Nahrungsmittelknappheit und Hunger im Gazastreifen waren vielmehr ein Resultat von Verteilungsschwierigkeiten als von Lieferengpässen.

Das Narrativ über Israel im westlichen Diskurs hat sich verfestigt, die Blockade humanitärer Hilfe für den Gazastreifen nach dem Auslaufen des Waffenstilltands im März war der letzte Sargnagel. »Israelische Gräueltaten« sind von angedeuteten Vorwürfen zu beiläufig behaupteten, selbstevidenten Floskeln geworden, die keiner weiteren Begründung mehr bedürfen.

Ja, es gibt Hungernde in der Küstenenklave und israelische Entscheidungen sind dafür mitverantwortlich, doch die Geschichte, die im Westen erzählt wird, ist sträflich verkürzt. Israel macht die UNO und Partnerorganisationen dafür verantwortlich, nicht genügend Hilfsgüter abgeholt und verteilt zu haben. Daten der UNO zeigen, dass an diesem Argument etwas dran ist.

Zwischen dem 19. Mai, als die Blockade wieder aufgehoben wurde, und dem 27. Mai wurden von humanitären Organisationen nur zwei- der fünfhundert Lastwagenladungen an Hilfsgütern verteilt, die am Grenzübergang Kerem Schalom entladen worden waren.

Am 29. Mai meldeten die israelischen Behörden, der Grenzübergang habe seine volle Kapazität erreicht, weshalb kein weiterer Zugang gestattet werde, bis die auf der Gaza-Seite gelagerten Güter abgeholt würden. Diese nicht abgeholten Waren und die daraus resultierende Verringerung der Hilfslieferungen – von humanitären Organisationen als »willkürliche Beschränkungen« dargestellt – wurden in den folgenden zwei Monaten zu einem wiederkehrenden Refrain, wobei Israel die UNO mehrmals beschuldigte, die eintreffenden Hilfsgüter nicht abzuholen.

Verteilungsprobleme

Zweifellos stellte in diesem Zeitraum die Verteilung innerhalb und nicht etwa die Zufuhr in den Küstenstreifen den zentralen Engpass dar. Am 5. Juni setzte die Special Transport Association, die Gewerkschaft der Lastwagenfahrer Gazas, nach einer gewaltsamen Plünderung den Transport für vier Tage aus.

UNO-Daten zeigen, dass in der Woche vom 18. bis zum 24. Juni fast keine Hilfslieferungen (24 Lastwagen mit 360 Tonnen Hilfsgütern) von den Grenzübergängen abgeholt wurden. Sitzungsprotokolle des UN-Logistikclusters nennen als Grund einmal »schwerwiegende Sicherheitsvorfälle am 19. Juni« und in einer anderen Sitzung eine »erhebliche Verschlechterung der Zugangs- und Sicherheitsbedingungen« seit dem 20. Juni. Aus Daten des israelischen Koordinators für Regierungsaktivitäten in den Gebieten (COGAT) geht hervor, dass in dieser Woche 451 Lkw mit über 9.000 Tonnen an Lebensmitteln in den Streifen gebracht wurden. Während UNO-Organisationen fast nichts davon verteilten, wurde mehr als die Hälfte der gelieferten Menge (254 Lkw) von der von den USA und Israel unterstützten Gaza Humanitarian Foundation (GHF) verteilt.

Wahrscheinlich am folgenreichsten war wohl ein weiterer Zusammenbruch der UNO-Verteilung in den Wochen vor dem Höhepunkt der als »Hungerkrise« bezeichneten Ereignisse. Ab Anfang Juli ging die Verteilung schrittweise zurück, bis sie am 5. Juli wegen »einer Zunahme organisierter Plünderungen unund sekundärer Diebstähle« vollständig zum Erliegen kam.

In den folgenden zwei Wochen holten die UN-Organisationen nur an drei Tagen eine minimale Menge ­– fünfzig Lastwagen mit rund 500 Tonnen – an Hilfsgütern an den Grenzübergängen ab. Im selben Zeitraum sorgte COGAT für die Einfuhr von 1.333 Lastwagen mit über 25.000 Tonnen an Ware und der GHF gelang es erneut, 25 bis 50 Prozent der in den Streifen gelieferten Hilfsgüter zu verteilen.

Obwohl das Problem also bei der Verteilung lag und nicht bei der Versorgung, schrieb das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA am 21. Juli: »Direkt außerhalb von Gaza, in Lagerhäusern untergebracht, hat UNRWA genug Lebensmittel für die gesamte Bevölkerung für mehr als drei Monate. […] Beendet die Belagerung und lasst Hilfe sicher und in großem Umfang hinein.«

Bei jeder Lieferunterbrechung nannte die UNO die sich verschlechternde Sicherheitslage als Ursache für den Stillstand des Verteilungssystems. UN-Tracking-Daten bestätigen, dass zwischen Mai und Juli fast neunzig Prozent aller gesammelten Hilfsgüter geplündert, gestohlen oder umgeleitet wurden.

Trotzdem lehnten UNO-Organisationen wiederholte Angebote der GHF ab, Lastwagen, Fahrer und Sicherheitskräfte für Hilfskonvois bereitzustellen – unter dem Vorwand der Wahrung der humanitären Prinzipien der Neutralität und Unparteilichkeit, obwohl GHF selbst eine unabhängige Organisation ist. Gleichzeitig ersuchten UN-Beamte Berichten zufolge israelische Behörden um die Genehmigung von Polizeieskorten durch die Hamas-Sicherheitskräfte und verurteilten israelische Ablehnungen solcher Anfragen als Behinderung der Hilfsbemühungen.

Am 19. Juli nahmen die UNO-Organisationen die Verteilung langsam wieder auf, nachdem sowohl COGAT als auch GHF sie wegen nicht abgeholter Vorräte kritisiert hatten, doch der Schaden war bereits angerichtet. Nach zwei Wochen ohne Nahrungsmittelverteilung durch die UNO hatte sich der Preis von Mehl innerhalb kürzester Zeit vervierfacht – Anzeichen einer schweren Nahrungsmittelknappheit.

Wenige Tage später setzte Israel mehrere Maßnahmen um, darunter Luftbrücken, tägliche zehnstündige taktische Kampfpausen und die Wiedereinführung kommerzieller Nahrungsmittelimporte, um das Nahrungsmittelangebot im Gazastreifen drastisch zu erhöhen. Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl und Zucker sind seither erheblich gesunken, was darauf hindeutet, dass das Schlimmste wahrscheinlich vorüber ist.

Von der UNO verteilte Hilfsgüter und Preis für einen Sack Mehl Von der UNO verteilte Hilfsgüter und Preis für einen Sack Mehl Von der UNO verteilte Hilfsgüter und Preis für einen Sack Mehl (Quelle: UNO, Handelskammer von Gaza)

Schwierige Berechnungen

Doch wenn die Verteilung das Problem war, warum dann die Konzentration auf Israel als angeblichen Schuldigen? UNO-Organisationen behaupten, die israelische Politik – insbesondere die Blockade – habe zu den Sicherheitsbedingungen geführt, welche die Verteilung faktisch unmöglich machten. Auch an diesem Argument ist etwas dran.

Hilfsorganisationen betonen die Rolle hungriger Menschenmengen bei der Plünderung der Hilfskonvois im Gegensatz zu bewaffneten Gruppen. Zwar sind die relativen Anteile der einen oder anderen Art des Diebstahls nicht bekannt, aber Fälle unorganisierter Plünderungen durch große Menschenmengen wurden bereits im Mai dokumentiert. Es ist schwer vorstellbar, dass die Einschränkung der Hilfslieferung durch Israel dieses Phänomen nicht verschärft habe.

Die Blockade allein kann die Hungerkrise jedoch unmöglich erklären, denn die Menge an Nahrungsmitteln, die seit Januar in den Gazastreifen gelangt ist, hätte ausreichen müssen, um die gesamte Bevölkerung in dieser Zeit zu versorgen.

Der genaue Bedarf an Lebensmitteln für den Gazastreifen ist zwar nicht bekannt, doch gemäß eigener Schätzung, aufbauend auf einer Analyse der Kaloriendichte vergangener Hilfslieferungen, liegt er bei etwa 45.000 Tonnen pro Monat. Die Größenordnung entspricht etwa einer UN-Schätzung aus dem Mai, die den monatlichen Bedarf mit 43.000 bis 57.000 Tonnen bezifferte. Jüngst haben sich UN-Organisationen auf die höhere Schätzung von 62.000 Tonnen festgelegt. Doch gemäß dieser Spanne plausibler Werte stellen die 490.000 Tonnen Nahrungsmittel, die in den sieben Monaten zwischen Januar und Juli in die Küstenenklave gelangten, ein Überangebot von 15 bis 55 Prozent dar.

Für den Zeitraum zwischen 19. Januar (Beginn des Waffenstillstands) und 19. Mai (Ende der Hilfsgüterblockade) ist diese Rechnung noch eindrucksvoller. Während des Waffenstillstands erhielt Gaza insgesamt 340.000 Tonnen Nahrungsmittel, verteilt auf den viermonatigen Betrachtungszeitraum, also 85.000 Tonnen pro Monat. Das bedeutet nicht nur ein Überangebot von vierzig bis neunzig Prozent, sondern auch eine dreißigprozentige Steigerung der Nahrungsmittelverfügbarkeit im Vergleich zum Krieg bis dahin. Dennoch waren die Palästinenser laut UNO am Ende der Blockade offenbar so verzweifelt auf der Suche nach Nahrung, dass eine Verteilung ohne Plünderungen durch hungernde Menschenmengen nicht mehr möglich gewesen sei.

Teil 2 der Miniserie erscheint morgen.