut für uns. Es gibt einfach das Bewusstsein, dass die Interessen Russlands ganz oft gegen Finnland gerichtet sind. (Interview: Florian Naumann)