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Blick ins andere Deutschland im Jahr 1960. © imago images
Historiker Trentmann sieht strukturelle Probleme und Produktivitätsstagnation als zentrale Herausforderungen für Ost und West.
Frank Trentmann ist gerade unterwegs. Das Interview führt er von Stockholm aus, gute Internetqualität hier, meint er. Ganz anders als in Deutschland, dem Land, das sich gerade in einer größeren Krise wähnt.

Historiker Frank Trentmann, Professor am Birkbeck College in London. © Jon Wilson/dpa
Herr Trentmann, Ihr neues Buch trägt den Titel „Die blockierte Republik“. Viele sprechen von einer deutschen Krise. Sie sagen: Es ist auch eine Krise der Erinnerung. Inwiefern steht die Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ Deutschland im Weg?
In weiten Teilen Westdeutschlands herrscht bis heute die Vorstellung, dass die alte Bundesrepublik eine Art goldene Epoche war – alles lief scheinbar rund, man hatte die Dinge unter Kontrolle. Dieses verschönte Idealbild blockiert die Gegenwart. Im Osten gibt es gleichzeitig eine nostalgische Verklärung des eigenen Lebens in der DDR, obwohl das System repressiv war und auf den Bankrott zulief. Was ich zeigen will: Beide Bilder sind verzerrt. Zwischen 1949 und 1990 erlebte Deutschland eine ganze Reihe massiver Krisen, mindestens so schwerwiegend wie die, die wir heute durchstehen.
Bleiben wir beim Osten – auch, weil der Tag der Deutschen Einheit bevorsteht. Sie schreiben, dass die „Meckerkultur“ ihre Wurzeln schon in der DDR hatte. Welche Rolle spielt sie heute?
Eine große Rolle. Doch Klagen und Selbstviktimisierung sind übrigens kein ostdeutsches Alleinstellungsmerkmal, sondern ziehen sich durch das gesamte 20. Jahrhundert. Die Deutschen sahen sich immer wieder als besonders ungerecht behandelte Opfer – nach 1918 beim Versailler „Schandfrieden“, und ebenso nach 1945. In der DDR verstärkte sich dieses Muster allerdings durch eine eingeübte Eingaben- und Protestkultur – in der Honecker-Zeit machten jährlich um 100 000 Bürger von einer Eingabe Gebrauch, um Dampf abzulassen oder in der Hoffnung, die langen Wartezeiten für ein Auto oder eine Wohnung zu überspringen. Man lernte, sich als unfair vernachlässigter Bürger und Genosse darzustellen. Heute prägt das Opfer-Narrativ weiter den Blick vieler Ostdeutscher: Die Probleme werden auf die Zeit nach 1990 geschoben – Stichwort Treuhand. Natürlich lief nicht alles gut. Aber dieses Klagen blendet Kontinuitäten aus, etwa den Bevölkerungsschwund, den die DDR schon lange vor 1990 erlebte, und ebenso die Gewalt in einer Diktatur. Zudem verstellt es den Blick auf das, was 1989/90 und danach tatsächlich erreicht wurde.
Was haben Sie da zum Beispiel vor Augen?
Wenn Labour-Politiker aus Großbritannien heute auf Ostdeutschland blicken, sind sie überwältigt. Verglichen mit den deindustrialisierten Regionen Nordenglands ist der Aufstieg vieler ostdeutscher Regionen phänomenal. Nur: Im deutschen Diskurs geht das oft unter. Wir sehen die Defizite, aber nicht die Erfolge. Mein Anliegen ist es, mit einem kritischen historischen Blick beides sichtbar zu machen – und damit auch ein Stück Zuversicht wiederzugewinnen.
Sie betonen, dass Deutschland im europäischen Vergleich bei der Angleichung von Lebensverhältnissen durchaus viel erreicht hat. Gleichzeitig schreiben Sie von erheblichen strukturellen Problemen im Osten. Wie sieht die wirtschaftliche Landschaft dort heute aus?
Sie ist sehr heterogen. Rund um Jena haben wir eine hoch innovative Photonik und Medizintechnische Industrie, die international mithalten kann. Daneben gibt es aber viele strukturschwache Regionen mit kleinteiligen Betrieben, immer weniger Menschen und wenig Innovation. In den 1990er- und 2000er-Jahren entstand zwar Arbeit, aber oft in Bereichen mit niedriger Wertschöpfung, nicht vergleichbar mit Baden-Württemberg oder Bayern. Nötig wären große Investitionen in Forschung und Entwicklung. Doch das ist kein reines Ost-Problem – die gesamte Bundesrepublik leidet seit 15 Jahren unter schwachem Produktivitätszuwachs.
Woran liegt das?
Die Produktivität ist zwar nicht gesunken, der Zuwachs jedoch hat sich dramatisch verlangsamt. Ich vergleiche es mit einem Auto, das früher vom zweiten in den dritten und vierten Gang schaltete und dabei immer mehr an Fahrt gewann, während es jetzt kaum noch beschleunigt… Historisch hat Deutschland enorme Erfolge in Bildung und Forschung zu verzeichnen – denken Sie nur an die neuen technischen Universitäten des späten 19. Jahrhunderts. Doch nach 1990 hat man sich auf den Erfolgen ausgeruht, weil die neuen Märkte in Osteuropa und China so viel hergaben. Kurzfristig war das profitabel, langfristig fatal. In Bildung, Forschung und Infrastruktur klaffen seither große Lücken. Digitalisierung ist das deutlichste Beispiel: Ich spreche heute mit Ihnen aus Stockholm, wo alles digital reibungslos funktioniert. In Deutschland aber bleiben wir bei KI, Glasfasern, Schienen und Netzen dramatisch zurück.
In Deutschland heißt es oft: Die Politik ist schuld an den versäumten Investitionen. Sie halten das für zu einfach.
Ja. Der Staat spielt eine wichtige Rolle, gerade wenn es um Anschubfinanzierungen geht. Aber die große Masse der Investitionen kommt von Unternehmen – auch von den so gerühmten Mittelständlern. Und dort wurden ebenso über Jahre Fehler gemacht. Es ist also zu kurz gegriffen, die Verantwortung allein bei der Politik abzuladen.
In der Debatte wird als Allheilmittel fast reflexartig der „Bürokratieabbau“ genannt. Sie schreiben aber, so schlimm sei es in Deutschland gar nicht.
Bürokratie kann lähmen, keine Frage. Aber wir sehen einen Anstieg von Regeln und Vorschriften in fast allen westlichen Ländern, nicht nur hier – in Großbritannien gibt es einen wahren Wildwuchs, einschließlich in den Universitäten. Deutschland ist da nicht einzigartig. Natürlich kann und sollte man Verfahren und Auflagen vereinfachen und effizienter machen. Aber es ist eine Illusion zu glauben, dass das die Republik wieder flottmacht. Zumal die strukturellen Schwächen, über die wir sprachen, schon lange vor der jüngsten Regulierungswelle vorhanden waren.
Viele klagen, das globale Umfeld habe sich dramatisch verändert: von Protektionismus bis Krieg. Sie erinnern daran, dass der Protektionismus in Wahrheit tief in der deutschen Geschichte verwurzelt ist.
Genau. Wenn wir den langen Bogen schlagen, sehen wir: Die große Phase des Freihandels und der Globalisierung nach 1945, noch einmal beschleunigt nach 1990, ist historisch eher die Ausnahme. Der Normalfall in der Moderne war Zollpolitik. Schon unter Bismarck gab es Zölle – auf Agrarprodukte höher, in der Industrie niedriger, differenziert und strategisch angelegt. Deutschland hat also Erfahrung damit. Entscheidend sind zwei Fragen: Wie groß sind die äußeren Herausforderungen wirklich? Und wie gehen wir mit ihnen um?
Und was macht die deutsche Reaktion so besonders?
Nicht die Existenz der Krisen überrascht – sie gibt es überall: Rückgang der Globalisierung, Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, geopolitische Konflikte. Auffällig ist, wie schwer sich Deutschland mit ihnen tut. Das liegt daran, dass die Bundesrepublik lange Zeit Probleme externalisiert hat: Man rief die Energiewende aus, importierte aber weiter Kohle, Gas und Öl aus Russland. Man lebte vom Export nach China und vertraute auf die Globalisierung. Man verkleinerte die Bundeswehr und verließ sich auf die USA. Jetzt wird verlangt, dass Deutschland selbst Verantwortung übernimmt – als größte europäische Volkswirtschaft. Und darauf ist weder die Politik noch die Gesellschaft vorbereitet.
Sie sprechen von einer „provinziellen Weltsicht“.
Ja. Über Jahrzehnte hat sich die Haltung verfestigt, Deutschland könne die Welt da draußen ausblenden. Viele Bürger betrachten sich und ihr Land nicht als international vernetzte Gesellschaft mit entsprechenden Pflichten. Man macht das Gartentor zu, und die Krisen sollen draußen bleiben – so die Illusion. Aber so funktioniert es nicht. Das führt zu einer Selbstblockade: Wir sehen jede Krise als isoliertes Problem – ob Rente, Kitas, Bundeswehr oder Bürgergeld – und diskutieren sie fragmentiert. In Wirklichkeit greifen sie ineinander. Nur ein struktureller Blick kann da weiterhelfen.
Was wäre nötig, um die Blockaden zu überwinden?
Zunächst einmal ein ehrlicherer Austausch zwischen Politik und Bürgern. Viele Probleme sind hausgemacht und nur gemeinsam zu lösen. Nehmen Sie den Fachkräftemangel, die fehlenden Kita-Plätze, die drohende Rentenkrise, die Pflege: All das hängt miteinander zusammen. Ohne neue Arbeitskräfte geht es nicht. Doch stattdessen dominiert ein Narrativ von Abschiebungen und Grenzkontrollen. Wer so spricht, macht es nur noch unattraktiver für qualifizierte Menschen aus dem Ausland, nach Deutschland zu kommen, als es sowieso schon ist.
Also behindert auch die Migrationsdebatte die Lösung der großen Fragen?
Absolut. Wenn sich Deutschland nach außen als Land präsentiert, in dem Migranten pauschal als Bedrohung gelten, wenn es rechtsradikale Aufmärsche gibt – warum sollte dann jemand nach Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern ziehen, um dort als Fachkraft zu arbeiten? Studien zeigen, wie viele Hürden reguläre Migranten bei ihrer Ankunft überwinden müssen – und wie viel Diskriminierung sie dann im Alltag erfahren. Natürlich muss das Recht durchgesetzt werden, wenn Asylanträge abgelehnt werden. Aber wenn Migration nur als Problem behandelt wird, verbauen wir uns den Weg, unsere eigentlichen Herausforderungen zu lösen.
Zugleich herrscht das Gefühl: Früher war alles besser. Wie sehr blockiert der nostalgische Blick auf die alte Bundesrepublik die Gegenwart?
Enorm. Manchmal wünsche ich mir einen historischen Optiker, der den Menschen die Brillengläser richtig einstellt. Schauen wir zurück: Die Aufnahme von zwölf Millionen Vertriebenen, Massendemonstrationen gegen die Wiederbewaffnung, Adenauers Rentenreform 1957, die Ölkrise in den Siebzigern, der Niedergang ganzer Industrien, die Studentenbewegung, die RAF, die Proteste gegen Atomkraftwerke, die Millionen auf den Straßen gegen den Nato-Doppelbeschluss – die Bundesrepublik hat enorme Krisen überstanden. Demokratie lebt von solchen Konflikten. Wenn alle immer mit allem einverstanden wären, wäre sie nicht viel wert.
Heute ist oft vom „Untergang“ die Rede – fünf vor zwölf, eine Minute nach zwölf. Kommt Ihnen das bekannt vor?
Auch hier gibt es Vorläufer, und sie kamen aus verschiedenen Lagern. In den 1970er-Jahren sprachen progressive Stimmen von einer „Legitimationskrise“ des „Spätkapitalismus“: Mit seinem Wohlstandsversprechen weckte der Sozialstaat ständig wachsende Erwartungen, die Politik und Wirtschaft nicht mehr lange erfüllen könnten. Konsum und Werbung drohten aktive Bürger in passive Kunden zu verwandeln. Auch damals schien das System am Abgrund – und doch haben Demokratie und Kapitalismus die Kurve bekommen. Das sollten wir uns ins Gedächtnis rufen: Veränderung ist möglich. Demokratie kann sich erneuern. Aber dafür muss man auch positiv über sie sprechen. „Nie wieder“ allein reicht nicht. Wir brauchen Visionen, wofür Demokratie steht – Zukunftsgespräche, Ideale, Hoffnung.
Zugleich sinkt das Vertrauen in die Politik. Fehlt es auch an herausragenden Persönlichkeiten, wie es sie früher gab?
Die Bundesrepublik hatte großes Glück: Adenauer, Brandt – solche Figuren gibt es nicht alle Tage. Natürlich sind die alten Volksparteien schwächer geworden, in Deutschland wie anderswo. Aber es gibt auch Gegenbeispiele: In Großbritannien hat Labour trotz aller Krisen jüngst eine riesige Mehrheit gewonnen – übertroffen allein von Tony Blairs legendärem Erdrutsch im Jahr 1997. Auch in Deutschland ist eine Erneuerung möglich. Fatal ist hier etwas anderes: Wir könnten es „Merzeln“ nennen – analog zum „Merkeln“. Es wird etwas groß angekündigt und sogleich wieder zurückgenommen und um etwas Geduld gebeten. Aus dem „Herbst der Reformen“ wird der Winter, das Frühjahr, der Sommer, das ist fast wie bei Vivaldi. Anstatt Schwung zu entfalten, verliert sich das Momentum.
In der aktuellen Debatte geht es auch um die Schuldenbremse. Sie schreiben, dass es für große Investitionen durchaus historische Vorbilder gibt.
Wenn wir die 1930er-Jahre als Vergleich nehmen, dann sehen wir: Selbst in der Zeit der sogenannten Appeasement-Politik hat Großbritannien massiv aufgerüstet. 1938 lagen die Verteidigungsausgaben bei rund neun Prozent des Bruttosozialprodukts – ein enormer Anteil. Es ist also durchaus möglich, erhebliche Mittel zu mobilisieren. Das Problem ist weniger das Geld als die Kommunikation. Es fehlt die intensive Debatte darüber, wofür wir investieren. Warum lohnt es sich, Demokratie und Sozialstaat zu verteidigen gegen einen Aggressor wie Putin? Ohne diese Verständigung mit den Bürgern bleibt jede Finanzpolitik abstrakt.
Viele Deutsche glauben ohnehin: Russland wird uns nicht angreifen.
Ob das so ist, weiß niemand. Aber es zeigt die provinzielle Nabelschau, die in Deutschland verbreitet ist. Wir sind keine Insel, sondern Mitglied der Nato. Die entscheidende Frage ist: Was passiert, wenn Estland oder ein anderes Bündnisland angegriffen wird? Dann ist Deutschland verpflichtet, beizustehen. Dass viele Menschen – vor allem im Osten – diese Verpflichtung infrage stellen, ist besorgniserregend. Ohne Verlässlichkeit wäre Deutschland ein schwacher Nato-Partner.
Sie haben viele Krisen beschrieben – Ukraine, Russland, Deindustrialisierung. Und trotzdem betonen Sie: So schlecht steht Deutschland gar nicht da.
Richtig. Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Wir haben ein hohes Bildungsniveau, ein noch immer recht gut funktionierendes Gesundheitswesen und einen Sozialstaat, der im internationalen Vergleich robust ist. Die Arbeitslosigkeit liegt trotz aller Sorgen weit unter den Niveaus von 1929-32, also der Weltwirtschaftskrise, den frühen 1980er-Jahren oder den späten 1990er-Jahren. Und wir haben eine starke Zivilgesellschaft, die nicht nur von Rassismus geprägt ist, sondern auch von Offenheit und Engagement. Schließlich: Die Geschichte selbst ist eine Ressource. Immer wieder hat die Bundesrepublik schwere Krisen gemeistert. Daran sollten wir uns erinnern.
Ein gewichtiges Wort eines Historikers.
Als Historiker bin ich überzeugt: Geschichte ist nicht bloß ein Reservoir für Jubiläen, sondern ein Werkzeug, um Gegenwart und Zukunft zu verstehen. Deshalb sollten wir uns als Fach auch in die politische Debatte einmischen.
Frank Trentmann, geboren 1965, ist Professor für Geschichte am Birkbeck College der University of London und an der Universität von Helsinki. Zuvor war er Assistant Professor an der Princeton University. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, u.a. den Humboldt-Preis für Forschung der Alexander von Humboldt-Stiftung.
Sein Buch „Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute“ wurde 2018 in Österreich als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet. Frank Trentmann lebt in London. Aus seiner Feder stammt das Buch „Aufbruch des Gewissens“, das 2023 gefeiert wurde. In ihm thematisiert er die Nachkriegsgeschichte Deutschlands bis in die heutige Zeit hinein.
Sein neues Buch trägt den Titel: „Die blockierte Republik“ und ist im S. Fischer-Verlag erschienen. 288 Seiten, 24 Euro.