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Estland verstärkt seine Schutzmaßnahmen: In Narwa rüstet man sich für ein Szenario, das die Nato auf die Probe stellen könnte.

Narwa – Sollte der russische Präsident Wladimir Putin einen Angriff auf die Nato planen, könnte Russland mit einer Art Test beginnen, glauben Militärexperten. Etwa indem einzelne Truppen ohne Hoheitsabzeichen nach Estland eindringen, um die Reaktionsfähigkeit der Allianz zu testen. Als mögliches Ziel gilt Narwa an der russischen Grenze – die größte russischsprachige Stadt der EU.

„Kleine grüne Männchen“ als Test? Russland könnte Artikel 5 auf die Probe stellen

Bruno Kahl, der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, warnt seit Langem vor einem solchen Szenario. „In Moskau gibt es Leute, die glauben nicht mehr, dass Artikel 5 der Nato funktioniert. Und sie würden das gerne testen“, so der Geheimdienstchef im Interview mit Table.Briefings. Statt Panzern oder Bombenangriffen könnte Russland die Nato demnach mit „kleinen grünen Männchen“ testen. Damit gemeint: russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen, die in baltische Länder eindringen. Ziel sei es, die Nato zu einer Reaktion zu zwingen: Bündnisfall ja oder nein?

Artikel 5 der Nato

Artikel 5 der Nato beschreibt den sogenannten Bündnisfall. Dieser tritt ein, wenn ein Nato-Mitgliedsstaat angegriffen wird. Ein Angriff gegen einen Mitgliedsstaat wird als Angriff auf alle Mitgliedsstaaten betrachtet. Die anderen Nato-Länder sind dazu verpflichtet, dem angegriffenen Partner alle Unterstützung zukommen zu lassen, die sie als nötig erachten.

In Narwa, der drittgrößten Stadt Estlands, sprechen rund 90 Prozent der Bevölkerung russisch, viele Menschen haben Wurzeln in Russland oder enge Verbindungen mit dem Nachbarland. Ein Vorwand Putins für einen Einmarsch könnte sein, die russischen Minderheiten zu schützen, so Kahl. In Estland verlaufe die „wahrscheinlich gefährlichste Grenze zwischen Russland und dem Westen“, heißt es auch vom Deutschen Bundeswehrverband. In der östlichsten Stadt der EU bereitet man sich entsprechend vor. Für den Notfall gibt es beispielsweise konkrete Evakuierungspläne.

Estland setzt auch auf Freiwillige: Tausende Esten proben den Ernstfall

Der estnische Freiwilligenverband Kaitseliit und die städtischen Rettungskräfte führen zudem regelmäßig gemeinsame Übungen durch, um auf mögliche Krisensituationen vorbereitet zu sein. Tausende freiwillige Männer und Frauen sollen so im Verteidigungsfall zur Verfügung stehen. Selbst für Kinder ab 7 Jahren gibt es in der freiwilligen Verteidigungsorganisation Naiskodukaitse schon Schießtraining, wie Krautreporter berichtet. Estlands Regierung kündigte zuletzt an, auch 600 Bunker und Verteidigungsanlagen entlang der russischen Grenze errichten zu wollen.

Indes bereitet sich auch die Nato vor: Die Anfang April aufgestellte Panzerbrigade 45 mit 4800 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr soll im südlichen Baltikum für Sicherheit sorgen. Die Grenzregion zwischen Polen und Litauen, bekannt als Suwalki-Korridor, gilt als weiteres mögliches Angriffsziel Putins – und Achillesferse der Nato. Am Tapa-Militärstützpunkt sind zudem 1700 Nato-Truppen unter britischer Führung stationiert. Die hätten laut dem Militärexperten Carlo Masala bei einem Überraschungsangriff auf das rund 150 Kilometer entfernte Narwa allerdings kaum Zeit, angemessen zu reagieren.

Auf der anderen Seite des Flusses liegt Russland: Menschen versammeln sich während der Gedenkfeier zum 9. Mai auf der Promenade in der estnischen Stadt Narwa

Auf der anderen Seite des Flusses liegt Russland: Menschen versammeln sich während der Gedenkfeier zum 9. Mai auf der Promenade in der estnischen Stadt Narwa (Archivbild). © IMAGO/Freddy Davies
/ Anadolu AgencyÖstlichste Stadt der EU: Wie Russland an der Nato-Grenze zu Estland provoziert

In letzter Zeit kam es in Narwa immer wieder zu russischen Provokationen. Plötzliches Hochwasser im Fluss Narwa etwa, verursacht durch ein Öffnen der Schleusen eines russischen Wasserkraftwerks flussaufwärts. Nach ersten Erkenntnissen hatte die russische Seite die Verwaltung wohl im Vorfeld informiert – allerdings so spät, dass keine Gegenmaßnahmen mehr möglich waren, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) berichtete.

Für Ärger sorgte auch, als russische Soldaten jüngst jene Bojen aus dem Narwa-Fluss entfernten, die eigentlich die Grenzmarkierung zwischen Estland und Russland kennzeichnen. Die Menschen in der Stadt sind angespannt: „Alle vernünftigen Menschen haben natürlich etwas Angst, aber als Historikerin sage ich: Der Krieg beginnt dort, wo es niemand vermutet“, sagte die Bürgermeisterin des Ortes, Katri Raik, der FAZ. Unlängst verdächtigte Estland sogar Nonnen in einem Kloster im Osten des Landes der Spionage. Das Konvent liegt nur rund 60 Kilometer von Narwa entfernt.

Russland hatte zuletzt auch seine Spionagetätigkeit in nordeuropäischen Gewässern, um Positionen von Gasleitungen sowie Strom- und Internetkabeln zu lokalisieren, wie eine Recherche der Rundfunksender SVT, NRK, DR und Yle 2023 ergab. „Mit dem umfassenden Einsatz hybrider Methoden und Mittel durch Russland steigt auch das Risiko, dass sich irgendwann die Frage eines NATO-Bündnisfalls stellen könnte“, kommentierte Bundesnachrichtendienst-Chef Kahl.

Ukraine-Krieg: Die Ursprünge des Konflikts mit Russland

Proteste auf dem Maidan-Platz in Kiew, Ukraine, 2014

Fotostrecke ansehen„Pro-Vergangenheit“ statt Pro-Putin: Narwas Identität bleibt vielschichtig

Zwar bekennt sich Narwas Stadtverwaltung klar zu Europa. In der Bevölkerung gibt es aber Unterschiede zwischen estnisch- und russischsprachigen Menschen: 89 Prozent der Esten stimmen einer militärischen Unterstützung der Ukraine für eine Niederlage Russlands voll und ganz zu. In Narwa hingegen lehnen 73 Prozent der Befragten Waffenlieferungen an die Ukraine ab, wie es in einer Analyse der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2023 heißt. Doch ganz so einfach ist es nicht, die Stimmung in der Stadt abzubilden, finden die Bewohner.

Das zeigt etwa das Beispiel des 42-jährigen Alexej Iwanow, der estnischer Staatsbürger ist, sich aber im Herzen als Russe bezeichnet. „Trotzdem bin ich loyal gegenüber meinem Land, habe Wehrdienst geleistet und lebe gern hier“, sagt er der FAZ. Gleichzeitig kritisiert er auch einige Entwicklungen in Estland, etwa dass Estnisch nun alleinige Unterrichtssprache ist. Bürgermeisterin Raik fasst die Stimmung so zusammen: „Die meisten Leute hier sind nicht prorussisch, sondern eher pro-Vergangenheit.“

Und dann gibt es auch noch Experten, die nicht daran glauben, dass Putin Narwa überhaupt angreifen will. Marek Kohv vond er estnischen Denkfabrik International Center for Defense and Security (ICDS) in Tallinn, schrieb etwa unlängst in einem Beitrag, der oftmals bemühte Vergleich zur russischen Invasion auf der Halbinsel Krim im Jahr 2014 sei nicht zutreffend, da die Resilienz Estlands heute viel stärker sei. Narwa sei zudem „durch eine sichere Grenze geschützt.“ Kohv meint außerdem, dass Russland militärisch in der Ukraine zu stark gebunden ist und keine Kapazitäten für einen „Zweifrontenkrieg“ habe.