Abgründig, melancholisch, eindringlich – so offenbart sich Luxemburgs Literatur auf der Frankfurter Buchmesse, die gestern mit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den deutschen Historiker Karl Schlögel zu Ende ging. Auffallend viele der neuen Bücher, die seit Mittwoch vergangener Woche am Luxemburger Stand vorgestellt wurden, erzählen von Verlust und Erinnerung, von gebrochenen Biografien und einer Welt, in der das Licht selten ohne Schatten erscheint.
Enrico Lunghis Fragmente der Menschheit
Gleich zu Beginn steht eine Dystopie, die diese Grundstimmung auf den Punkt bringt. Enrico Lunghis „Chroniques d’un monde avant“ ist eine faszinierend vielschichtige Chronik aus einer Zukunft, die längst begonnen hat. In dieser fragmentarischen Erzählung, die an Cormac McCarthys „The Road“ erinnert, ist die Welt nicht von Eis überzogen, sondern wird von einer unerträglichen Hitze verzehrt. Eine glühende Sonne hat die Erde ausgedörrt und ist dabei, auch Natur und Menschheit auszulöschen.
Lunghi tritt als Vermittler von Text-Fragmenten auf, als Archäologe einer verlorenen Spezies, des Homo sapiens, der an seiner eigenen Unreife zugrunde ging.
Der fiktive Verfasser der überlieferten Texte – eine Stimme aus dem „Danach“ – bleibt namenlos, ortlos, zeitlos. Seine Aufzeichnungen berichten von einer „vergessenen Welt“, von der er kaum mehr weiß als aus brüchigen, unzuverlässigen Quellen. Lunghi selbst tritt also nur als Vermittler dieser Fragmente auf, als Archäologe einer verlorenen Spezies, des Homo sapiens, der an seiner eigenen Unreife zugrunde ging.
Enrico Lunghi, „Chroniques d‘un monde avant“, Editions Hydre, 104 Seiten, 14 Euro.
Mit feinem, fast musealem Blick komponiert Lunghi aus diesen Fragmenten „ein literarisches Fossil“, eine Reflexion über Erinnerung und über das, was vom Menschen bleibt, wenn seine Welt längst vergangen ist. „Chroniques d’un monde avant“, erschienen bei Hydre Editions, ist eines der eindrucksvollsten Bücher aus Luxemburg in diesem Jahr: still, präzise und am Ende dann doch von einer Wärme, die paradoxerweise gerade in dieser brennenden Welt aufleuchtet. Im letzten Textstück dieser Sammlung tauchen eine Frau, ein Kind und ein stummer Mann auf. Vielleicht ein Hoffnungsschimmer?
Melancholische Stimmen aus Samuel Hamens Monologen
Anders als Lunghi wendet sich Samuel Hamen in seinem Buch „LTZBG“ der Gegenwart zu – und damit dem Menschen selbst. Das Buch, erschienen bei Éditions Guy Binsfeld, versammelt drei Monologe, drei Stimmen, drei Perspektiven auf eine Gesellschaft, die zwischen Konformität, Erwartungen und persönlichen Ängsten zerrieben wird. Hamen liefert keine einfache Kritik, sondern eine Art gesellschaftliche Diagnose: In Luxemburg gibt es mehr zu verlieren als zu gewinnen.
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Jede der Stimmen ist einzigartig, fragmentarisch, und doch ergänzen sie sich zu einem präzisen Gesamtbild – von den Zwängen des Alltags über die Unsicherheiten der Jugend bis hin zu den subtilen Mechanismen, die Gemeinschaften zusammenhalten oder auseinanderreißen. Wie Lunghi zuvor in seiner Dystopie, so arbeitet auch Hamen mit Distanz und Präzision, zeigt aber statt einer verbrannten Erde eine psychologische Landschaft voller Nuancen, Widersprüche und leiser Tragik.
Samuel Hamen, „LTZBG“, Editions Guy Binsfeld, 136 Seiten, 20 Euro.
Der erste Monolog, „Um Enn sinn“, ist allerdings sperrig. Man weiß nicht recht, wohin der Autor will. Überzeugender gelingt ihm das in „Vehement ginn“ und in „Genuch ze dinn“.
„Mäi Lëtzebuerg verschwënnt, eist Lëtzebuerg verschwënnt, an et kënnt och nët méi zeréck“, sagt ein Sprachprofessor im Ruhestand, der mit dem Wandel seiner Welt nicht zurechtkommt. Eines Tages verschanzt er sich in einem Logistikzentrum, einer Anlaufstelle für Lastwagenfahrer aus Osteuropa, „Nomaden des Nichts“. „Auf einmal habe ich eine alte Meinung, die nichts mehr wert ist“, sagt der Professor, und während andere „bunt, flink und schön sind, wird er zunehmend unsichtbar“. „Ein Weg hat seine Richtung ganz verloren“, zitiert Hamen den expressionistischen Dichter Alfred Lichtenstein. Die Stimmung dieses Monologs erinnert an Texte des luxemburgischen Dramatikers Pol Greisch – ein Greisch-Zitat hat Hamen diesem Monolog vorangestellt.
Die Hasel, etwas Zähes, Verwurzeltes, das trotz allem immer weiter wächst.
Im dritten Text schließlich kommt eine Food-Truck-Unternehmerin mit portugiesischen und niederländischen Wurzeln zu Wort. Ihr Monolog liest sich wie eine lange Sprachnachricht an den Freund, von dem sie sich trennen wird – er zu verkopft, sie unternehmerisch, bodenständig, beide auf ihre Weise verloren.
Und allen drei Monologen gemeinsam ist die Hasel – mal als Strauch, mal als Haselnuss-Schnaps. Ein unscheinbares Motiv, das sich durch die Texte zieht und ihnen eine poetische Klammer verleiht: die Hasel, etwas Zähes, Verwurzeltes, das trotz allem immer weiter wächst.
Wie Science-Fiction Luxemburg neu codiert
Mit dem von ihm initiierten Projekt „Luxemburg und das Ende der Realität“ öffnet Samuel Hamen schließlich für ein drittes aktuelles Buch den Blick noch weiter und zwar ins Spekulative. Daraus ist eine Anthologie geworden: „Angstvoll und leicht sehnsüchtig – vier literarische Spekulationen über Luxemburg“. Das Buch, erschienen bei Hydre Éditions, vereint Texte von Emma Braslavsky, Benjamin von Wyl, Anja Kümmel und Luc François. Sie waren im Herbst 2024 in Luxemburg, um jeweils eine Erzählung zu verfassen – in den Genres Science-Fiction, Fantasy oder Speculative Fiction.
Emma Braslavsky, Luc François, Anja Kümmel, Benjamin von Wyl, „Angstvoll und leicht sehnsüchtig“, Editions Hydre, 320 Seiten, 22 Euro.
Luxemburg könnte ganz anders sein als Idee, Klischee oder Symptom, suggerierte das Projekt, aber was bedeutet es, in Alternativen, Gegenwelten und Divergenzen unterwegs zu sein? Die vier Texte zeigen, wie das Fantastische helfen kann, Luxemburg neu zu codieren – als Experimentierraum zwischen Realität und Möglichkeit, zwischen Gegenwart und Imagination.
Sehnsucht nach Tiefe in einer brüchigen Welt
So unterschiedlich diese drei Bücher auch sind, sie verbindet ein Blick in Abgründe, der nie rein destruktiv ist. Ob in der verbrannten Zukunft Enrico Lunghis, in den zerrissenen Stimmen Samuel Hamens oder in den spekulativen Gegenwelten seiner Anthologie: Die Luxemburger Literatur, wie sie sich in Frankfurt zeigt, tastet die Ränder der Wirklichkeit ab. Sie fragt, was bleibt, wenn Gewissheiten schwinden. Ihr gemeinsamer Nenner: ein Misstrauen gegenüber der Oberfläche und eine Sehnsucht nach Tiefe, nach Bedeutung in einer brüchigen Welt.
Drei weitere Luxemburger Bücher
„De Léiw gët rout“ von Jean-Paul Maes (Éditions Kremart) erzählt in sieben Geschichten von ganz normalen Menschen – Nachbarn, Bekannten, „Menschen wie du und ich“ –, deren scheinbar geregeltes Leben plötzlich aus dem Gleichgewicht gerät. Luxemburgs Löwe hört von unzufriedenen, irritierten Stimmen aus dem Land und wird dabei selbst „rot“ – beschämt, zornig, vielleicht auch schuldbewusst. Mit feinem Gespür und ironischem Unterton zeichnet Maes ein Gesellschaftsbild, in dem Alltägliches und Abgründiges eng beieinanderliegen.
Der Comic „D‘Buerg um Bockfiels“ (Editions Op der Lay) ist Teil der Reihe „Der Rest der Geschichte…“, die sich den vergessenen oder nie erzählten Seiten der Geschichte widmet. In diesen Comics werden Legenden, Alltagsgeschichten und mögliche Wahrheiten neu belebt – jene Dinge also, die in den Geschichtsbüchern keinen Platz fanden, aber das Land und seine Menschen geprägt haben könnten. Dieser Band (Text: Marc Angel, Zeichnungen: Kodji) erzählt eine woke Fassung der romantisch-mythologische Ursprungsgeschichte Luxemburgs um Graf Sigfrid, der auf der Jagd einem Mädchen begegnet, das im Fluss badet.
Corina Ciocãrlie, „Les Dîners de Gaia“, Capybara Books, 146 Seiten, 25 Euro.
Wie bewahrt man seine kulinarischen Wurzeln und passt sich gleichzeitig einem neuen Land an? „Les Dîners de Gaia“ von Corina Ciocãrlie (Capybara Books) erzählt von Menschen aus Friaul, Emilia-Romagna, den Marken oder den Abruzzen, die ihre italienischen Traditionen im Luxemburg neu erfinden. Zwischen Rezepten von gestern und Kreationen von heute, Kindheitserinnerungen und geteilten Geschmackserlebnissen, schildert dieses Buch Migration, Identität und den kulturellen Austausch – stets aus der Perspektive des Esstischs.