AboSchweizer Eigenart –
Geschichte eines Tabus: Warum wir es hassen, über Geld zu sprechen
Schweizerinnen und Schweizer haben eine widersprüchliche Beziehung zum Geld. Woher kommt das? Und was sind die Folgen davon?
Enzo Lopardo(Fotos)
Publiziert heute um 07:00 Uhr

Wenn es um Geld geht, gilt in der Schweiz: Schweigen ist Gold.
Collage Michael Treuthardt. Bilder: Getty Images
Mittagessen in einer Schweizer Familie. Eines der Kinder fragt, wo es in den nächsten Ferien hingehe – «hoffentlich endlich einmal nach Australien». Ausserdem hätte es gerne einen Hund, eine grössere Wohnung und bitte dazu endlich die neue Nintendo-Switch. Auf den Einwand, alles gleichzeitig könne man sich auf keinen Fall leisten, folgt die Frage, die eine grosse Diskussion ins Rollen bringt: «Sind wir arm?»
Was sagt man da als Eltern? «Verglichen mit den meisten Menschen auf der Welt geht es uns sehr gut.» Damit kann das Kind natürlich nicht viel anfangen. «Aber Max hat jetzt das iPhone 16, und ihr sagt, das sei zu teuer.» – «Aber dafür geht Max’ Familie kaum in die Ferien.» Und schon ist man mittendrin in der Frage, was Wohlstand eigentlich bedeutet, und dass es dabei eine grosse Rolle spielt, mit wem und in welchen Bereichen man sich vergleicht.
Angesichts der völlig unterschiedlichen Ausgangslagen ist es im Grunde eine Anmassung, zu versuchen, das Verhältnis der Schweizerinnen und Schweizer zum Geld zu analysieren. Doch nach Gesprächen mit einem Ökonomen, einer Soziologin, einem Künstler und einem Psychiater schälen sich zumindest ein paar typische Eigenheiten heraus.
Schweigen über Geld ist Gold
Die Schweiz ist bekannt für ihre Diskretion. Das hat auch mit ihrer Geschichte zu tun. Das Bankgeheimnis, das Schweigen über Potentatengelder sowie über die Vermögen jüdischer Opfer im Zweiten Weltkrieg gehörte lange Zeit zur nationalen Mentalität. Heute wird noch immer gerne geschwiegen – etwa wenn es um den eigenen Lohn geht.
Hinzu kommt aber noch eine ganz andere Art des Schweigens – wer Geld hat, der protzt damit in aller Regel nicht. So pompös zu heiraten, wie es der milliardenschwere US-Investor Jeff Bezos gerade in Venedig getan hat, wäre in der Schweiz kaum vorstellbar. Das zeigt sich unter anderem daran, dass es Superreiche hier an Orte wie Gstaad zieht, die als äusserst verschwiegen gelten.
Der Freiburger Wirtschaftsprofessor Reiner Eichenberger hat eine Erklärung für das Phänomen der Bescheidenheit: «Die Schweiz hatte nie einen König, der Adlige um sich scharte, die zeigen mussten, wie begütert sie waren.» So entstand nie eine Kultur des Sich-gegenseitig-übertrumpfen-Wollens.

Wirtschaftsprofessor Reiner Eichenberger sagt, in der Schweiz müsse man seinen Erfolg nicht zelebrieren.
Foto: Enzo Lopardo
Auch die Kleinräumigkeit und das Milizsystem prägen die Eidgenossenschaft bis heute: «Man wusste dank den engen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Beziehungen, was die Leute können. Da musste man nicht durch sichtbaren Konsum zeigen, dass man erfolgreich ist», sagt Eichenberger.
Das führt uns zu einer weiteren Schweizer Eigenheit: Der unerschütterliche Glaube daran, dass jeder und jede sich Erfolg erarbeiten kann.
Schweiz glaubt an die Meritokratie
Leistungsbereitschaft gilt in der Schweiz als Königsweg hin zu beruflichem Erfolg und damit einem ordentlichen Lohn. Erklärtes Ziel ist es, dass jeder und jede die eigenen Fähigkeiten voll entfalten kann, sofern er oder sie bereit ist, sich anzustrengen.
«Doch die soziale Herkunft entscheidet immer noch zu einem grossen Teil, wer es an eine Uni schafft und wer nicht», sagt die Berner Soziologieprofessorin Benita Combet. Das werde aber oft ausgeblendet, weil es nicht dem Schweizer Leistungsideal entspreche.

Soziologin Benita Combet hat ihr Büro im Hochschulzentrum von Roll in Bern. Sie findet, das Schweizer Bildungssystem sei nicht ganz so egalitär.
Foto: Christian Pfander
Das duale Bildungssystem mit seinen vielen Anschlussmöglichkeiten erlaubt es zwar auch Menschen ohne Uni-Abschluss, gut bezahlte Positionen zu erreichen. Doch familiäre Unterstützung hilft auch hier: weiterführende Kontakte, das Wissen, wie man überzeugend auftritt, finanzielle Ressourcen.
Nicht ganz mit dem Glauben an eine reine Leistungsgesellschaft vereinbar ist zudem, dass viele begüterte Menschen geerbt haben. Laut einer wissenschaftlichen Schätzung werden dieses Jahr in der Schweiz über 100 Milliarden Franken vererbt oder verschenkt. Das passt gar nicht zur Vorstellung, dass Reichtum stets selbst erarbeitet ist. Aus diesem Grund wird hierzulande übers Erben besonders gerne geschwiegen.
Wohlstand bedeutet Anerkennung
Vom Glaubenssatz: «Wer sich nur genug anstrengt, der kann es weit bringen», ist es nicht weit bis zur Überzeugung: «Wer es nicht schafft, der ist selber schuld». Wie stark das wirken kann, weiss Sebastian Dittert. Er ist leitender Arzt und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Privatklinik Meiringen.

Sebastian Dittert von der Privatklinik Meiringen sagt, vor allem junge Männer litten unter grossem Erwartungsdruck.
Foto: Christian Pfander
Er sagt: «Regelmässig höre ich von Patienten den Satz: ‹Leistung war wichtig in meinem Elternhaus.›» Die Betroffenen glauben, nur wenn sie genug leisten, hätten sie Zuneigung verdient. Im schlimmsten Fall sind die eigenen Ansprüche so hoch, dass sie unmöglich zu erfüllen sind. Zurücklehnen und geniessen liegen da nicht drin.
Die Verknüpfung von Leistung und Wert kann auch zum Bumerang werden, wenn es am Arbeitsplatz nicht mehr so gut läuft. Oder wenn jemand merkt, dass die eigene Familie sich nicht so teure Ferien leisten kann wie die Nachbarn. Da können schnell Versagensgefühle aufkommen.
Gleichzeitig muss, wer wenig Geld hat, oft auf soziale Aktivitäten verzichten – zum Beispiel auf gemeinsame Skiferien mit Freunden. Dann kommt zur Scham noch das Gefühl dazu, nicht an der Gesellschaft teilhaben zu können.
In der Schweiz schätzt man Selbstverantwortung
Sozialhilfebetrug gilt hierzulande als schlimme Sünde. Beleg dafür sind die gehässigen Beiträge in den Kommentarspalten und der Einsatz von Sozialdetektiven, um mögliche Betrügende zu überführen. Gleichzeitig wird Steuerhinterziehung tendenziell als Kavaliersdelikt angesehen. Dabei geht es in beiden Fällen um das Gleiche: Dem Staat wird Geld vorenthalten respektive weggenommen. Was steckt hinter der unterschiedlichen Wahrnehmung?
«Beim Sozialhilfebetrug geht es um die Erschleichung von unverdienter Leistung», sagt Ökonom Reiner Eichenberger. «Das weckt starke Emotionen, weil Einzelne das Gemeinwesen ausnutzen.» Er erklärt sich die harschere Beurteilung so: «Viele Arten des Sozialhilfebetrugs schwächen die Anreize der Betrügenden, selbst offiziell zu arbeiten. Steuerhinterziehung hingegen macht es für die Hinterziehenden attraktiver, zu arbeiten.»
Sich vor Arbeit zu drücken, wird in einem Land, das Selbstverantwortung hochhält, offensichtlich besonders stark geächtet.
Reichtum fasziniert
Das genaue Beobachten, was in der Welt der Reichen und Schönen passiert, ist vielleicht kein Alleinstellungsmerkmal der Schweizerinnen und Schweizer. Doch speziell ist der Widerspruch, dass über Geld mehrheitlich geschwiegen und dann doch so ungeniert über besonders vermögende Menschen gesprochen wird. Wo sich das bemerkbar macht? Wenn das Wirtschaftsmagazin «Bilanz» einmal im Jahr die 300 reichsten Menschen der Schweiz präsentiert.
Das Interesse ist jeweils gewaltig. Um wie viel haben die Reichsten an Vermögen zugelegt? Wer ist aufgestiegen? Wer abgestiegen?
«Das liegt sicher auch an einer Mischung aus Voyeurismus, Empörung und Neid», sagt Simon Küffer alias Rapper Tommy Vercetti. Er forschte an der Hochschule der Künste in Bern zum Thema Geld. «Aber es geht auch darum, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, wer diese Menschen sind und wie sie sich so viel Vermögen aufbauen konnten.»

Simon Küffer alias Tommy Vercetti forschte zum Thema Geld.
Foto: Adrian Moser
Das «Bilanz»-Rating ist eine der wenigen Momentaufnahmen, in denen die Verhältnisse besonders wohlhabender Frauen, Männer und Familien offengelegt werden. Das könnte zu Missgunst führen. Aber dafür sind die Schweizerinnen und Schweizer mehrheitlich zu zufrieden mit den herrschenden Verhältnissen.
Unterschiede im Wohlstand werden akzeptiert
Ob die Einkommensunterschiede in der Schweiz eher gross oder klein sind, das hängt ganz von der Interpretation der verfügbaren Zahlen ab. Eine objektive Aussage zu machen, ist schwierig. Sicher ist aber: Die Schweiz ist nicht für ihren klassenkämpferischen Impetus bekannt.
Falls sich Unmut in der Bevölkerung breitmacht über soziale Unterschiede, dann werden in aller Regel konkrete Missstände angeprangert wie zu hohe Mieten oder zu hohe Krankenkassenprämien. Auch dieser Pragmatismus ist eine typisch schweizerische Eigenart.
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