Publiziert11. Juli 2025, 11:54

Russland, Nato, Krieg: «Plötzlich wird bewusst, wie sehr wir da bereits verwickelt sind»

Oberst Markus Reisner spricht zum Stand in der Ukraine und warnt: Europa unterschätzt den hybriden Krieg – und wie stark es darin bereits involviert ist.

Ann Guenter

Oberst Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie in Wien umreisst die aktuelle Lage in der Ukraine: Russland hat an der Front die Initiative übernommen und rückt stetig in der Ukraine vor.

Er legt dar, wie stark die Ukraine von westlicher Unterstützung abhängig ist – und wieso ihn die Kritik an den USA nervt.

Reisner warnt, dass Europa den hybriden Krieg unterschätzt und bereits tiefer darin verstrickt ist, als vielen bewusst sei.

Die russische Vollinvasion der Ukraine geht in den vierten Sommer. Die erschöpften ukrainischen Einheiten stehen weiter einer immer grösser werdenden russischen Armee mit bis zu 700’000 Soldaten und deren Waffen und Munition gegenüber. Der Kreml will Kiews Kapitulation. Ein Waffenstillstand interessiert nicht, das scheint nun auch US-Präsident Donald Trump erkannt zu haben.

Im Westen ist die Euphorie verflogen, längst auch die Hoffnung auf ein Ende «David-gegen-Goliath». Kann es noch ernüchternder werden – und was heisst das für die Zukunft? Zeit für ein Gespräch mit Oberst Markus Reisner.

Hat sich in den letzten Monaten etwas Entscheidendes an der Front getan?

Ja. Russland hat seit letztem Sommer die Initiative und das Momentum. Das ist daran messbar, dass die russische Seite langsam, aber stetig vorankommt – im Schnitt zwischen 15 und 20 Quadratkilometern pro Tag. In den letzten beiden Monaten haben die Russen knapp über 1000 Quadratkilometer in Besitz genommen. Das erscheint angesichts der Grösse der Ukraine nicht viel, ist aber eine sich fortsetzende Kontinuität. Die Ukraine muss dieses Momentum brechen, damit sie selbst wieder in die Offensive gehen kann.

Kann ihr das überhaupt gelingen angesichts der Mobilisierungsprobleme und der unbeständigen Waffenlieferungen?

Das hängt vor allem von der Fähigkeit der Ukraine ab, die benötigten Ressourcen aufzubringen. Das beginnt bei der Rekrutierung der Soldaten, setzt sich fort bei deren Ausbildung und Ausstattung und endet im Einsatz an der Front. Ist dieser erfolgreich, bleibt die Ukraine erhalten, ist er das nicht, rückt Russland vor. Das Schicksal der Ukraine liegt dabei auch in amerikanischen und europäischen Händen. Erhält die Ukraine steten Nachschub oder nicht? Ohne Fliegerabwehrmunition zum Beispiel kann sie sich nicht gegen die zunehmend verheerenden Luftangriffe wehren. Erhält sie keine Kampffahrzeuge, kann sie sich nicht beweglich verteidigen oder gar in die Offensive gehen.

«Die Angriffe sind oft spektakulär, doch wir sehen keine messbaren Ergebnisse, trotz aller Unkenrufe aus dem Westen.»

Markus Reisner

Die Ukraine greift auch Russland in der Tiefe an. Spürt das Moskau mittlerweile?

Die Ukraine will damit mehrere Dinge erreichen. Erstens: den Krieg nach Russland zu tragen und für die russische Bevölkerung spürbar zu machen – dass diese «Spezialoperation» auch ihr Leben betrifft. Zweitens: den Russen die wichtigste Grundlage für den Krieg zu nehmen, also die Einnahmen aus der Erdöl- und Gasproduktion. Die Angriffe auf Raffinerien sind oft spektakulär, doch wir sehen noch keine messbaren Ergebnisse – trotz aller Unkenrufe aus dem Westen, wonach die russische Wirtschaft kurz vor dem Kollaps stehen soll. Drittens: Die Ukraine will die russische Rüstungsindustrie mit weitreichenden Drohnenangriffen und Spezialoperationen treffen. Mit der Operation Spiderweb hofften viele auf eine signifikante Verringerung der Luftangriffe. Das ist aber nicht der Fall, weil die zerstörten Bomber nur eine Komponente der strategischen Luftangriffe Russlands sind, die Drohnen mit Marschflugkörpern und ballistischen Raketen kombinieren.

«Ich finde es sehr egoistisch, den USA vorzuwerfen, sie würden Kiew Lieferungen vorenthalten.»

Markus Reisner

Donald Trump will Kiew nun doch wieder Verteidigungswaffen liefern. Ihre Gedanken?

Wir haben meist keine Vorstellung vom herrschenden Bedarf an Hilfslieferungen und Nato-Systemen. Trump hat nun offenbar die Zusage für zehn Patriot-Abfangraketen erteilt. Das reicht nicht einmal aus, um auch nur einen Luftangriff ansatzweise abzuwehren. Tatsächlich beläuft sich die Jahresproduktion der USA auf 600 Stück Patriot-Raketen. Doch mittlerweile können die USA nur noch 25 Prozent des Bedarfs an Fliegerabwehr decken, weil sie an mehrere Kriegsschauplätze gebunden sind und sich die eigenen Bestände leeren. Darum finde ich es sehr egoistisch, den USA vorzuwerfen, sie würden Kiew diese Lieferungen vorenthalten. Aus meiner Sicht lautet die Frage vielmehr: Was tut eigentlich Europa? Im vierten Kriegsjahr weiter nur auf die USA zu zeigen, damit macht man es sich zu einfach.

Und, was tut eigentlich Europa?

Die Europäer schaffen es bisher weder, die eigenen Streitkräfte mit den notwendigen Kapazitäten zu versorgen, noch die Ukraine zu unterstützen. Stattdessen zeigt man auf Trump und klagt, dass die bösen Amerikaner nicht liefern. Dabei müssten auch bei uns enorme Anstrengungen unternommen werden, um Lieferkapazitäten aufzubauen. Doch offensichtlich sind wir nicht bereit, unsere Sicherheits- und Verteidigungspolitik in eigene Hände zu nehmen. Wir verlassen uns lieber weiter auf US-Lieferungen. Dabei müsste spätestens seit Trumps Amtsübernahme klar sein, dass die USA wohl nicht mehr der verlässliche Partner der letzten Jahrzehnte sind.

«Das ist eine Absichtserklärung – wie wenn ein Alkoholiker erklärt, dass er künftig nicht mehr trinken will.»

Markus Reisner

Manche befürchten in den kommenden Jahren einen russischen Angriff. Sie auch?

Sicher ist: Der Zustand der europäischen Streitkräfte und der Nato ist nicht gut. Wir versuchen zwar nachzurüsten, um abschreckungsfähig zu werden. Aber: Das geht viel zu langsam voran. Zuletzt gab es Ankündigungen von Deutschland, dass in den nächsten zehn Jahren 1000 Kampfpanzer und 2500 Kampfschützenpanzer gebaut werden sollen. Das ist eine Absichtserklärung – wie wenn ein Alkoholiker erklärt, dass er künftig nicht mehr trinken will, um das überspitzt zu formulieren. Das heisst, den Ankündigungen müssen rasch konkrete Taten folgen. Gleichzeitig wird Russland der Nato keine Zeit fürs Nachrüsten geben wollen und jahrelang mit einem Angriff warten, bis Europa stärker aufgerüstet hat. Insofern befinden wir uns nicht erst in zehn Jahren in einer gefährlichen Situation. Doch ob, wann und in welcher Form es zu diesem Angriff kommt, lässt sich schwer voraussagen und hängt von vielen Variablen ab, nicht zuletzt vom Verlauf des Ukraine-Kriegs und Russlands Fähigkeit, nachzurüsten.

«Die erste Aussage ist ein Mittel der Informationskriegsführung. Die zweite einfach Realismus.»

Markus Reisner

Oft liest man, Russlands Armee stehe kurz vor dem Zusammenbruch. Gleichzeitig soll Moskau uns irgendwann angreifen. Wie passt das zusammen?

Die erste Aussage ist ein aktives Mittel der Informationskriegsführung, wo es darum geht, den Gegner herunterzumachen und die eigenen Anstrengungen zu erhöhen. Wir sehen ja, die Russen stehen nicht kurz vor dem Zusammenbruch, sondern sie rücken vor. Die andere ist einfach Realismus und das Eingeständnis, dass man jetzt der Bevölkerung erklären muss: Wenn wir jetzt nicht ernsthaft nachrüsten, wird es wirklich gefährlich. Doch der Krieg hat sich verändert, und es passiert sehr viel im Vorfeld. Wir befinden uns bereits im hybriden Krieg, dem Krieg in der Grauzone. Wir tun uns sehr schwer, das einzuordnen.

«Bei solchen Fragen herrscht bei meinen Vorträgen meist betretenes Schweigen. Weil einem bewusst wird, wie sehr wir da bereits verstrickt sind.»

Markus Reisner

Wie meinen Sie das, «schwer einzuordnen»?

Wenn die deutsche Bundesmarine in den letzten Monaten fast drei Schiffe verloren hätte, weil sie in der Ostsee von Torpedos angegriffen wurden, würde man von einer kriegerischen Handlung sprechen. Tatsächlich gab es auf diese Schiffe vereitelte Sabotageversuche in ihren Werften. Wären sie gelungen, wären sie für Monate, wenn nicht sogar Jahre, ausgefallen und in der Ostsee nicht mehr verfügbar gewesen. Wie gehen wir damit um? Ist das ein Akt einer kriegerischen Handlung, vor allem, wenn klar nachgezeichnet werden konnte, dass Russland dahintersteckt? Ist das nicht ein Fall für den Artikel 5 der Nato? Bei solchen Fragen herrscht bei meinen Vorträgen meist betretenes Schweigen. Weil einem plötzlich bewusst wird, wie sehr wir da bereits verstrickt sind. Es ist eine schwierige, verfahrene Lage. Sie ist ernst und wir müssen dies erkennen. Europa muss die richtigen Ableitungen treffen, um eben nicht in einen grossen Krieg zu stolpern. Das muss unbedingt vermieden werden. Es gilt: Abschrecken, um nicht kämpfen zu müssen.

Screenshot Youtube

Seit März 2024 ist Oberst Markus Reisner Leiter des Instituts für Offiziersausbildung an der Theresianischen Militärakademie in Wien. Davor hatte Reisner Einsätze in Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Afghanistan, Tschad, Mali und in der Zentralafrikanischen Republik. Seit Ausbruch des Kriegs gegen die Ukraine ist er zum bekannten militärischen Kriegserklärer geworden.

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