Angst, so scheint es, ist ein höchst wirkungsvoller Antreiber für Diplomatie. Das zumindest legt eine Studie des Brüsseler Büros der Heinrich-Böll-Stiftung nahe, die an diesem Donnerstag veröffentlicht werden soll und der Süddeutschen Zeitung vorab vorliegt. Die Autoren haben darin die sicherheitspolitischen Abkommen untersucht, die zwei oder mehrere der 27 EU-Staaten sowie die Ukraine und Großbritannien seit 2014 untereinander abgeschlossen haben.
Das Ergebnis ist vielleicht nicht völlig überraschend, in dieser Deutlichkeit aber doch bemerkenswert: Von den 169 bi- und multilateralen Abkommen, die die Böll-Forscher gefunden haben, wurden 135 – das entspricht knapp 80 Prozent – in den Jahren 2022 oder später vereinbart, also nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine.
Trump zwingt Europa zur Eigenständigkeit
Bricht man diese Zahlen auf einzelne Jahre herunter, zeigt sich noch deutlicher, wie dramatisch der Schub ist, den die sicherheitspolitische Zusammenarbeit in Europa durch den Krieg bekommen hat. Während in den Jahren 2019, 2020 und 2021 jeweils nur drei, zwei respektive acht Abkommen geschlossen wurden, waren es 2022 bereits 18. 2023 stieg die Zahl auf 24 Abkommen, im Jahr danach sogar auf 57. Im laufenden Jahr wurden bis September nach Zählung der Böll-Stiftung weitere 36 Sicherheitsabkommen in Europa vereinbart.
Zusätzlich zum Krieg in der Ukraine, den der russische Machthaber Wladimir Putin im Februar 2022 begonnen hat, verstärkte wohl auch die zweite Amtszeit von Donald Trump als US-Präsident die Nachfrage nach innereuropäischen Sicherheitsabkommen. Dieser hat zumindest die ersten Monate seiner Amtszeit keinen Hehl daraus gemacht, dass er den bisherigen Hauptgaranten von Sicherheit in Europa, die von den USA angeführte Nato, sehr skeptisch sieht und mehr Lasten auf die Europäer abwälzen will. „Putin zwingt Europa zur Abschreckung, Trump zwingt es zur Eigenständigkeit“, sagt Roderick Kefferpütz, Leiter des Brüsseler Büros der Böll-Stiftung und einer der Autoren der Studie. Das Ergebnis ist die Rekordzahl an neuen sicherheitspolitischen Vereinbarungen.
Die Abkommen unterscheiden sich dabei erheblich, was die völkerrechtliche Qualität und den Inhalt angeht. In manchen Fällen handelt es sich um bloße Absichtserklärungen, andere sind hingegen vollwertige Sicherheitsverträge, in denen Staaten einander militärischen Beistand im Kriegsfall zusagen. Manche Abkommen decken nur die Zusammenarbeit auf einem eng definierten Feld ab, zum Beispiel beim Schutz gegen Cyberattacken. In anderen wird dagegen eine breite militärische Kooperation vereinbart, etwa in Form von gemeinsamen Manövern oder bei der Logistik.
Die Bedürfnisse nach mehr Sicherheit unterscheiden sich regional
Eine wichtige Kategorie bilden Abkommen, in denen es um Kooperationen beim Einkauf von Rüstungsgütern geht. Nach Ansicht der Autoren der Studie hat deren verhältnismäßig hohe Anzahl auch damit zu tun, dass die EU bei etlichen ihrer Förderprogramme, mit denen die europäische Rüstungsindustrie gestärkt werden soll, die Zusammenarbeit von mindestens zwei Mitgliedsländern zur Voraussetzung macht, dass Geld fließt.
Die weitaus größte Anzahl der untersuchten Abkommen – 84 – fällt jedoch in die Kategorie sogenannter umfassender Vereinbarungen. Das heißt: Die Unterzeichnerländer streben eine deutlich vertiefte Kooperation bei der Ausstattung ihrer Armeen mit Militärgerät und bei der Vorbereitung auf mögliche gemeinsame Einsätze an.
Dabei lässt sich ein geografisches Muster erkennen, das man in Europa auch findet, wenn man zum Beispiel die Bereitschaft von EU-Ländern misst, die Ukraine mit Waffen oder Geld zu unterstützen: Je näher Staaten am Kriegsgeschehen liegen, je näher sie der russischen Westgrenze sind, desto größer ist das Bedürfnis nach einem Plus an Sicherheit.
Es ist keineswegs ein Zufall, dass vor allem die nord-, mittel- und osteuropäischen Länder besonders viele bi- und multilaterale Sicherheitsabkommen abgeschlossen haben, vor allem untereinander. Schweden, Finnland, Polen, die baltischen Staaten und Dänemark stehen auf der Liste der Staaten, die Vereinbarungen getroffen haben, weit oben. Spanien, Portugal, Zypern und Malta – sowie die neutralen EU-Mitglieder Irland und Österreich – findet man auf den unteren Plätzen.
Viele Länder suchen die Nähe zu Frankreich
Ein sehr begehrter Verbündeter in Europa ist Frankreich. Es führt die Liste mit 33 Abkommen an, gefolgt von Deutschland, das 27 Verträge geschlossen hat – bis September jedenfalls: Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius war gerade in Island und Schottland, um weitere sicherheitspolitische Vereinbarungen zu treffen. Aber Pistorius kann nichts an dem Alleinstellungsmerkmal Frankreichs ändern, der einzige EU-Staat zu sein, der über Atomwaffen verfügt. „Frankreich ist als größte Militärmacht der EU, mit eigener nuklearer Abschreckung, einer starken Rüstungsindustrie und einer Tradition sicherheitspolitischer Eigenständigkeit gegenüber den USA, ein besonders attraktiver Partner“, sagt Kefferpütz.
Nach Zählung der Böll-Stiftung hat Frankreich seit 2014 mit drei Staaten Abkommen geschlossen, die eine militärische Beistandsklausel enthalten: mit Deutschland, Griechenland und zuletzt mit Polen. Großbritannien, ebenfalls ein Atomwaffenstaat, wenn auch kein EU-Mitglied mehr, kommt auf die gleiche Zahl an Abkommen, die Sicherheitsgarantien zusagen – mit Finnland, Schweden und Deutschland.
Die entscheidende Frage, die sich angesichts dieses Geflechts von unterschiedlichsten Abkommen stellt, ist allerdings: Entsteht da das Fundament für eine eigenständige europäische Sicherheitspolitik –oder doch eher unkoordiniertes Chaos? Zumal wenn alle Staaten nach wie vor betonen, dass die Nato die Hauptrolle beim militärischen Schutz Europas spielen muss.
„Diese Welle an Abkommen zeigt, wie groß das Sicherheitsbedürfnis in Europa ist“, sagt Kefferpütz. „Die Mitgliedstaaten wollen schnell und pragmatisch handeln. Doch Tempo riskiert Unordnung.“ Die Europäer aber könnten nur zusammen ihre Sicherheit verteidigen. „Stärke entsteht aus Einheit, nicht aus lauter Einzelwegen.“