1. Das gescheiterte Abschreckungskonzept des Westens
Als Russland im Frühjahr 2021 seinen möglichen Einmarsch in die Ukraine im Rahmen einer Strategie der „coercive diplomacy“ angedroht hatte und Biden und Putin sich im Juni 2021 in Genf zu einem persönlichen Gespräch trafen, hatte der Gipfel zwei wesentliche Ergebnisse.
a) beide Seiten verabredeten ein Arbeitsprogramm zur Kontrolle und Begrenzung strategischer Rüstung.b) Präsident Putin zog einen Großteil seiner Truppen zurück (ließ aber das schwere Gerät vor Ort.)
Als es im Herbst 2021 erneut zum Einrücken der russischen Verbände in die vorbereiteten Stellungen kam und die Präsidenten der USA und Russlands am 7. Dezember 2022, übrigens dem Tag des Amtsantritts von Bundeskanzler Scholz, in einem länger vorbereiteten Telefonat zusammenkamen, hatte der Westen unter Führung der USA das Konzept des Umgangs mit der angedrohten Gewalt seitens Russlands geändert – ob die USA das wirklich abgestimmt hatten mit den Europäern, ist bislang unbekannt. Nun wollte Präsident Biden abschrecken durch die Androhung drakonischer Wirtschaftssanktionen. Das ist misslungen.
Erst nach dem russischen Einmarsch und den unerwarteten Anfangserfolgen der UAF ist er, Hals über Kopf, der Ukraine mit Militärhilfen zur Seite gesprungen, ohne wirklich ein Konzept dafür zu haben, was er damit (realistisch) zu erreichen suchte. Der militärischen Maxime, „beginne niemals einen Kampf, den Du nicht gewinnen kannst“, wurde nicht entsprochen.
2. Anfangs
Führungspersonen auf US-Seite machten in der Folge unterschiedliche Angaben zum Ziel des aufwändigen westlichen Engagements. Am realistischen unter ihnen erschien mir damals, also zeitgenössisch, die Ansage des damaligen US-Verteidigungsministers Lloyd Austin vom 25. April 2022. Ziel sei:
„Russland so sehr geschwächt sehen, dass es nicht mehr in der Lage sein wird, Dinge wie diese zu tun, die es mit der Invasion der Ukraine getan hat.“
Zwei Jahre später haben drei US-Ex-Botschafter mit Mandaten in Kiew und Moskau (John Herbst, Steven Pifer und Alexander Vershbow) dies „völlig unbefangen“, um nicht zu sagen „zynisch“, formuliert, in einem Text, für den sie die Unterstützung von 40 weiteren Diplomaten und Sicherheitsexperten der USA, darunter auch vier Ex-Militärs, gewonnen haben. Da wird die Hilfe der Alliierten für die Ukraine auf zusammen 173 Mrd. $ taxiert (76 Mrd. $ von den USA und 97 Mrd. $ von den Europäern). Dann heißt es zum Ertrag dieser erheblichen Aufwendungen:
“With this aid, Ukraine has destroyed approximately 50 percent of Russia’s conventional military capability, making our assistance a smart and economical investment in our security.”
Nach der Einschätzung dieses hochrangigen Autorenkreises, keine zwei Jahre ist es her, wurde somit vollbracht, was Lloyd Austin als Ziel vor Augen stand.
3. Heute
Heute aber, im Juli 2025, sind wir mit einem massiven Aufrüstungsprogramm der europäischen NATO-Staaten konfrontiert. Es geht um Zusatzaufwendungen im Bereich von zwei bis drei Billionen an Euros, über zehn Jahre gerechnet. Begründet wird die aktuelle Kapazitätsaufwuchsforderung für die NATO-Truppen in Europa mit Russlands massiv gewachsenen bzw. wachsenden militärischen Fähigkeiten. Das besagt, dass Minister Austin mit dem von ihm formulierten Kriegsziel weit jenseits des Realistischen gelegen habe. Wie kann das sein? Können Einschätzungen von Militärs zu Stärkevergleichen und deren Entwicklung so meilenweit auseinanderliegen?
Hat der Krieg in der Ukraine Russland nun massiv geschwächt oder massiv gestärkt?
Die aktuelle Kapazitätsaufwuchsforderung, die hinter dem 3,5%-Ziel des NATO-Gipfels steht, ist wesentlich bestimmt worden vom Stab des USEUCOM-Chefs, langjährig hatte General Christopher Cavoli dieses Amt inne. Deswegen dürfte seine Einschätzung russischer Fähigkeiten die heute faktisch leitende sein. Kundgetan hat er sie in seinem ausführlichen Eingangsstatement aus Anlass einer Anhörung im „Armed Services Committee“ des US Senats am 3. April 2025.
Daraus will ich die Einschätzung zu Russland hervorheben:
„To support Russia’s growing military apparatus, the Kremlin has established economic policies to restructure its financial institutions and defense industry. In September 2024, Russia announced a 25% increase in defense spending, which represents 6.3% of its Gross Domestic Product (GDP). … The Russian economy is on a war footing and will remain so for the foreseeable future.”
Diese Zahlen legen nicht nahe, dass ein Bedarf besteht, in Europa die Rüstungsausgaben um 75% (= 3,5 %/ 2,0%) zu steigern.
4. Warum die Hochrüstung?
Dies bringt mich zu der Vermutung, dass August Pradetto recht hat. Der stellt die naheliegende Frage: Aus welchem Motiv treibt die US-Regierung, die eine militärische Gefahr aus Russland nicht sieht, Europa in einen so abenteuerlich hohen Rüstungsprozess? Seine Antwort lautet:
Die USA bereiten sich vor auf einen militärischen Clash mit China – welches außerhalb des NATO-Bündnisgebietes liegt. Die USA aber werden ihre NATO-Verbündeten in diese Auseinandersetzung, wenn sie denn kommt, an ihrer Seite haben wollen. Das ist ihr natürliches Interesse, und wenn die Aufforderung kommt, werden die europäischen NATO-Staaten sich dem nur entziehen können, wenn sie den Bruch mit den USA meinen riskieren zu können. Eine Absage der Europäer nämlich wäre das Ende der NATO-Mitgliedschaft der USA.
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