Die Ankündigung Netanjahus, die Kämpfe in Gaza ausweiten zu wollen, polarisiert Israel. Während Angehörige der Geiseln vor einem Fehler warnen, halten andere den Schritt für überfällig. Ebenso gespalten blickt das Land auf Deutschlands Kurswechsel bei den Waffenlieferungen.
In einem israelischen Hafen – der genaue Ort bleibt aus Sicherheitsgründen geheim – liegt das Marineschiff Nitzachon vor Anker. Übersetzt ins Deutsche bedeutet Nitzachon „Sieg“. Die 92 Meter lange Korvette, von ThyssenKrupp entworfen und in Kiel gebaut, gehört zur Saʿar-6-Klasse, von der Israel vier Exemplare in Deutschland bestellt hat. Die Bundesrepublik genehmigte den Export. Während der Schiffskörper aus Deutschland stammt, wurden vor Ort israelische Waffensysteme installiert.
Captain Y., Chefingenieur und Ausführender Offizier, gerät ins Schwärmen, wenn er über die militärischen Fähigkeiten spricht: „Dieses Schiff leistet einen wichtigen Beitrag zu Israels defensiven und offensiven Operationen. Das betrifft sowohl die Luftverteidigung, etwa beim Abschuss von Drohnen, als auch Offensivoperationen am Boden, die durch die Feuerkraft der Korvette unterstützt werden.“
Nur wenige Wochen nach dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober 2023 stach das Schiff mit Platz für bis zu 100 Soldaten und einem Hubschrauberlandeplatz erstmals in See – und spielte sofort eine wichtige Rolle bei den Kämpfen in Gaza. „Vom Wasser aus haben wir unseren vorrückenden Bodentruppen Feuerschutz gegeben, damit sie sich ihren Weg bahnen konnten, um die Geiseln zu finden“, berichtet Captain Y.
Deutschland will vorerst keine Angriffswaffen mehr liefern, die in Gaza eingesetzt werden könnten. Dennoch könnten die Nitzachon und ihre drei Schwesterschiffe zum Einsatz kommen, sobald Israel seinen erweiterten Angriffsplan in Gaza umsetzt – unabhängig davon, ob Berlin zustimmt. „Wir sind für jede Mission, die auf uns zukommt, vorbereitet. In erster Linie, um zu verteidigen. Aber darüber hinaus auch für alles andere“, sagt der Taktische Offizier Lieutenant B. Die Soldaten sind bereit – das ist ihr Auftrag.
Doch nicht in allen Teilen der israelischen Gesellschaft ist das so. Auf dem sogenannten Platz der Geiseln in Tel Aviv versammeln sich an diesem Samstag Tausende Menschen. Der Ort dient den Geiselfamilien seit Monaten als Treffpunkt, an dem sie regelmäßig für die Freilassung ihrer verschleppten Angehörigen demonstrieren.
Nach einer Phase, in der zunächst weniger Teilnehmer an den Kundgebungen teilgenommen hatten, ist die Menge nun – kurz nach einer Sitzung des Sicherheitskabinetts – wieder groß. Dieses hatte am Freitag beschlossen, seine Militäroperationen in Gaza auszuweiten und auch Gaza-Stadt einzunehmen. Beschlossen wurde unter anderem das Ziel der militärischen Kontrolle des Küstengebiets durch Israel, die Rückkehr aller Geiseln, die Entmilitarisierung des Gaza-Streifens und die Entwaffnung der islamistischen Hamas. Anschließend solle dort eine Zivilregierung aufgebaut werden.
„Die Entscheidung könnte die Geiseln töten“
Angehörige der 50 noch immer in Gaza festgehaltenen Geiseln sitzen an diesem Wochenende als Teil der „Installation des Hungers“ an einer langen, weiß gedeckten Tafel, essen Bohnen aus Konserven und Pita-Brote. Die Menge erinnert, umringt von Journalisten, an ein Propagandavideo der Hamas, in dem der 24-jährige Evyatar David abgemagert in einem Tunnel sein eigenes Grab schaufeln musste.
Abseits der Proteste trifft WELT Efrat Machikawa. Die 57-Jährige ist die Nichte von Gadi Moses, der von der Hamas entführt und im Januar nach 482 Tagen mittels eines Deals freigelassen wurde. Sie engagiert sich weiter für die Angehörigen der verbliebenen sieben Geiseln mit deutschem Pass. Die Kriegspläne von Premierminister Benjamin Netanjahu nennt sie „furchtbar“: „Uns ist klar, dass Krieg und Rache nicht der Weg sind, um unsere Liebsten zurückzuholen. Und die Entscheidung, den Krieg zu verlängern, könnte die Geiseln verletzen, könnte sie töten.“
Am Abend ziehen über 10.000 Menschen durch die Straßen Tel Avivs. Auf Plakaten stehen Slogans wie „Bibi treibt uns in den Massenselbstmord“ oder „Entschuldigt euch nicht – beendet es“. Für Sonntag ist ein Generalstreik angekündigt.
Vom Geschehen in Tel Aviv erfährt Uri Jeremias nur aus den Nachrichten. Der 81-Jährige mit Glatze und weißem Rauschebart lebt in Akko im Norden Israels. Unter dem Spitznamen „Uri Buri“ betreibt er seit 1988 ein bekanntes Fischrestaurant, inzwischen ergänzt durch ein Hotel. In seinen Betrieben arbeiten Juden, Araber und Christen eng zusammen – im Israel des Jahres 2025 keine Selbstverständlichkeit.
Jeremias unterscheidet nicht zwischen Juden und Arabern, wohl aber zwischen Zivilisten und Terroristen: „Wenn die Hamas die Geiseln nach Hause geschickt hätte, dann hätte die sogenannte Weltöffentlichkeit einen Punkt gehabt. Dann hätten sich alle Seiten zusammengesetzt und versucht, Gespräche zu führen, die eine bessere Zeit garantieren.“ Heute jedoch höre er nur noch, Israel müsse das Feuer einstellen.
Einen Waffenstillstand, bei dem die Hamas überlebt, hält er für illusorisch: „Der Weg, den Krieg zu beenden, ist nicht, Israel Steine in den Weg zu legen, sondern eine Lösung zu finden, die langfristig ist. Und nicht, dass wir morgen wieder in derselben Situation sind und diese ganze Hölle von Neuem beginnt.“ Dass Deutschland nun keine Angriffswaffen mehr liefert, bewertet er als schweren Fehler: „Ich glaube, dass wir ohne jede Not einen großen Freund verlieren könnten.“
Forderungen an Deutschland
Etwa zweieinhalb Stunden Autofahrt entfernt verfolgt Abt Nikodemus Schnabel die Kriegsausweitung von Jerusalem aus mit Sorge. Der 46-jährige Stuttgarter lebt seit über 20 Jahren als Mönch in Israel, leitet die Dormitio-Abtei in Jerusalem und ein Kloster im nordisraelischen Tabgha. Sein Blick ist stark von der kirchlichen Perspektive geprägt.
Neben dem Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung sorgt ihn besonders das Schicksal der bis zu 700 Christen im Viertel Zeitoun in Gaza-Stadt, die zwischen zwei Kirchen leben. Schnabel war vor dem Krieg mehrmals vor Ort und ist mit dem katholischen Pfarrer Gabriel Romanelli befreundet: „Wir schreiben uns ab und zu und fragen einfach, was ist. Manchmal ist das auch ein simples: ‚Ich bete für dich und habe dich nicht vergessen.‘“
Ob die Kirchen bei Angriffen auf Gaza-Stadt verschont bleiben, ist für ihn ungewiss. Über Kontakte zu einer Kirchendelegation, die während des Kriegs Zugang zum Gaza-Streifen hatte, erfuhr er auch von Berichten israelischer Soldaten, die von extremer Belastung zeugen: „Da hieß es von mehreren Soldaten: ‚Hey, wir haben ein Riesenproblem. Die Leute begehen Suizid, viele sind traumatisiert. Wir schicken Leute schon zum Teil zum fünften Mal ins Gebiet.‘“
Schnabel fragt sich zudem, ob die Militäraktionen nicht einem Todesurteil für die rund 20 mutmaßlich noch lebenden Geiseln gleichkommen – so wie viele der Israelis, die gegen die Pläne Netanjahus demonstrieren.
Von jüdischen Israelis in seinem Freundeskreis höre er derzeit viel Zustimmung zum Kurs von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU). In Deutschland sorgt dessen Entscheidung, Israel vorerst keine Rüstungsgüter mehr zu liefern, die im Gaza-Streifen zum Einsatz kommen können, für Kontroversen. Seine Bekannten indes lobten den Kurswechsel der Bundesregierung: „Deutschland hat noch mal eine besondere Beziehung, ihr werdet hier anders gehört. Es wäre wirklich dran, dass ihr dieser derzeitigen Regierung klarmacht: so nicht!“