Ob Straßen, Schienen, Häfen oder Luftraum: Sollte es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der Nato kommen, wird es voll in Deutschland. „Unsere geostrategische Lage ist die Drehscheibe in Europa“, beschrieb Kanzler Friedrich Merz unlängst Deutschlands Rolle in den Nato-Planungen. Soldaten auch verbündeter Nationen müssten an die Front befördert werden, etwa nach Polen oder ins Baltikum. Samt Ausrüstung und Munition, schwerem Gerät und Treibstoff. Verwundete und Geflüchtete müssten in Krankenhäuser und Notunterkünfte gebracht werden.
Die Vorbereitungen für die „Drehscheibe“ laufen. Grundlage dafür ist der „Operationsplan Deutschland“, den die Truppe mit Bund, Ländern und Kommunen sowie mit Polizei, Feuerwehr, Sanitäts- und Rettungsdiensten und der Wirtschaft erstellt hat und laufend überarbeitet. „Vereinfacht ausgedrückt wird dabei festgeschrieben, wer in welchem Krisenszenario welche Aufgabe zu übernehmen hat“, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius einmal über das geheime Dokument.

Im Krisenfall könnten der Analyse „Logistische Drehscheibe Deutschland“ zufolge je nach Szenario bis zu 800.000 Soldaten innerhalb von sechs Monaten über deutsches Gebiet verlegt und versorgt werden müssen. „Deutschland ist vom potenziellen Kampfgebiet des ‚Kalten Krieges‘ zum logistischen Rückgrat für die Nato geworden“, heißt es in der Untersuchung, die in Kooperation der Quadriga Hochschule Berlin, der bundeswehreigenen Beratung BwConsulting und der zum Porsche-Konzern gehörenden Beratung MHP entstanden ist.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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Doch wie viel kann dieses Rückgrat tragen? Löst ein russischer Angriff in Osteuropa den Nato-Bündnisfall aus, muss nicht nur klar sein, auf welchen Privatparkplätzen Truppen rasten können oder welche Brücken eine Panzerkolonne aushalten. In Deutschland müssen dann Militärtransporte tanken, Ersatzteile und Verpflegung zur Verfügung stehen, Nachschubwege und Verkehrsknotenpunkte gesichert sein.

Mehrere Transportpanzer des Typs Boxer werden verladen.
© picture alliance / Felix Kästle/dpa | Felix Kästle
Im Krisenfall fehlen der Bundeswehr Logistik-Kapazitäten
„Diese Anforderungen kann die Bundeswehr allein nicht erfüllen“, warnen die Autoren der Analyse. Die logistischen Kapazitäten der Bundeswehr seien nach der Jahrtausendwende abgebaut oder sogar aufgelöst worden. Im Ernstfall könnte die Truppe demnach nur für sich selbst sorgen: „Die Ressourcen, die zur Verfügung stehen, werden durch die Bundeswehr für den eigenen Aufmarsch und die Stationierung in Osteuropa benötigt.“
Die Verfasser haben aufgrund der öffentlich bekannten Teile des Operationsplans betrachtet, welche Herausforderungen auf Deutschland im Ernstfall zukommen – und wie das Land dafür auch im Vergleich zu anderen strategisch wichtigen Nato-Staaten aufgestellt ist. Ohne die Unterstützung privater Unternehmen werde es insbesondere in den Bereichen Logistik, IT und Infrastruktur nicht gehen, lautet das Fazit. Ein Beispiel: In den Hangars der Bundeswehr-Logistiker stehen nur etwa 9000 truppeneigene Fahrzeuge. Die deutschen Transportunternehmen aber können rund 3,83 Millionen Lastkraftwagen auf die Straße bringen.

Die Bundeswehr ist offenbar ebenfalls der Ansicht, dass sie im Ernstfall Unterstützung braucht, und ist bereits mit privaten Akteuren im Gespräch. Der Rheinmetall-Konzern hat den Auftrag erhalten, Rast- und Sammelräume entlang von Marschrouten aufzubauen und zu betreiben. Vertrauliche Gespräche führt die Truppe Berichten zufolge zudem mit Konzernen wie der Deutschen Bahn und der Lufthansa.
Die Verzahnung zwischen Bundeswehr, anderen staatlichen Stellen und Unternehmen muss nach Auffassung der Studienautoren vertieft werden – nach dem Vorbild anderer Nato-Staaten: In den Niederlanden stellt der Nationale Koordinator für Terrorismusbekämpfung und Sicherheit den Ministerien, Militär und Unternehmen ein gemeinsames Lagebild bereit. Energiekonzerne, Logistikfirmen, Banken und Telekommunikationsunternehmen müssen regelmäßig Risikoanalysen sowie Krisenübungen mit staatlichen Stellen absolvieren.

In Finnland legt der Staat Mindestmengen für Treibstoff, Getreide, Medikamente, technische Ersatzteile und Kommunikationsmittel fest, die überwiegend von privaten Betreibern eingelagert werden. In Schweden sind Unternehmen in kritischen Branchen gesetzlich dazu verpflichtet, Redundanzen zu schaffen wie eine Notstromversorgung, Datenspiegelung oder alternative Transportmittel. In Großbritannien arbeiten bei Partnerfirmen des Verteidigungsministeriums militärisch geschulte Zivilisten, die kurzfristig aktiviert und in militärische Führungsstrukturen integriert werden können.
Für Deutschland fordern die Analysten ebenso klare Vereinbarungen des Staates mit der Privatwirtschaft sowie ein gemeinsames Lagebild. Sie schlagen außerdem vor, eine „digitale Drehscheibe“ aufzubauen: In dem System solle relevante Infrastruktur wie Tanklager oder Bahnterminals ebenso erfasst werden wie die Bestände von Notstromaggregaten oder Sanitär-Containern. Zeichnet sich aufgrund der in Echtzeit aktualisierten Daten etwa an einem Knotenpunkt eine Treibstoffknappheit auf, soll per Mausklick eine Dieselbestellung ausgelöst werden.
Bundeswehr-Experte: „Ohne Logistik gehen Kriege verloren“
„Logistik gewinnt keine Kriege, aber ohne Logistik gehen Kriege verloren“, schilderte der Befehlshaber des Unterstützungskommando der Bundeswehr, Generalleutnant Gerald Funke, die Herausforderungen einmal. Für die externen Analysten ist klar: Im Ernstfall wird die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft zum „entscheidenden Erfolgsfaktor“ für die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und der Nato.