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Das türkische Staatsoberhaupt Recep Tayyip Erdogan winkt in die Kamera.

The winner takes it all: Recep Tayyip Erdogan hat als türkischer Präsident das Potenzial, sowohl die Nato als auch den russischen Präsidenten Wladimir Putin auf Linie zu bekommen. Er bemüht sich hartnäckig, die im Ukraine-Krieg verfeindeten Gegner zu einer Einigung zu motivieren. Dann wäre auch die Türkei ein Sieger des Krieges. © IMAGO/Beata Zawrzel

Zwei Todfeinde an einem Tisch und die Türkei mittendrin – wozu wird das führen? Ohne Miteinander kein Frieden, aber Erdogan verfolgt eigene Interessen.

Ankara – „Die Türkei bewegt sich im Ukraine-Krieg auf einem schmalen Grat“, schreibt Alper Coşkun. Seit Beginn der völkerrechtswidrigen Invasion versucht die Türkei, das Zünglein an der Waage zu sein zwischen der Integrität der Ukraine und Wladimir Putins aggressivem Expansionismus. Jetzt leiert der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die nächste Runde direkter Gespräche zwischen den erbitterten Gegnern an. Was soll das bringen?

„Wir werden uns künftig bemühen, diese beiden Staatschefs (Putin und Selenskyj) in Istanbul zusammenzubringen, vielleicht durch ein weiteres Treffen mit Herrn Putin in dieser Woche, und auch mit Herrn Trump“, zitiert die Kommunikationsdirektion der Republik Türkei ihren Staatspräsidenten am 26. Juli. Die Aussage beinhaltet so viel Hoffnung wie sie Hoffnungslosigkeit demonstriert, entsprechend der Berichterstattung des Kiyv Independent: „Erdogans Kommentare folgen der dritten Runde der ukrainisch-russischen Friedensgespräche, die am 23. Juli in Istanbul stattfanden. Sie dauerten weniger als eine Stunde und endeten damit, dass Russland erneut einen vollständigen Waffenstillstand ablehnte“, so Tim Zadorozhnyy.

Erdogans Verhältnis zu Putin: „Weder Freund noch Feind“

Der Autor zitiert Kremlsprecher Dmitri Peskow vom 25. Juli, nach dem ein Gipfeltreffen zwischen Selenskyj und Putin innerhalb der nächsten 30 Tage unwahrscheinlich sei. Laut Peskow müssten zunächst auf Expertenebene die Vereinbarungen erarbeitet werden, die bei einem hochrangigen Treffen formalisiert würden, so Zadorozhnyy. Die Türkei ist bereits länger an einem direkten Austausch zwischen Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj interessiert – was hofft Ankara dadurch zu gewinnen?

„Eine außen vor gelassene Türkei wird zwar kein Verbündeter Russlands, aber sie wird nach ihren eigenen Vorstellungen handeln, bei Bedarf Abkommen mit Moskau schließen und so die westliche Sicherheitsordnung komplizieren.“

Eine Einstellung der Feindseligkeiten in der Ukraine würde das Risiko eines Übergreifens des Konflikts auf das Schwarzmeerbecken verringern und der Türkei eine dringend benötigte Ruhepause von den damit verbundenen Sicherheitsbedenken an ihrer Nordgrenze verschaffen“, schreibt Alper Coşkun für den Thinktank Geopolitical Intelligence Services. Damit nicht genug. Das Verhältnis der Türkei als Nato-Torwächter am Bosporus gegenüber Russland ist ambivalent. „Weder Freund noch Feind“ sei „wohl die treffendste Beschreibung für den Umgang dieser beiden Länder miteinander“, schreibt der ehemalige Diplomat Coşkun. Das gelte auch für das Miteinander am Schwarzen Meer: „Zwar herrscht oberflächlich keine offene Konfrontation, doch das Gefühl der Rivalität und der Wunsch, auf Kosten des anderen die Oberhand zu gewinnen, sind allgegenwärtig.“

Die Türkei betrachte den Ukraine-Konflikt als Testfall für ihre Fähigkeit, unabhängig von Russland und dem Westen zu handeln und gleichzeitig wichtige geopolitische Entscheidungen zu beeinflussen, schreibt Zineb Riboua für den US-Thinktank Hudson Institute. Die Türkei sieht sich als Macht in Vorderasien, als Schlüsselstellung der Nato; als ungeliebter, aber unverzichtbarer Nato-Partner. Die Türkei ringt um ihre Rolle auf dem internationalen Parkett. Der Ukraine-Krieg ist für Staatspräsident Erdogan ein Geschenk des Himmels, um an außenpolitisches Profil zu gewinnen. „Ankaras strategisches Ziel ist seit Jahrhunderten unverändert: die russische Expansion – nicht nur nach Osten, sondern auch nach Süden – einzudämmen, wo sie den türkischen Einflussbereich direkt bedroht“, schreibt Zineb Riboua.

Türkei als Botschafter der Nato: Von einer Reihe sorgfältig kalkulierter strategischer Erwägungen geprägt

Ihr zufolge sei der diplomatische Ansatz der Türkei „von einer Reihe sorgfältig kalkulierter strategischer Erwägungen“ geprägt: „So wie Ankara schon lange versucht, den russischen Einfluss in seiner unmittelbaren Nachbarschaft einzudämmen, betrachtet es die Ukraine als entscheidendes Element in diesem umfassenderen Balanceakt“, so Riboua. Anders ausgedrückt: Für Ankara bedeutet der Ukraine-Krieg einen langen Hebel, um das eigene politische Standing gegenüber Wladimir Putin zu profilieren – möglicherweise ahnt Erdoğan, dass Russland international angeschlagen ist und sieht seine Chance, die eigene politische Position zu erhöhen. Mit seiner Entscheidung, russische S-400-Luftabwehrraketen zu kaufen, weil die USA Patriot-Systeme verweigert hatten, hatte sich Erdogan gegen die USA gestellt. Der Weg zurück scheint für Ankara aber möglich.

„Der Krieg verschaffte der Türkei zusätzlichen Einfluss innerhalb der Nato und der EU, stärkte ihre Verhandlungsposition und drängte die westlichen Verbündeten zu größeren diplomatischen und wirtschaftlichen Zugeständnissen“, schreibt Riboua. Für die Nato ist die Türkei – wenn auch eine wichtige – eine Randerscheinung. Spätestens mit der Schlappe der Schwarzmeerflotte hat der Bosporus möglicherweise seine Bedeutung für die nordatlantische Verteidigungsallianz verloren. Die Musik spielt jetzt im Baltikum.

Die Vermittler-Rolle gibt Erdoğan Gewicht zurück. „Und Erdoğan kann mit seiner und der Rolle seines Landes zufrieden sein. Die Türkei hat sich als Regionalmacht als wichtiger Player auf dem internationalen Parkett platziert“, schreibt Markus Rosch. Der ARD-Korrespondent erinnert an die Erfolge Erdoğan: Getreideabkommen und Gefangenenaustausche. Innenpolitisch aber wird Erdoğan infrage gestellt: wirtschaftliches Desaster und Unerbittlichkeit gegen Oppositionelle sägen an seinem Thron. Außenpolitisch wird die Türkei wegen der innenpolitischen Friktionen fast schon geächtet, „doch die wichtige geopolitische Rolle des Nato-Mitglieds Türkei mit der zweitgrößten Armee im Bündnis hat die internationale Kritik bisher weitgehend in Grenzen gehalten“, so Markus Rosch.

Putin-Selenskyj-Gespräche: Die Türkei verfolgt insofern einen Kurs des absoluten Eigennutzes

Die Türkei verfolgt insofern einen Kurs des absoluten Eigennutzes – der allerdings global durchaus durchschlagen kann. Wenn Recep Tayyip Erdoğan zu einem Ende des Ukraine-Krieges beitragen könnte, wer würde ihm missgönnen, das innenpolitisch zu seinen Gunsten auszuschlachten. „Dieser Krieg hat schwerwiegende regionale und globale Auswirkungen. Neben der humanitären Tragödie – ganze Städte wurden zerstört – stehen wir vor einer Situation, die einen noch größeren Krieg und eine noch größere Spaltung auf der internationalen Bühne ermöglichen könnte“, hat Hakan Fidan gegenüber dem türkischen Fernsehsender NTV geäußert. „Ich glaube, wenn wir so weitermachen, wird sich eine Zwischenlösung herauskristallisieren“, ergänzte der türkische Außenminister.

Von einer „toxischen Beziehung“ zwischen Putin und Erdoğan hat bereits im Dezember 2023 Frank Nordhausen für table.media gesprochen. Der türkische Staatspräsident hat das Potenzial, für Putin der Schlüssel in die westliche Wertegemeinschaft zu bedeuten. „Wenn in der Ukraine Frieden geschaffen werden soll, ist die Rückgabe des besetzten Landes natürlich von entscheidender Bedeutung. Das wird erwartet. Das ist erwünscht. Herr Putin hat entsprechende Schritte unternommen. Wir haben entsprechende Schritte unternommen“, hat Recep Tayyip Erdoğan bereits im ersten Jahr des Ukraine-Krieges gegenüber dem US-Sender PBS geäußert.

Nato muss aufpassen: Türkei als diplomatische Speerspitze der westeuropäischen Wertegemeinschaft

„Sollte Russland einen Teil des Territoriums behalten dürfen, das es der Ukraine seit dem Einmarsch im Februar abgenommen hat? Sollte das Teil einer Lösung für diesen Konflikt sein?“, hat PBS-Reporterin Judy Woodruff den türkischen Präsidenten gefragt. „Nein, und zwar zweifellos nein. Wenn wir von gegenseitigem Abkommen sprechen, meinen wir Folgendes: Wenn in der Ukraine Frieden geschaffen werden soll, ist die Rückgabe des besetzten Landes natürlich von entscheidender Bedeutung. Das wird erwartet. Das ist erwünscht. Herr Putin hat entsprechende Schritte unternommen. Wir haben entsprechende Schritte unternommen. Die besetzten Gebiete werden an die Ukraine zurückgegeben“, hat Erdoğan geantwortet.

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Für die Nato sowie für die EU hat Erdoğan das Zeug, der Stachel im Fleisch von Putins Ambitionen zu werden; möglicherweise ist er der einzige Einflüsterer Putins, die diplomatische Speerspitze der westeuropäischen Wertegemeinschaft, vermutet Zineb Riboua. Ihr zufolge habe der Westen an Erdogan viel zu gewinnen und viel zu verlieren. Erdogan diktiere das Geschehen, urteilt die Analystin. Der Westen hinge von Erdoğan genauso ab wie der Osten – möglicherweise sei Erdogan der einzige westliche Politiker, der überhaupt Zugang zu Wladimir Putin habe, so Riboua. „Eine außen vor gelassene Türkei wird zwar kein Verbündeter Russlands, aber sie wird nach ihren eigenen Vorstellungen handeln, bei Bedarf Abkommen mit Moskau schließen und so die westliche Sicherheitsordnung komplizieren.“