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Die Türkei erlebte am 15. Juli 2016 einen Putschversuch. Nachfolgend gab es einen Kahlschlag in der zweitgrößten Nato-Armee von historischem Ausmaß.

Seit dem Putschversuch 2016 ist das türkische Militär nicht mehr das, was es mal war. Zehntausende wurden aus dem Dienst entlassen, mit verheerenden Folgen. Für die „zweitgrößte Streitmacht innerhalb der Nato“ geht es um die Anzahl an Soldaten.

„Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 entpuppten sich 95 Prozent der Stabsoffiziere als FETÖ-Mitglieder, wir haben sie entlassen, die FETÖ hatte sich hier eingenistet“, wird Generalmajor Orhan Gürdal in der Zeitung Sözcü zitiert. Gürdal ist Personalverantwortlicher der türkischen Streitkräfte. Von den Entlassungen dürfte sich das Nato-Land kaum erholt haben.

Erdogan sieht Gülen-Bewegung hinter Putschversuch

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan macht die Gülen-Bewegung für den Putschversuch verantwortlich und nennt die Bewegung seither FETÖ (Fethullah´sche Terrororganisation). Die entlassenen Offiziere sollen Anhänger der Bewegung um den 2024 im US-Exil verstorbenen Prediger Fethullah Gülen sein. Die meisten der aus dem Militär Entlassenen wurden deswegen verhaftet – wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und Umsturzversuchs.

Recep Tayyip Erdoğan: Der Weg zur Macht des türkischen Präsidenten

Im Jahr 2017 setzte Recep Tayyip Erdogan mithilfe eines Referendums eine Verfassungsänderung durch, bei der es vor allem um die Bündelung der Exekutivbefugnisse ging. Dadurch gewann der türkische Präsident noch mehr Einfluss auf die Justiz. Die Opposition sprach von Wahlbetrug. Auch Untersuchungen von Forschenden legen nahe, dass das Referendum manipuliert wurde.

Fotostrecke ansehenTürkei fehlen seit Putschversuch Kampfpiloten

Auch bei der türkischen Luftwaffe gab es nach 2016 einen Kahlschlag. „Soweit ich es sehen kann, betrug die Zahl der allein über die Dekretslisten bis 2020 entlassenen Piloten mindestens 620, die Zahl der vom Verteidigungsministerium entlassenen Piloten, die nicht in diesen Listen aufgeführt waren, lag bei über 200“, schreibt der ehemlige Oberst der türkischen Luftwaffe, Yüksel Akkale auf X. Darin sind nicht die Piloten erfasst, die nach 2020 entlassen wurde, schreibt der im US-Exil lebende ehemalige Kampfpilot. Erdogan ließ auch den Nachwuchs bei der Luftwaffe entfernen.

„Natürlich wurden nicht nur ausgebildete Piloten entlassen, sondern auch über 900 Flugkadetten, die Pilotenanwärter waren. Auch die Militärluftfahrthochschule Işıklar, eine der hochwertigsten Bildungseinrichtungen in der Türkei, an der über 800 Flugschüler ausgebildet wurden, wurde geschlossen“, so Akkale.

Der Verlust ist groß für die Türkei. Die Luftwaffe habe bis dahin nicht nur ihren Eigenbedarf an Piloten decken können, sondern mit ihren pensionierten oder dienstpflichtigen Piloten auch Piloten für den zivilen Sektor gestellt. Akkale zufolge suche die Türkei deswegen im Ausland nach Piloten. Damit fehlen dem Land, das die Nato-Ostflanke beschützen soll, Führungskräfte bei seiner Luftwaffe. 70 Prozent der Kampfpiloten seien so verloren gegangen.

Neun Jahre nach dem Putschversuch in der Türkei fehlt dem Militär Führungspersonal und Kampfpiloten.

Nach dem Putschversuch 2016 gab es einen Kahlschlag in der zweitgrößten Nato-Armee von historischem Ausmaß. © dpa/Tolga BozogluErdogan-Regierung will Pensionsalter für Generäle auf 72 anheben

Am 3. Juli 2025 diskutierte der Planungs- und Haushaltsausschuss des türkischen Parlaments einen Gesetzesvorschlag zur Änderung des Personalgesetzes der türkischen Streitkräfte, um das gesetzliche Rentenalter für Vier-Sterne-Generäle und Admirale von 65 auf 72 Jahre anzuheben. „Um von ihren Erfahrungen“ zu profitieren, heißt es in dem Gesetzesentwurf von Erdogans Regierungspartei AKP. Bislang war es so, dass nur solche Oberste zum General befördert wurde, die Absolventen von renommierten Militärakademien waren. Diese Stabsoffiziere konnten mindestens eine Fremdsprache und hatten gleichzeitig Masterabschlüsse in zivilen Fachrichtungen. Umso mehr ist es nicht verwunderlich, dass viele der betroffenen Offiziere heute in ihren Exilländern erfolgreich etwa als Ingenieure arbeiten.

Mit dem Putschversuch 2016 setzte Erdogan diesen Militärakademien ein Ende. Stattdessen wurden in der Türkei die Nationalen Verteidigungsuniversitäten eingeführt. Diese scheinen den derzeitigen Personalmangel an hochwertigem Führungspersonal im türkischen Militär nicht ausgleichen zu können. 2021 hat der damalige Verteidigungsminister Hulusİ Akar den bis dahin vorläufigen Kahlschlag in den türkischen Streitkräften beziffert. „Seit 2016 wurden insgesamt 23.364 Verräter aus den Streitkräften entlassen“. 1.997 pensionierte Soldaten seien wieder eingestellt worden.

Türkei: 178 Generäle und Admiräle nach Putschversuch festgenommen

Kurz nach dem Putschversuch gibt gibt es schon eine vorläufige Bilanz zu den Entfernungen in den türkischen Streitkräften. Die Onlineplattform berichtet am 27. Juli 2016 unter Berufung auf den damaligen Innenminister Efkan Ala, dass 10.012 Soldaten festgenommen wurden, 178 von ihnen Generäle und Admirale, 2.727 Offiziere und 7.106 waren Soldaten anderer Ränge. Und die Festnahmen von Militärpersonal halten noch weiter an.

Erdogan nennt Putschversuch in der Türkei „Segen Gottes“

Die Worte von Erdogan unmittelbar nach dem Putschversuch gingen damals um die Welt. „Dieses Aufbegehren ist für uns ein Segen Gottes“, sagte Erdogan vor den Kameras. Erdogan hatte mit dem Putschversuch einen Grund, um die Gülenisten nicht nur aus dem Militär, sondern auch aus dem gesamten Staatsapparat. Über 100.000 Beamte wurde entlassen und viele ins Gefängnis gesteckt. Im Juli 2022 gab das türkische Innenministerium bekannt, dass bislang 332. 884 Personen wegen der Mitgliedschaft in der „Terrororganisation FETÖ“ festgenommen wurden.

Die Massenverhaftungen gehen auch 9 Jahre nach dem Putschversuch weiter und sind zu einer regelrechten Hexenjagd gegen vermeintliche Anhänger der Gülen-Bewegung geworden. „Bei den Operationen, die wir gegen FETÖ in 42 Provinzen durchgeführt haben, wurden 169 Verdächtige gefasst“, verkündet Innenminister Ali Yerlikaya am 30. April auf X. Solche „Antiterror-Operationen“ gibt es in der Türkei praktisch im wöchentlichen Rythmus. (erpe)