„Nach reiflicher Überlegung stehe ich für die Wahl als Richterin des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr zur Verfügung“, erklärte die Potsdamer Jusprofessorin laut einer Kanzlei, die sie vertritt. „Mir wurde aus der CDU/CSU-Fraktion – öffentlich und nicht öffentlich – in den letzten Wochen und Tagen sehr deutlich signalisiert, dass meine Wahl ausgeschlossen ist. Teile der CDU/CSU-Fraktion lehnen meine Wahl kategorisch ab.“

Auch drohe ein „Aufschnüren des ‚Gesamtpakets‘“ für die Richterwahl. Das gefährde die beiden anderen Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht, „die ich schützen möchte“, hieß es weiter. Es müsse verhindert werden, dass sich der Koalitionsstreit wegen der Richterwahl zuspitze „und eine Entwicklung in Gang gesetzt wird, deren Auswirkungen auf die Demokratie nicht absehbar sind“.

Rückzieher der Union bei Abstimmung

Die Wahl von Brosius-Gersdorf und zwei weiteren Nominierten für das höchste deutsche Gericht war im Juli im Bundestag kurzfristig abgesetzt worden. Teile der Unionsfraktion hatten Vorbehalte gegen die von der SPD nominierte Brosius-Gersdorf. Als Grund wurden unter anderem Äußerungen zum Schwangerschaftsabbruch und zu einer möglichen Impfpflicht in Coronavirus-Zeiten angeführt.

Brosius-Gersdorf hatte zunächst an ihrer Nominierung festgehalten. Sie hatte in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ aber auch erklärt, sie würde verzichten, falls dem Gericht in der Debatte Schaden drohen sollte. „Das ist ein Schaden, den kann ich gar nicht verantworten.“ Das Verfassungsgericht müsse in Ruhe arbeiten können und funktionsfähig bleiben.

Markus Lanz mit  Frauke Brosius-Gersdorf im TV-Studio

IMAGO/teutopress Gmbh

Brosius-Gersdorf deutete bei „Markus Lanz“ schon einen Verzicht an

Vorwürfe zurückgewiesen

Die Jusprofessorin betonte damals: „Ich möchte auch nicht verantwortlich sein für eine Regierungskrise in diesem Land, weil wir nicht wissen, was dann hinterher passiert. Das sind alles Aspekte, die nehme ich unheimlich ernst und die bedenke ich.“

In Stellungnahmen hatte die Juristin die gegen sie erhobenen Vorwürfe deutlich zurückgewiesen. „Die Bezeichnung meiner Person als ‚ultralinks‘ oder ‚linksradikal‘ ist diffamierend und realitätsfern“, hieß es darin. In manchen Medien sei zudem falsch über ihre Position zum Schwangerschaftsabbruch berichtet worden.

In der Debatte, die laut „Süddeutscher Zeitung“ auch maßgeblich von der ultrakonservativen spanischen NGO CitizenGo befeuert wurde, hatte sich sogar der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz hinter sie gestellt.

Im ZDF betonte Brosius-Gersdorf: „Ich vertrete absolut gemäßigte Positionen aus der Mitte unserer Gesellschaft.“ Das könne jeder nachlesen. Brosius-Gersdorf hatte auch berichtet, sie habe Drohungen und verdächtige Poststücke erhalten.

CDU-Abgeordnete mit AfD-Sympathien als Speerspitze

Als Speerspitze der Kritik agierte die CDU-Bundestagsabgeordnete Saskia Ludwig, die auch von angeblichen Plagiatsvorwürfe gegen Brosius-Gersdorf berichtete. Kurz darauf wurde aber bekannt, dass die Universität Potsdam einen Anfangsverdacht für ein Plagiat bei ihrer eigenen Promotion untersucht. Ludwig zeigt auch keine Berührungsängste zur AfD. Zuletzt ging die Unionsfraktion im Bundestag auf Distanz zu ihrer Abgeordneten, nachdem sich diese in Ungarn bei einem Treffen mit AfD-Chefin Alice Weidel gezeigt hatte.

SPD beklagt sich über Union

SPD-Fraktionschef Matthias Miersch machte nun den Koalitionspartner Union für den Rückzug verantwortlich: „Nicht einmal ein persönliches Gespräch mit der Kandidatin wurde von der Unionsfraktion ermöglicht“, sagte Miersch. „Auch das hinterlässt Spuren.“ Die SPD werde „einen neuen Vorschlag für eine geeignete Besetzung unterbreiten, weiterhin mit klarer Orientierung an fachlicher Exzellenz“.

Vizekanzler und SPD-Kochef Lars Klingbeil erklärte, was Brosius-Gersdorf „in den letzten Wochen an Anfeindungen erleben musste, ist in keiner Weise akzeptabel“. Ohne die Union zu erwähnen, mahnte Klingbeil: „Diejenigen, die am Ende nicht zu ihrem Wort innerhalb der Koalition gestanden haben, müssen dringend aufarbeiten, was da passiert ist. So ein Vorfall darf sich nicht wiederholen.“

Spahn selbstkritisch

Unionsfraktionschef Jens Spahn, der für das Dilemma ebenfalls im Mittelpunkt der Kritik stand, will nun mit der SPD gemeinsame Lösungen finden. Spahn zollte gegenüber der dpa Brosius-Gersdorf für ihre Entscheidung „ größten Respekt. Er lobte „ihre juristische Expertise und persönliche Integrität“, die zuvor von seinen Fraktionskollegen infrage gestellt worden waren. Und er verurteilte die „herabsetzende und beleidigende Kritik“ an ihr.

Grüne entgeistert

Die Grünen-Fraktion reagierte entgeistert auf den Rückzug, Die beiden Fraktionschefinnen Katharina Dröge und Britta Haßelmann zweifelten die Handlungsfähigkeit der schwarz-roten Koalition an. „Es bleibt ein ungeheuerlicher Vorgang, den es so noch nicht gegeben hat“, erklärten die beiden Grünen-Politikerinnen. Die Verantwortung dafür trage insbesondere Spahn: Er habe sein Wort gegeben und es nicht gehalten.

Die Linke sieht ein fatales Signal. „Es ist kein gutes Zeichen für den Zustand unserer Demokratie, dass die rechte Hetzkampagne schlussendlich Erfolg hatte“, erklärte die Linken-Innenpolitikerin Clara Bünger.

Schlechtes Signal für weitere Zusammenarbeit

Für die erst im Mai angetretene deutsche Regierung ist die Richterwahl nicht die erste Schlappe: Schon seit Beginn werden in den beiden Parteien Durchhalteparolen durchgegeben, die man eher vom Ende solcher politischer Zweckbündnisse kennt. Beobachter in deutschen Medien verweisen vor allem auf den erneuten Vertrauensverlust zwischen den Koalitionsparteien, der nun notwendige Kompromisse noch schwieriger mache.

Schlechte Umfragewerte

Das spiegelt sich auch in aktuellen Umfragewerten wider: Nach dem neuen ARD-Deutschlandtrend ist die Zustimmung der Bürger zur schwarz-roten Koalition auf einen Tiefpunkt gesunken.

Demzufolge sind aktuell nur noch 29 Prozent der Befragten zufrieden mit der Arbeit der Regierung (minus zehn Prozentpunkte im Vergleich zum Vormonat). Mehr als zwei Drittel (69 Prozent) sind mit der Arbeit von Union und SPD weniger beziehungsweise gar nicht zufrieden.

Zugleich büßt auch Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) stark an Vertrauen ein: Aktuell sind der Umfrage von Infratest dimap zufolge nur noch 32 Prozent mit seiner Arbeit einverstanden (minus zehn). Zwei Drittel (65 Prozent) sind das nicht.