Wie viel Strom braucht das Land? Diese harmlose Frage hat das Zeug, eine Regierungskrise auszulösen. Anlass ist ein Gutachten, das Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) beim Kölner Energiewirtschaftlichen Institut in Auftrag gegeben hat: das sogenannte Energiewende-Monitoring. Die Ökonomen sollen den zukünftigen Strombedarf Deutschlands abschätzen. „Realitätscheck für die Energiewende“ hat Reiche das Monitoring genannt, denn es soll die Grundlage sein für eine Neuausrichtung der Transformation hin zu erneuerbaren Energien.
Am vergangenen Sonntag sollte das Gutachten ans Wirtschaftsministerium übersandt werden. Jetzt wartet das Land auf die Veröffentlichung. Wie brisant der Vorgang ist, zeigen die Reaktionen, die das Gutachten jetzt schon ausgelöst hat. Nina Scheer, die energiepolitische Sprecherin der SPD, warnte Reiche vor einer Verletzung des Koalitionsvertrags und bezweifelte die Ergebnisoffenheit des Berichts. Die Linke sprach von einem Reiche-Knick beim Ausbau erneuerbarer Energien. Umweltverbände kritisierten, dass Reiche der Energiewende Schaden zufügen könnte.
Im Kern steht eine technische Frage
Abseits dieser politischen Schachzüge lautet die technische Kernfrage: Wie hoch wird der Strombedarf in Zukunft voraussichtlich ausfallen? Woraus sich die ökonomische Frage ergibt: Könnte Deutschland nicht viel Geld sparen, wenn es die Energiewende an realistischen Annahmen zum Stromverbrauch ausrichtet?
Schaut man sich den aktuellen Stromverbrauch an, scheinen die offiziellen Zahlen für die Zukunft tatsächlich zu hoch gegriffen zu sein. Der Bruttostromverbrauch stagniert und ist sogar leicht gesunken. 511 Terawattstunden wurden im vergangenen Jahr verbraucht – fast 50 Terawattstunden weniger als 2021. Zum Vergleich: Im Jahr 2007 lag der Verbrauch noch bei 614 Terawattstunden. Doch das Erneuerbare-Energien-Gesetz geht davon aus, dass der Verbrauch bis 2030 stark steigen wird – auf 750 Terawattstunden.
Ist das mit der jüngsten Abnahme vereinbar? Die Gründe dafür waren die Corona-Pandemie, die Energiekrise infolge des Ukrainekriegs und die Wirtschaftsschwäche. Zudem stockt die Elektrifizierung: Es gibt weniger E-Autos und Wärmepumpen als angenommen.
Übertragungsnetzbetreiber: Photovoltaik läuft aus dem Ruder
Diesen rückläufigen Trend beim Strombedarf haben einige Ökonomen und Energieunternehmen zum Anlass genommen, um weniger Investitionen in erneuerbare Energien und in die Netzinfrastruktur zu fordern. Sie halten die Ausbauziele für überdimensioniert. Die Chefs von Eon und RWE beispielsweise fordern weniger Windräder auf dem Meer und ein Ende der Förderung von privaten Photovoltaikanlagen sowie ein Ende von garantierten Einspeiseentgelten. Der Geschäftsführer des Übertragungsnetzbetreibers 50 Hertz behauptet, dass die Photovoltaik aus dem Ruder laufe und die Stabilität des Stromnetzes gefährde.
Energieexperten widersprechen. „Wir haben noch lange nicht genug Solarstrom selbst für die Sommermonate – nur zu wenige Kurzzeitspeicher, um den Solarstrom auch abends und nachts nutzen zu können“, sagt Leonhard Probst vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) in Freiburg. Die Batteriespeicher sollen die Mittagsspitzen abfedern und Strom am Abend verfügbar machen. Weiterer Vorteil: Weniger Anlagen müssen abgeregelt werden, wenn genügend Speicherkapazität vorhanden ist.
Photovoltaik müsse daher parallel mit dem Zubau der Kurzzeitspeicher ausgebaut werden, lautet Probsts Lösungsvorschlag. Für ihn wäre es auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht sinnvoll, den Zubau der Solaranlagen zu drosseln. Photovoltaik sei die günstigste Art, Strom zu produzieren. Auch ein in Zukunft geringerer Strombedarf, als er bisher erwartet wurde, spreche nicht dagegen, die Kapazitäten weiter ungebremst auszubauen.
„Die Energiewende verschiebt sich nur nach hinten“
Denn dass der Bedarf tatsächlich niedriger sei – das bestreitet in der Wissenschaft niemand. Probst und seine Kollegen beim ISE haben ihre ursprüngliche Schätzung von 763 Terawattstunden aus dem Jahr 2023 mittlerweile auf 680 Terawattstunden gesenkt. Reiches bestelltes Monitoring wird nur öffentliche Studien analysieren, insofern lohnt ein Blick auf weitere Untersuchungen. Schätzungen wie die des Thinktanks Agora Energiewende, des Energiekonzerns EnBW und der Thinktanks Aurora und Epico liegen ebenfalls unter den ursprünglich angenommen Werten. In einem sind sie sich allerdings einig: Der Strombedarf wird steigen.
Um wie viel? Das hängt von verschiedenen Faktoren ab: vom Wirtschaftswachstum; davon, ob energieintensive Unternehmen abwandern; von der Frage, ob das Land künftig Wasserstoff mit erneuerbaren Energien selbst herstellt oder importiert. Außerdem ist der Anstieg der Stromnachfrage eng an die Bereitschaft der Deutschen gekoppelt, Wärmepumpen einzubauen und E-Autos zu fahren – und an die Frage, ob die Regierung diese Techniken fördern will. Kurzfristig geringere Zahlen sind für Leonhard Probst jedenfalls kein Grund, grundsätzlich an der Elektrifizierung zu zweifeln. „Die Energiewende verschiebt sich nur nach hinten“, sagt er. Man solle den Ausbau der Erneuerbaren daher nicht bremsen.
Strombedarf könnte sich bis 2045 verdreifachen
Ähnlich sieht das der Energie- und Klimaexperte Jan Rosenow von der Universität Oxford. „Den Ausbau jetzt abzubremsen, verschleppt den Handlungsdruck in die Zukunft, sodass wir dann noch viel höhere Zubauraten brauchen, um die Klimaziele zu erreichen“, sagt er. Bis 2045 rechnet er mindestens mit einer Verdopplung des Strombedarfs – wenn nicht sogar mit einer Verdreifachung. Jetzt gelte es, Anreize zu schaffen, um die Erneuerbaren intelligenter zu nutzen. Für Rosenow ist klar: „Wir werden deutlich mehr erneuerbare Energien brauchen.“
Ähnliches gilt für die Stromnetze. „Wir sollten nicht warten, bis Not am Mann ist, sondern lieber investieren und den eingeschlagenen Pfad fortsetzen“, sagt Rosenow. In den Niederlanden seien die Stromnetze mittlerweile überlastet, weil sie viel zu langsam ausgebaut worden seien. Daher hofft er, dass in Deutschland nicht alles verlangsamt werde. Transformationen wie die Energiewende verlaufen oft dynamisch, bei Wärmepumpen und E-Autos sieht er bereits eine Trendwende. Und die Wirtschaftskraft könne wieder anziehen. Darauf sollte das System vorbereitet sein.
Leonhard Probst hält es jetzt für angebracht, die Digitalisierung und Flexibilisierung der Stromnetze voranzutreiben. Investoren brauchen politische Planungssicherheit, sagt er. Das Stromsystem jetzt „auf Kante zu nähen“, hält er für unsinnig. „Zu wenig Ausbau ist deutlich teurer als zu viel“, erklärt der Experte. So könnte man vielleicht kurzfristig Geld sparen – doch langfristig sei das schädlich.
