Denys Surkov: Für Verletzte gibt es drei Kategorien: Alpha, Bravo und Charlie. Der Soldat, von dem Sie berichten, gehörte definitiv nicht zur Kategorie Alpha, denn ein Alpha-Verwundeter stirbt ohne Hilfe innerhalb weniger Stunden. Aktuell benötigen wir an der Frontlinie sechs bis acht Stunden, um einen Verwundeten zu evakuieren – im besten Fall. Im schlimmsten Fall kann es sogar mehrere Tage dauern. Dabei muss man Folgendes verstehen: Die Ukraine befindet sich in diesem Krieg in einer ganz anderen Situation als etwa die US-Truppen im Irak- oder Afghanistan-Krieg. Dort basierte die Logistik auf der Lufthoheit der eigenen Armee, was ihnen eine klare militärische Überlegenheit verschaffte. Die durchschnittliche Evakuierungszeit betrug damals nur eine Stunde.

Die sogenannte goldene Stunde.

Genau, die goldene Stunde. Sie basiert auf der menschlichen Physiologie und bedeutet: Nach einer schweren ballistischen Verletzung bleibt weniger als eine Stunde Zeit, um die Blutung zu stoppen und dem Verwundeten die lebenswichtige Menge Blut zu verabreichen. Dass wir diesen Wert in der Ukraine derzeit kaum erreichen, liegt nicht an uns. Es ist der Unterschied zwischen einem Konflikt niedriger oder mittlerer Intensität, wie es der Irakkrieg war, und einem hochintensiven Krieg, wie Russlands umfassende Invasion.

Heißt das, dass Nato-Staaten in einem Krieg solchen Ausmaßes dieselbe Situation hätten wie die Ukraine jetzt?

Die höchste Zahl an Verwundeten bei der US-Armee in Afghanistan betrug 40 Personen an einem Tag. An der Frontlinie in der Ukraine gibt es keinen Tag mit weniger als 400 bis 600 Verwundeten. Das ist ein Verhältnis von 1 zu 10. Solange die Strukturen zur Rettung Verwundeter in der Nato noch auf dem Niveau von Afghanistan sind, sind ihre Mitgliedsstaaten auf einen großen Krieg nicht vorbereitet.

Wenn man für Alpha-Verwundete, die sofortige Hilfe brauchen, sechs bis acht Stunden benötigt, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen – haben diese Soldaten dann keine Chance?

Sie bilden die Soldaten aus.

Damit Kameraden sich direkt an der Front gegenseitig helfen können?

Genau so muss es sein. Denn medizinisches Personal in den Einheiten wird niemals ausreichend sein. Die Soldaten müssen in der Lage sein, einander zu helfen. Das erfordert aber auch eine sehr gute Logistik. Im Donbass brauchen wir nicht nur eine sichere Versorgungsroute von der Front ins Hinterland, um Verwundete dorthin zu bringen, sondern auch eine sichere Rückroute an die Front, um medizinisches Material zu liefern. In der Ukraine haben wir das bis in die kleinsten Fronteinheiten durchorganisiert. Das ist entscheidend, denn wenn eine Einheit ihre Verletzten nicht versorgen kann, ist sie schnell kampfunfähig.

Ist das wirklich so anspruchsvoll, wie es klingt?

In Afghanistan waren die Soldaten darin trainiert, getroffenen Kameraden einen Druckverband anzulegen. Das reichte, da die Verletzten innerhalb von 15 Minuten in eine Versorgungsstation gebracht und dort endgültig medizinisch behandelt wurden. Das hängt jedoch – noch einmal – von der Kriegsintensität ab. Trainiert die Nato ihre Truppen darin, eine Bluttransfusion durchzuführen? Wir tun das. Können Nato-Soldaten austretendes Blut auffangen? Unsere Soldaten werden darin geschult. Aber das ist nur ein Teil der Herausforderung.

Was ist sonst noch entscheidend?

Die Logistik. Das ist unser Hauptproblem an der Front. Beim Training der Soldaten stehen wir nicht schlecht da, und wir haben auch viele Mediziner. Aber jeder Verletzte der Kategorien Alpha und Bravo muss ins Krankenhaus gebracht werden. Dafür brauchen wir eine funktionierende Logistik. Der menschliche Körper kann nicht warten. Wenn der hämorrhagische Schock einsetzt, …

… also zu wenig Blut zirkuliert, um die Organe ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen …

… dann kann man nicht einfach sagen: „Moment, warte kurz.“ Wenn wir es nicht schaffen, diese Menschen rechtzeitig in die Klinik zu bringen, verlieren wir viele von ihnen. Daher müssen alle Faktoren stimmen: Ressourcen, Logistik, Vorbereitung der Menschen und auch ethische Aspekte.

Deutschland wäre in einem möglichen Nato-Konflikt mit Russland kein Frontstaat, sondern eher ein großes Logistik-Drehkreuz für Truppentransporte und die Versorgung Verwundeter. Wie könnte sich Deutschland besser darauf vorbereiten?

Ich wiederhole: Logistik muss resilient sein. Denn Logistik ist das Erste, was Putin zerstört. Sehr sinnvoll ist zudem Zusatztraining für medizinisches Personal. Eine ballistische Wunde, also eine Verletzung durch schwere Kriegswaffen, unterscheidet sich grundlegend von einer „zivilen“ Wunde. Es handelt sich um eine sogenannte Hochenergie-Verletzung. Nehmen wir als Beispiel eine durchdringende Brustwunde. Von außen kann sie wie ein Messerstich oder eine Schusswunde aussehen, doch im Brustkorb verhält sie sich ganz anders. Die Energie verteilt sich und verletzt deutlich mehr Organe.

Ein weiteres Beispiel?

Sehr gern.

Die Russen setzen in der Ukraine bereits chemische Waffen ein. Eine Verwundung durch eine thermobarische Waffe unterscheidet sich wiederum von einer ballistischen Verletzung. Andere Energie, andere Temperatur, ganz andere Wirkung. Die Lunge wird schwer geschädigt, es fühlt sich an, als würde sie sich mit Blut füllen. Die Folge ist akute Atemnot. Die Verletzung ähnelt einer schweren stumpfen Verletzung, als wäre man aus dem dritten Stock gefallen.

Was sollte die deutsche Zivilbevölkerung können?

Man sollte damit beginnen, alle Menschen zu schulen. Einfache Kurse wie „Stop die Blutung“ und das Anlegen eines Druckverbands helfen schon enorm. An jedem öffentlichen Ort in Deutschland, an dem ein Defibrillator hängt, sollte auch ein Trauma-Kit verfügbar sein.

Mit Denys Surkow sprach Frauke Niemeyer

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