Anfang August übernahmen die ungarischen Streitkräfte gemeinsam mit Spanien und Italien für vier Monate die Luftraumüberwachung der baltischen Staaten – mit rund 80 Soldaten und vier JAS-39 Saab Gripen-Kampfflugzeugen. Militär Aktuell sprach mit dem Kommandanten des ungarischen Kontingents, Oberstleutnant Péter Tősér, über die aktuelle Lage im Baltikum sowie die Herausforderungen und Gefahren, die Ungarn im Rahmen der NATO-Mission zu bewältigen hat.
Ein Blick auf das aktuelle ungarische Kontingent bei der NATO Air Policing Mission im Baltikum.
Herr Oberstleutnant, die ungarischen Luftstreitkräfte haben 2015 erstmals den baltischen Luftraum überwacht. Wie hat sich die Mission seitdem verändert – insbesondere seit Beginn des Krieges in der Ukraine?
Selbstverständlich kann ich nur über die ungarischen Erfahrungen berichten. Was die scharfen Alarmstarts betrifft, ist deren Zahl seit Beginn des Ukraine-Krieges interessanterweise zurückgegangen. Die meisten Einsätze hatten wir während unserer Baltic Air Policing Mission (BAP) im Jahr 2019, als wir insgesamt 51-mal zu einem sogenannten „Alpha Scramble” gerufen wurden. Zum Vergleich: In unserer ersten Mission 2015 waren es 25 Einsätze, während unseres Einsatzes 2022 – also zu Beginn des Krieges – nur 19. In diesem Jahr, zur Halbzeit der aktuellen Mission, hatten wir bislang acht Alarmstarts. Was sich jedoch deutlich verändert hat, ist vor allem die zunehmende Bedrohung durch Drohnen und die damit verbundenen Aufgaben. Dadurch verschiebt sich der Schwerpunkt der Luftraumüberwachung zunehmend in Richtung Luftverteidigung.
Kann man sagen, dass dieser Fleck Europas gefährlicher geworden ist?
Das Baltikum ist zwar im klassischen Sinn nicht gefährlicher geworden, doch aufgrund der gestiegenen Bedrohung sind die hier stationierten NATO-Kräfte deutlich aktiver, und es finden wesentlich mehr gemeinsame Übungen statt. Man kann daher sagen, dass heute im Vergleich zu früher Truppen mehrerer Nationen in größerer Zahl in der Region stationiert sind und dass auf Ebene aller Teilstreitkräfte eine deutlich stärkere gemeinsame Aktivität zu beobachten ist.
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Welche Muster beobachten Sie bei der Verletzung des NATO-Luftraums durch unbekannte Flugzeuge?
Ich möchte ausdrücklich klarstellen, dass es im Hinblick auf die baltischen Staaten – also im NATO-Kontext – nur sehr selten zu einer tatsächlichen (NATO-) Luftraumverletzung kommt. Die Gründe für Alarmstarts liegen in den meisten Fällen anderswo. Auch in der Luftfahrt – ähnlich wie im Straßenverkehr – kann man nur anhand international festgelegter Regeln am Verkehr teilnehmen. Diese Vorschriften sind notwendig, damit alle Flugzeuge in einem bestimmten Luftraum ihre Aufgaben sicher ausführen und Unfälle vermieden werden.
Der Luftraum über der Ostsee ist international und offen. Dort verkehren unter anderem zahlreiche russische Luftfahrzeuge zwischen Russland und Kaliningrad, einer geografisch von Russland getrennten Exklave. Die meisten scharfen Alarmstarts erfolgen aufgrund von Regelverstößen dieser russischen Flugzeuge, die sich in diesem internationalen Luftraum über offenen Gewässern bewegen.
„Die meisten scharfen Alarmstarts erfolgen aufgrund von Regelverstößen russischer Flugzeuge, die sich in internationalen Luftraum über offenen Gewässern bewegen.“
Wann kommt es zu einem solchen Regelverstoß?
Für die Teilnahme am Luftverkehr müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens ein Flugplan, der Route, Start- und Landeplatz, Zeitpunkt sowie die geplante Flugdauer enthält. Zweitens eine ständige Funkverbindung mit der zuständigen Flugsicherung. Drittens ein aktiver Transponder, also ein Funksignal an Bord. Erfüllt ein Flugzeug nicht alle drei Bedingungen – sei es absichtlich, durch technischen Defekt, Unfall oder ein unvorhergesehenes Ereignis – gefährdet es die Sicherheit des Luftverkehrs. Die Hauptaufgabe der Luftraumüberwachung in Friedenszeiten besteht daher darin, solche Flugzeuge im Alarmfall abzufangen und zu identifizieren, ihnen wenn möglich Hilfe zu leisten und die Gefährdung der Sicherheit zu beseitigen. Die von uns abgefangenen Flugzeuge – überwiegend russische – erfüllen diese Anforderungen nicht oder nur teilweise.
Was geschieht konkret, wenn es zu einem Abfangmanöver kommt?
Bei einem scharfen Alarmstart verläuft der Ablauf wie folgt: Zunächst erfasst das Radarnetz das Ziel. Das Luftleit- und Überwachungszentrum (CRC – Control and Reporting Centre) bewertet die Lage und meldet sie weiter. Daraufhin ordnet die strategische Ebene – das in Uedem (Deutschland) stationierte Kombinierte Luftoperationszentrum (CAOC – Combined Air Operations Centre) – den Alarmstart, den sogenannten „Alpha Scramble”, an.
Interviewpartner: Oberstleutnant Péter Tősér ist Kommandant des ungarischen Kontingents bei der NATO Air Policing Mission im Baltikum.
Das Einsatzleitzentrum des jeweiligen BAP-Kontingents auf dem Flugplatz (Wing Operations – WINGOPS) erhält den Befehl und aktiviert die Bereitschaftskräfte (QRA – Quick Reaction Alert). Piloten und Techniker führen ihre Aufgaben anschließend nach festgelegtem Protokoll aus. In der Luft werden die Flugzeuge vom CRC geleitet, während das CAOC die Operation auf strategischer Ebene koordiniert. Nach dem Abfangen und Identifizieren des auslösenden Flugzeugs wird der Einsatz mit einem Bericht abgeschlossen, der über die NATO-Befehlskette weitergeleitet wird.
Handelt es sich hierbei überwiegend um „unbekannte” Kampfjets, Aufklärer oder Transportmaschinen?
Die überwiegende Mehrheit der Alarmstarts wird durch Regelverstöße russischer Flugzeuge ausgelöst. Während der Abfangeinsätze hatten wir es bereits mit allen möglichen Flugzeugtypen zu tun. Kaliningrad ist aus militärischer Sicht von strategischer Bedeutung – man könnte es als Russlands „vorgeschobenen Außenposten” bezeichnen. Dort befindet sich auch ein wichtiger Marinestützpunkt, der Hauptstützpunkt der russischen Ostseeflotte. Deshalb fliegen regelmäßig russische militärische Transport-, Aufklärungs- und Kampfflugzeuge zwischen dem Festland und Kaliningrad durch den internationalen Luftraum über der Ostsee.
„in der modernen Luftkampfführung kann ein einzelner Flugzeugtyp selten alle Anforderungen erfüllen.“
Wie sieht der typische Alltag für Piloten und Bodenpersonal im ungarischen Kontingent im Baltikum aus?
Die Ausführung der Dienstaufgaben erfolgt im Wesentlichen genauso wie im heimischen Umfeld. Aufgrund der ständigen Einsatzbereitschaft gibt es einen 24-Stunden-Dienst, daneben sind aber auch Mitarbeitende mit einem normalen Arbeitsrhythmus tätig, in der Regel acht Stunden an Werktagen. Bei Bedarf kann es selbstverständlich vorkommen, dass auch der normale Dienst länger dauert oder Wochenenden einschließt. Vorrang hat stets die vollständige und korrekte Erfüllung aller Aufgaben.
Auch inhaltlich entsprechen die Tätigkeiten denen in der Heimat. An einem typischen Tag bereitet das technische Personal die Flugzeuge in den frühen Morgenstunden vor und führt die erforderlichen Kontrollen sowie Systemchecks durch. Für geplante Trainingsflüge erstellen die Piloten bereits am Vortag ihre Flugpläne und stimmen sich mit den beteiligten Stellen und Ebenen ab.
Jeden Morgen findet eine gemeinsame Einsatzbesprechung statt, bei der alle an den Flügen beteiligten Fachbereiche berichten und die Details der bevorstehenden Mission besprechen – zum Beispiel Aufklärungsergebnisse, Wetterbedingungen oder technische Aspekte. Anschließend führen die Piloten ein eigenes Briefing durch, in dem sie die technischen und taktischen Einzelheiten des Fluges erörtern. Nach dem Flug erfolgt eine Auswertung, bei der der absolvierte Einsatz bis ins kleinste Detail analysiert und die gesammelten Erfahrungen ausgetauscht werden. Ziel ist dabei die fachliche Weiterentwicklung und die Verbesserung der individuellen Fähigkeiten, um zukünftige Aufgaben noch präziser durchführen zu können.
Welche Erfahrungen nimmt das ungarische Kontingent aus der Zusammenarbeit mit NATO-Partnern mit nach Hause?
Wir haben zahlreiche Erfahrungen gesammelt und hatten die Gelegenheit, einheitliche NATO‑Verfahrensweisen gemeinsam mit anderen Nationen zu üben, um die Interoperabilität zu sichern und unsere kampftechnischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Besonders hervorheben möchte ich die MFFO‑Einsätze (Mixed Fighter Force Operations), bei denen verschiedene Jagdflugzeugtypen mehrerer Nationen auf Basis eines abgestimmten Einsatzkonzepts gemeinsam Kampfeinsätze durchführen. Das ist wichtig, denn in der modernen Luftkampfführung kann ein einzelner Flugzeugtyp selten alle Anforderungen erfüllen. MFFO ermöglicht den Bündnispartnern ein integriertes Zusammenwirken: Die Stärken werden gebündelt und Schwächen reduziert, was die Effizienz deutlich erhöht.
Wichtig ist außerdem, dass die ungarischen Gripen nach einer kürzlich durchgeführten Software‑Aufrüstung nun in der Lage sind, DA‑CAS‑Aufgaben (Digitally Aided Close Air Support) wahrzunehmen. Dabei handelt es sich um direkte Luftnahunterstützung, bei der der herkömmliche CAS‑Prozess durch digitale Mittel und Netzwerke wie Datalinks und geoinformatische Systeme ergänzt wird. Dadurch können Feuerunterstützungen in der Nähe verbündeter Kräfte schneller, präziser und sicherer durchgeführt werden. Zur Durchführung und Erprobung von DA‑CAS‑Aufgaben hatten wir hier im Baltikum erstmals die Gelegenheit, eng mit spanischen Fliegerleitoffizieren (JTAC – Joint Terminal Attack Controller) zusammenzuarbeiten.
Was bedeutet dieser Einsatz für die Soldatinnen und Soldaten persönlich?
Ich bin mir sicher, dass meine Kolleginnen und Kollegen meine Ansicht teilen, dass es eine große Verantwortung, zugleich aber auch eine Ehre und ein erhebendes Gefühl ist, an einer so wichtigen NATO‑Mission teilzunehmen und dabei Ungarn sowie die ungarischen Streitkräfte in einer derart bedeutenden internationalen Aufgabe zu vertreten. Über den Stolz und die Ehre hinaus bedeutet dies auch eine enorme fachliche Bereicherung für uns, denn wir können einzigartige Erfahrungen sammeln, die in der Heimat nicht möglich wären. Bei multinationalen Übungen und anderen kooperationsbasierten Einsätzen haben wir zahlreiche Erlebnisse und Erkenntnisse gewonnen, die unsere berufliche Entwicklung maßgeblich gefördert haben. Da Ungarn ein Binnenstaat ist, ist es schon etwas Besonderes, nahezu täglich über dem Meer zu fliegen – ein Erlebnis, das fliegertechnisch ganz andere Anforderungen stellt als Einsätze über Land.
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Gibt es ein besonders prägendes Erlebnis aus den bisherigen Missionen?
Wenn ich eine besonders einprägsame Aufgabe oder ein prägendes Erlebnis nennen müsste, würde ich unbedingt die Zusammenarbeit im Jahr 2019 mit einer maritimen Einsatzgruppe der NATO (SNMG‑1 – Standing NATO Maritime Group) hervorheben. Dabei wurden ungarische Gripen von Jagdleitoffizieren eines US-Kriegsschiffs, das im Baltischen Meer kreuzte, geführt. Ebenfalls in Erinnerung geblieben ist ein Einsatz, bei dem wir während einer Landungsübung in Estland direkte Luftunterstützung in enger Kooperation mit zwei Apache-Hubschraubern leisten mussten.
Wir hatten und haben somit die Gelegenheit, an zahlreichen wichtigen Missionen mitzuwirken; sie alle dienen ausnahmslos der Interoperabilität innerhalb der NATO und unserer individuellen fachlichen Weiterentwicklung.
Information: Das Interview führte der Militärhistoriker Gábor Orbán auf Ungarisch. Die veröffentlichten Aufnahmen wurden mit freundlicher Genehmigung des Public Affairs Officers Hauptmann Róbert Tóth für Militär Aktuell bereitgestellt.
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