Jüdische Führungspersönlichkeiten warnen vor zunehmender Gewalt und Hass auf dem gesamten Kontinent, während die offizielle Rhetorik über den Konflikt im Gazastreifen eine neue Welle des Antisemitismus schürt.

Achtzig Jahre nach dem Holocaust werden Juden erneut auf europäischem Boden angegriffen und jeden Tag gibt es noch beunruhigendere Schlagzeilen aus Ländern auf dem gesamten Kontinent. Führende Persönlichkeiten im Kampf gegen Antisemitismus warnen, dass die Bedrohung zunimmt, da Regierungen, die sich für die palästinensische Sache einsetzen, den Hass effektiv schüren.

Am Dienstag tat es Großbritannien seinem Nachbarn Frankreich gleich und kündigte seine Absicht an, einseitig einen palästinensischen Staat anzuerkennen – ein Schritt, der von Israel und den Vereinigten Staaten als Belohnung für die Terrororganisation Hamas verurteilt wurde, die am 7. Oktober 2023 einen Terrorüberfall auf Israel angeführt hatte, bei dem 1.200 Menschen getötet und 251 in den Gazastreifen entführt wurden.

Wenige Tage zuvor wurden ein sichtbar jüdischer Franzose und sein sechsjähriger Sohn in der Nähe von Mailand von einem pro-palästinensischen Mob verbal bedroht und körperlich angegriffen – ein Fall, der den beunruhigenden Trend verdeutlicht, Juden wegen vermeintlicher Handlungen Israels zu attackieren.

Der Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner und ehemalige Oberrabbiner von Moskau, Pinchas Goldschmidt, verurteilte den Vorfall als barbarischen Akt und forderte die italienischen Behörden auf, ihn als Hassverbrechen zu behandeln und die Täter vor Gericht zu stellen.

Der Vorstand von B’nai B’rith International Daniel Mariaschin ist der Ansicht, dass Maßnahmen wie die Anerkennung eines palästinensischen Staates durch Frankreich und Großbritannien oder die irreführende Darstellung der humanitären Bemühungen im Gazastreifen dazu beitragen, den derzeitigen Anstieg des Antisemitismus weiter zu verstärken und zu legitimieren. Diese Entwicklungen, sagte er in einem Telefoninterview aus Washington, wirken als Katalysatoren, welche die wachsende Welle antijüdischer Stimmung und Verhaltensweisen anheizen und fördern. »Die roten Linien werden eindeutig überschritten«, erklärte Mariaschin.

Normen verschieben sich

Zu den jüngsten Vorfällen in Europa zählen Attacken auf israelische Teenager in Rhodos durch pro-palästinensische Angreifer, der Rauswurf eines israelischen Musikers und seiner Kollegen aus einem Wiener Restaurant, weil sie Hebräisch sprachen, die Entfernung von mehr als fünfzig französischen jüdischen Jugendlichen aus einem Flugzeug in Valencia, weil sie auf Hebräisch ein Lied sangen, die Absage des Auftritts eines israelischen DJ in Belgien und die Streichung von Shows zweier britischer jüdischer Comedians vom Edinburgh Fringe Festival.

Als Reaktion auf die wachsende Besorgnis über Antisemitismus in Europa stellte die Geschäftsführerin des American Jewish Committee Europe, Simone Rodan-Benzaquen, eine irritierende Veränderung in der Ausbreitung von Ausgrenzungspraktiken fest. »Heute wird die Logik der Ausgrenzung von innen heraus normalisiert – nicht von Randgruppen, sondern von Angestellten, Verwaltungsmitarbeitern, Studenten, Restaurantbesitzern, Hotelangestellten und Künstlern …, die sich nicht mehr als Normverletzer betrachten, sondern als Verteidiger der Normen.«

Sie betonte ferner, dass Antisemitismus zunehmend in alltäglichen Interaktionen zum Ausdruck komme und wies darauf hin, dass sich »der Antisemitismus in ganz gewöhnlichen Ablehnungen manifestiert: Verweigerung von Dienstleistungen in einem Restaurant, Verwehrung des Zutritts zu einer Veranstaltungsstätte, Streichung eines Namens aus einem Programm. Das sind keine Zufälle.« Laut Rodan-Benzaquen stellt dieser Wandel eine erhebliche Herausforderung dar, da zuvor randständige Verhaltensweisen in die Mainstream-Gesellschaft vordringen und neu definieren, was als sozial akzeptabel gilt.

»Die Situation verschlechtert sich von Tag zu Tag dramatisch. Ich denke, was wir gerade erleben, ähnelt der Zeit der Kosaken im damaligen Russland und der Ukraine: Es gibt Gruppen von Menschen, die sehr aggressiv gegenüber Juden sind und die Juden müssen die Behörden anflehen, dies unter Krontrolle zu bringen, während die Behörden sich nicht zu hundert Prozent dafür einsetzen«, sagte Rabbi Menachem Margolin, Vorsitzender und Gründer der European Jewish Association (EJA).

»Jedes Mal, wenn Israel als Schuldiger und die Palästinenser als Opfer dargestellt werden, verschärfen sich die Spannungen und die Übergriffe und Anschuldigungen gegen Juden in Europa. Als Jude ist es auf vielen Straßen Europas nicht mehr sicher, sich frei zu bewegen. Wir leben in einer sehr gefährlichen Zeit«, erklärte Margplin gegenüber Jewish News Syndicate am Telefon aus Brüssel.

Er schloss sich Mariaschins Aussage an, dass die Rhetorik und die politischen Entscheidungen der europäischen Hauptstädte, die Israel einseitig verurteilen, die Feindseligkeit gegenüber Juden auf den Straßen nur noch verstärken. »In Ländern, in denen die Politiker Israel lautstark kritisieren, sehen wir viel mehr Angriffe« erklärte Margolin und betonte, dass die öffentliche Meinung oft dem Beispiel der Politiker folgt. »Die Menschen beziehen ihre Unterstützung von ihren Führern«, sagte er und wies auf eine beunruhigende Doppelmoral hin: »Es gibt andere Probleme in der Welt, zu denen diese Leute nichts sagen, aber wenn es um Israel geht, ist die Kritik wirklich sehr laut; das trägt sicherlich zum Anstieg des Antisemitismus bei. Diese Heuchelei muss aufhören.«

Antiisraelische Rhetorik

Der Judenhass in Europa war bereits vor dem Angriff vom 7. Oktober 2023 und dem dadurch ausgelösten Krieg im Gazastreifen, der zu einer Explosion des Antisemitismus weltweit führte, auf einem hohen Niveau. Eine am 11. Juli 2024 veröffentlichte Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte ergab, dass 96 Prozent der jüdischen Befragten in dreizehn europäischen Ländern im Jahr vor dem Juni 2023 antisemitischen Vorfällen ausgesetzt waren, wobei über siebzig Prozent gelegentlich ihre Identität versteckten und die Hälfte sich um ihre Sicherheit oder die ihrer Familien sorgte. Die Ergebnisse zeigen, dass die meisten antisemitischen Vorfälle aus Furcht, dass »nichts passieren oder sich ändern wird«, nicht gemeldet werden, während die Zufriedenheit mit den offiziellen Reaktionen gering ist.

In einem Telefoninterview aus Los Angeles versuchte der stellvertretende Dekan des Simon-Wiesenthal-Zentrums Rabbi Abraham Cooper den aktuellen Anstieg des Antisemitismus in einen historischen Kontext zu stellen. »Eine bittere Lektion, die uns die Nazis gelehrt haben, ist, dass es für Judenhasser keine Rolle spielte, was für ein Jude man war – man war der Feind und musste vernichtet werden.« Der Rabbiner stellte die Entwicklung der antijüdischen Rhetorik von der Nazizeit bis zum Kalten Krieg dar und wies darauf hin, dass »nach dem Zweiten Weltkrieg die Sowjets die Haupttriebkraft des Antizionismus waren. Sie verwendeten sogar Nazi-Propagandatechniken wieder, wobei sie lediglich die Bezeichnungen von ›Juden‹ auf ›Zionisten‹ oder ›Israelis‹ änderten.«

Cooper beschrieb, wie diese Narrative überdauerten und sich im Laufe der Zeit wandelten und stellte fest, dass »die antizionistischen Bestrebungen nach der Shoah weiterlebten und 1975 mit Aussagen wie ›Zionismus ist Rassismus‹ wiederbelebt wurden«. Die von der Hamas angeführten Angriffe vom 7. Oktober habe nun jede Tradition der Differenzierung zwischen israelischer Politik und jüdischer Identität ausgelöscht. »Der 7. Oktober hat jede Unterscheidung ausgelöscht. Der Hamas war es egal, ob ihre Opfer säkular oder religiös, links oder rechts waren.«

Copper brachte das derzeit verschärfte antisemitische Klima mit neuen technologischen Entwicklungen in Verbindung, wonach »sich Desinformation durch soziale Medien und künstliche Intelligenz schnell verbreitet«. Er führte ein aktuelles Beispiel an, bei dem das Bild eines behinderten palästinensischen Kindes für die Propaganda »über den Hunger in Gaza« falsch dargestellt wurde, um Israel zu dämonisieren. Cooper hob die »jahrzehntelange antiisraelische Rhetorik in den Medien« hervor und wies auf die tiefsitzende Schuld Europas am Holocaust hin, die paradoxerweise in Anschuldigungen gegen die Juden von heute verdreht werde. »Israel als ›Nazis‹ zu bezeichnen, dient der Vergeltung und Wiedergutmachung und schafft eine falsche moralische Gleichsetzung.«

Was den aktuellen Moment so besonders mache, ist die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Verbreitung der Botschaften, die durch externe Akteure noch verstärkt werden: »Was gerade anders ist, ist, wie schnell und effektiv diese Botschaften verbreitet werden, dank umfangreicher finanzieller Unterstützung, insbesondere aus dem Iran und Katar, und der Koordination durch Gruppen wie der Hamas.« Cooper beschrieb, wie Kampagnen wie die Israelboykott-Bewegung BDS die Stimmung von der Kritik an der israelischen Politik hin zur »Dämonisierung aller Juden und der israelischen Kultur sowie aller, die mit Israel Geschäfte machen«, verschoben haben.

Abschließend stellte Cooper fest, dass »die Debatte über eine Zwei-Staaten-Lösung vorbei ist; jetzt geht es um die totale Delegitimierung« des jüdischen Staates: Sogar manche »pro-palästinensische Journalisten [waren] von der Heftigkeit der Angriffe« auf Juden nach den Ereignissen vom 7. Oktober schockiert.

Kampf gegen die Entwicklung

Die European Jewish Association verfolgt einen mehrgleisigen Ansatz, um den zunehmenden Antisemitismus in ganz Europa zu bekämpfen. »Innerhalb der Gemeinden bieten wir Schulungen und Unterstützung für Gemeindevorsteher an, sowohl für Präsidenten jüdischer Gemeinden als auch für Rabbiner«, erklärte deren Vorsitzender Rabbi Menachem Margolin.

Zu den jüngsten Initiativen gehören Konferenzen und Seminare, um Führungskräfte auf öffentliche Herausforderungen, den Umgang mit den Medien und die direkte Kommunikation mit Behörden vorzubereiten. »Erst letzte Woche hatten wir eine Konferenz und ein Seminar für Gemeindevorsteher darüber, wie man mit dieser Situation in der Öffentlichkeit umgeht, wie man mit Behörden und Medien kommuniziert. Wir hatten auch eine Krav-Maga-Schulung für Rabbiner«, sagte er und betonte, dass sowohl Advocacy-Fähigkeiten als auch die persönliche Sicherheit im Vordergrund stehen.

Auf politischer Ebene arbeitet die EJA unermüdlich daran, Regierungen einzubeziehen und das Bewusstsein auf höchster Ebene zu schärfen. »Wir haben Mitarbeiter in verschiedenen Ländern Europas und arbeiten mit Regierungen und Behörden auf dem gesamten Kontinent zusammen, um ihnen die Situation zu erklären. Viele von ihnen sind sich dessen nicht bewusst. Wir sensibilisieren sie und versuchen, sie zu den richtigen Schritten zu bewegen«, betonte Margolin.

Obwohl die Organisation erfolgreich Politiker für ihre Sache gewinnen und deren Engagement verstärken konnte, bleibt er sich der Herausforderung bewusst: »Solange Juden in Europa nicht sicher sind, können wir nicht sagen, dass wir unsere Ziele erreicht haben.«

Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate und in deutscher Übersetzung von Alexander Gruber bei Mena-Watch.)