Europa ist erpressbar. Das ist zumindest der Eindruck vieler Beobachter nach dem Zoll-Deal zwischen der EU und den USA. Nicht wenige glauben, die EU habe auch deshalb weitreichende Zugeständnisse gemacht, weil sie fürchtete, Donald Trump könnte den militärischen Schutz zurückfahren, sollten sich die Europäer nicht in der Handelspolitik erkenntlich zeigen. Zweifel am Nato-Beistand schürt der US-Präsident ohnehin seit Langem. Ob im kriegerischen Ernstfall noch auf die USA Verlass ist? Zweifelhaft.

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Zugleich warnen europäische Politiker immer wieder vor einem russischen Angriff auf die Nato. „Russland könnte in fünf Jahren bereit sein, militärische Gewalt gegen die Nato anzuwenden“, sagte etwa Nato-Generalsekretär Mark Rutte vergangenen Juni in Den Haag. „Fünf Jahre.“ Wäre Europa dafür gerüstet, auch ohne die USA?

Wie stark wäre die Nato ohne die USA?

Rein quantitativ bliebe Europa gegenüber Russland auch dann in nahezu allen Bereichen überlegen, wenn sich die USA vollständig zurückzögen. Es hätte immer noch fast doppelt so viele aktive Soldaten und eine größere Zahl an Panzern, Kampfflugzeugen, Kriegsschiffen und U-Booten.

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Dennoch: Die Überlegenheit gegenüber Russland ist mit den Amerikanern um ein Vielfaches höher – mit entsprechender Abschreckungswirkung. Dies gilt umso mehr, weil die USA hochmoderne Waffensysteme besitzen.

Wie sind Europas Armeen aufgestellt?

Unter den europäischen Nato-Staaten stellt die Türkei die zahlenmäßig größte Armee. Bei der Truppenstärke führt sie mit mehr als 350.000 aktiven Soldaten. Zudem hat sie mehr Kampfpanzer als jedes andere Land in Europa, darunter viele moderne Leopard-Modelle. Generell steigt die Zahl der Panzer mit der geografischen Nähe zu Russland. Das gilt vor allem für Polen, ein Land, das historisch besonders schmerzvolle Erfahrungen mit dem russischen Imperialismus machen musste. Die westlichen und südlichen Meeranrainer sind hingegen stärker bei Kriegsschiffen und U-Booten.

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Den wunden Punkt Europas bildet das Baltikum – zugleich der wahrscheinlichste Schauplatz einer russischen Attacke. Estland, Lettland und Litauen sind nicht nur militärisch schwach, sondern auch geografisch isoliert. Ein russischer Vorstoß über den Suwałki-Korridor, einem schmalen Landstreifen zwischen Belarus und Kaliningrad, könnte die drei Länder schnell vom restlichen Nato-Gebiet abschneiden.

Von geostrategischer Bedeutung war daher der Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens. Finnland verfügt dank allgemeiner Wehrpflicht über eine gut ausgebildete Reserve von mehr als 200.000 Soldaten. Schweden steuert moderne Kampfjets bei sowie speziell für die seichte Ostsee ausgerichtete U-Boote, die gegen die russische Baltikum-Flotte vorgehen könnten.

Der Ukraine kommt eine Sonderrolle zu. Auf absehbare Zeit hat sie zwar keine Perspektive auf eine Nato-Mitgliedschaft, aber derzeit bindet sie Russlands Armee. Schätzungsweise eine halbe Million russische Soldaten soll derzeit in der Ukraine stationiert sein.

Eine Schwachstelle der europäischen Armeen bleibt aber die „Interoperabilität“, also das effektive Zusammenwirken der verschiedenen Waffengattungen. So gibt es in Europa 29 verschiedene Typen von Kriegsschiffen, 17 verschiedene Kampfpanzer, 20 verschiedene Kampfjets und 17 verschiedene Artilleriesysteme. Das erschwert die operative Koordination.

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Hinzu kommen die unterschiedlichen Interessen der 30 europäischen Nato-Länder. So ist keineswegs klar, ob etwa die so starke Türkei ihre Streitkräfte gegen Russland einsetzen würde. Die Sanktionen im Zuge des Ukraine-Krieges trägt Ankara nicht mit. Im Gegenteil, ihre Importe aus Russland hat die Türkei seit 2022 verdoppelt, zudem bezieht sie einen Großteil ihres Erdgases von dort.

Kann Europa alleine mit Russlands Aufrüstung mithalten?

Von der wirtschaftlichen Leistungskraft her bliebe Europa gegenüber Russland auch ohne die USA klar überlegen. Nach Zahlen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri lagen die Verteidigungsausgaben der europäischen Nato-Staaten im Jahr 2024 gut dreimal so hoch wie die Russlands. Mit den Amerikanern zusammen war es allerdings fast das Zehnfache.

Anders sieht es aus, wenn man die Verteidigungsausgaben an der Kaufkraft bemisst. In wirtschaftlich schwächeren Ländern wie Russland sind Rüstungsgüter nämlich vergleichsweise billiger – für weniger Geld bekommt man mehr Waffen. Diesen Effekt hat das Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS) ausgerechnet. Das Ergebnis: An der Kaufkraft bemessen hat Russland im Jahr 2024 alle europäischen Nato-Staaten im Hinblick auf die Rüstungsproduktion überholt. Um diesen Vorsprung aufzuholen, müsste Europa seine Anstrengungen verfünffachen, wie jüngst eine Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) errechnet hat.

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Braucht Europa den amerikanischen Nuklearschirm?

Atomare Abschreckung basiert auf gedachten Kriegen. Es ist die Fantasie des „Was wäre wenn“, die Aggressoren von einem atomaren Erstschlag abhalten soll. Der frühere US-Verteidigungsminister Robert McNamara hat die Logik der Abschreckung bereits im Jahr 1968, in der Hochphase des Kalten Krieges, auf den Punkt gebracht: „Wir müssen in der Lage sein, das volle Gewicht eines nuklearen Angriffs auf unser Land zu absorbieren […] und immer noch in der Lage sein, dem Aggressor so weit zu schaden, dass seine Gesellschaft nach allen Maßstäben des 20. Jahrhunderts nicht mehr lebensfähig ist.“ Nukleare Abschreckung bedeute „die Sicherheit des Selbstmords für den Aggressor.“

Dazu ist die sogenannte „Zweitschlagfähigkeit“ entscheidend. Um Russland abzuschrecken, müssten die Europäer glaubhaft machen können, einen atomaren Angriff ihrerseits atomar vergelten zu können. Dass sie dies ohne die USA könnten, erscheint schon beim Blick auf die Zahl der strategischen Atomsprengköpfe zweifelhaft. Mehr als 1700 davon hält Russland in dauernder Einsatzbereitschaft, weitere rund 2600 befinden sich in Depots.

Das Arsenal der beiden europäischen Nuklearmächte Großbritannien und Frankreich nimmt sich dagegen winzig aus – selbst wenn man in Rechnung stellt, dass bereits eine einzige dieser Bomben eine Großstadt wie Moskau dem Erdboden gleichmachen könnte.

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Die Zweitschlagfähigkeit der Europäer wird aber noch durch einen weiteren Aspekt beeinträchtigt: das Fehlen von Trägersystemen. Es genügt nicht, Atombomben zu besitzen, sie müssen auch ins Ziel gebracht werden können. Vollwertige Atommächte definieren sich daher über die sogenannte „nukleare Triade“: den Dreiklang aus Interkontinentalraketen, Bomberflugzeugen und nuklear bestückten U-Booten, die selbst dann noch zurückschießen können, wenn das Landterritorium verwüstet ist.

Weder Frankreich noch Großbritannien verfügen über die volle Triade. Großbritannien besitzt lediglich vier U-Boote. Frankreich hat mit seinen Rafale B immerhin noch Flugzeuge, die nuklear bestückt werden könnten. Landgestützte Raketensysteme gibt es in beiden Ländern nicht.

Hinzu kommt das Problem der Glaubwürdigkeit. Würden Frankreich oder Großbritannien für das Baltikum in die Bresche springen und ihre eigene Existenz in einem Nuklearkrieg mit Russland riskieren? Oder könnten sie auch nur glaubwürdig drohen, dass sie das tun würden? Für eine wirksame Abschreckung sind solche Fragen essenziell. Sie stellten sich auch bei den USA schon immer. Unter Trump sind die Antworten offener denn je.