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Analyse
Der Mord an Charlie Kirk war wohl der Auftakt zu einer gewalttätigen Ära in der amerikanischen Geschichte.
15.09.2025, 12:2315.09.2025, 12:50
Kurz vor Beginn des Bürgerkrieges erklärte Abraham Lincoln in seiner Antrittsrede: «Wir sind keine Feinde, sondern Freunde. Wir dürfen keine Feinde werden. Obwohl unsere Leidenschaft auf die Probe gestellt wird, darf sie nicht das Band unserer Zuneigung durchschneiden. Die mystischen Gefühle unserer Erinnerungen werden wieder berührt werden von den besseren Engeln unserer Natur.»
Lincolns «bessere Engel» sind zwar zu einem geflügelten Wort geworden, doch sie haben den Bürgerkrieg nicht verhindern können. Und leider deutet fast alles darauf hin, dass die Vereinigten Staaten erneut in eine gewalttätige Ära ihrer Geschichte eintreten werden.

Abraham Lincoln, bis heute der beliebteste Präsident der USA.Bild: Alexander Gardner, Encyclopaedia Britannica
Nach dem Mord an Charlie Kirk mangelt es zwar nicht an Aufrufen zur Zurückhaltung. Alle führenden Demokraten haben das Attentat verurteilt. Auch bei den Republikanern gibt es besonnene Stimmen. So hat Spencer Cox, der republikanische Gouverneur des Bundesstaates Utah, eindringlich an die Studenten appelliert: «Meine jungen Freunde, ihr erbt ein Land, in dem sich Politik wie Wut anfühlt. Doch eure Generation hat die Chance, eine Kultur zu errichten, die sich anders anfühlt als das, was wir derzeit erleben.»
In der «New York Times» fleht der nach wie vor einflussreiche Kolumnist Thomas Friedman den Präsidenten an, das Land zu vereinen. «Stifte Frieden zu Hause. Stifte Frieden zwischen den Amerikanern», so Friedman. «(…) Mit diesem Friedenspreis werden dich nicht Skandinavier belohnen. Er wird dir von der Geschichte verliehen werden.»
Dass dieser Appell gehört wird, ist wenig wahrscheinlich. Obwohl die Motive des Attentäters noch unklar sind und er aus einer weissen, republikanischen Familie stammt, hat Donald Trump bereits mehr als deutlich klargemacht, dass er Kirks Tod als weiteres Mittel für seinen Rache- und Vergeltungszug missbrauchen will.
In der Morgen-TV-Sendung «Fox and Friends» schlug der Präsident alles andere als versöhnliche Töne an: «Ich werde euch jetzt etwas sagen, das mich in Schwierigkeiten bringen wird, aber es ist mir egal. Die rechten Radikalen sind radikal, weil sie keine Verbrechen mehr sehen wollen. Sie sagen: ‹Wir wollen nicht mehr, dass diese Leute (Immigranten) ins Land kommen und unsere Einkaufsläden niederbrennen. Wir wollen nicht, dass sie Menschen auf offener Strasse niederschiessen.› Die linken Radikalen sind das Problem. Sie sind bösartig. Sie sind schrecklich.»

Hetzt bereits: Steve Bannon.Bild: keystone
Die MAGA-Meute und ihre Vordenker haben sich bereits auf diese Linie eingeschossen. «Die Linke hat Amerika den Krieg erklärt», verkündet beispielsweise Steve Bannon. «Trump ist nun ein Kriegspräsident geworden. Er muss sich darauf fokussieren, die einheimischen Terroristen wie die ANTIFA auszumerzen.»
Diese Töne werden in der rechtsradikalen Echo-Kammer x-fach wiederholt. So erklärt Matt Walsh, ein prominenter Podcaster: «Es ist zu spät, um Händchen zu halten. Es ist die Zeit der Gerechtigkeit, die Zeit, in der die Guten gegen die Bösen kämpfen müssen.» Blake Masters, ein Kumpel von Peter Thiel und erfolgloser Kandidat für den Senat, postete auf X: «Diesmal gibt es keine zwei Seiten. Die politische Aggression und die Lust an der Gewalt kommt einzig aus der linken Ecke.»
John Daniel Davidson, Redaktor beim rechten Magazin «The Federalist» stellt ultimativ klar: «Wir können unser Land nicht mehr mit den Linken teilen.» Natürlich darf auch Elon Musk nicht fehlen, der am Wochenende nicht nur auf einer rechtsradikalen Veranstaltung in London aufgetreten ist, sondern auch auf X postete: «Kämpft oder sterbt.»
Es wäre jedoch zu kurz gesprungen, das Problem einzig bei Trump und den Rechtsradikalen zu suchen. Wie der Politologe Robert Pape schon vor Jahresfrist im Magazin «Foreign Affairs» feststellte, hat die Gewaltbereitschaft der Amerikaner strukturelle Gründe.
«Die grundsätzliche Gefahr für die Vereinigten Staaten stammt nicht von einer ausser Kontrolle geratenen Technologie oder von rechtsextremen Milizen. Es sind auch nicht wirtschaftliche Nöte, die Menschen Amok laufen lassen. Und es ist auch nicht Trump, der mindestens ebenso ein Symptom wie eine Ursache der Probleme ist, welche die USA derzeit plagen. (…) Neuere Untersuchungen meines Teams an der University of Chicago zeigen, dass mittlerweile Dutzende von Millionen Demokraten, Republikaner und Unabhängige glauben, dass politische Gewalt salonfähig geworden ist.»
Der eigentliche Treiber dieser Entwicklung ist gemäss Pape die demografische Entwicklung der USA. 1990 haben sich noch 76 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner als Weisse identifiziert. 2023 ist diese Zahl auf 58 Prozent gesunken. Es ist nicht mehr eine Frage, ob, sondern wann die Weissen ihre Mehrheit verlieren werden. «Diese Veränderungen haben den Wutpegel der Konservativen stetig ansteigen lassen», so Pape. «Viele von ihnen sehen in der ethnischen Diversität eine existenzielle Bedrohung ihrer Art zu leben.»
Gleichzeitig ist damit die Toleranz gegenüber politischer Gewalt sprunghaft angewachsen. Untersuchungen von Pape und seinem Team haben ergeben, dass inzwischen 15 Prozent der Amerikaner politische Gewalt gutheissen, und dass ein Drittel davon selbst Waffen besitzt. Es wäre falsch zu glauben, dass es sich dabei bloss um Rednecks und andere ungebildete Hinterwäldler handelt. «Über 80 Prozent von ihnen leben in städtischen Umgebungen und 38 Prozent von ihnen haben zumindest Hochschul-Erfahrung», so Pape. «Mit anderen Worten: Sie sind repräsentativ für die amerikanische Bevölkerung. Sie können nicht als eine Handvoll ländlicher Idioten abgetan werden.»

Stephen Miller, Trumps wichtigster Einflüsterer.Bild: keystone
Dank des demografischen Wandels ist gemäss Pape politische Gewalt in der Mitte der amerikanischen Gesellschaft angekommen. Ein Bürgerkrieg ist zwar unwahrscheinlich. Doch «das politische Fieber wird in absehbarer Zeit nicht abklingen», so Pape.
In der Vergangenheit haben Lincolns «bessere Engel» jeweils tatsächlich die Oberhand gewonnen, wenn auch erst nach vielen Opfern. Ob sie es auch diesmal schaffen werden, ist fraglich. Nicht nur die Gewalt nimmt zu. Trump und die MAGA-Meute werden das Attentat auf Kirk auch für einen fundamentalen Angriff auf die amerikanische Demokratie und den Rechtsstaat missbrauchen.
Soldaten in Städten wie Los Angeles und Washington waren bloss das Vorspiel. So erklärt Stephen Miller, Trumps bedeutendster Einflüsterer im Weissen Haus, bereits: «In den letzten Tagen haben wir gelernt, wie viele Amerikaner in wichtigen Positionen – Erziehung, Justiz, Spitäler, Beamte – zutiefst radikalisiert worden sind. Die Folge ist ein breites Ökosystem der Indoktrination.»
Dieses vermeintliche linke Ökosystem soll jetzt zerschlagen werden. Das werden die «guten Engel» kaum überleben.
Konservativer Politaktivist Charlie Kirk wird auf Universitäts-Campus erschossen
Video: watson
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