Im Mena-Watch-Talk diskutiert Thomas von der Osten-Sacken, warum die Debatten über eine Rückkehr syrischer Flüchtlinge an der Realität vorbeigehen. Die Krisen im Sudan und in Mali zeigten, dass der Westen aus seinen Fehlern in Syrien nichts gelernt hat.

Thomas von der Osten-Sacken, der mit seiner Hilfsorganisation Wadi e. V. seit den 1990er Jahren im kurdischen Nordirak tätig ist und nur wenige Wochen nach dem Sturz von Präsident Baschar al-Assad nach Syrien gereist war, um sich ein eigenes Bild von der Lage zu machen, bestätigt die Einschätzung des deutschen Außenministers Johann Wadephul, der nach einem Besuch in Damaskus erklärte, eine Rückführung von Flüchtlingen sei aufgrund der umfassenden Zerstörungen unmöglich. Rund ein Viertel der Hauptstadt sei unbewohnbar; ganze Vororte sind zerstört, teilweise vermint und könnten wahrscheinlich erst nach einem vollständigen Neuaufbau wieder nutzbar sein.

Die durch die Verwüstungen bedingte dramatische Wohnungsnot führe zu explodierenden Mieten. Millionen Vertriebene leben weiterhin in Lagern oder bei Verwandten, eine Rückkehr in ihre alten Häuser sei in vielen Fällen nicht möglich, weil diese heute von Geflüchteten aus anderen Regionen bewohnt werden. Hinzu kommen die Folgen ethnischer Säuberungen und Spannungen zwischen Bevölkerungsgruppen, die neue Konflikte entfachen.

Kein Frieden, sondern ein fragiles Machtgefüge

Zwar ist Assad gestürzt, doch bedeutet das keineswegs, dass in Syrien ein stabiler Frieden herrsche. Die neue Interimsregierung kontrolliert Osten-Sacken zufolge nur Teile des Landes; andere Regionen stehen unter kurdischer Selbstverwaltung (Rojava), unter lokaler Kontrolle der Drusen oder unter dem Einfluss von nach wie vor existierenden Milizen.

Die Zukunft des Landes sei ungewiss, aber immerhin habe es nach dem Sturz des Assad-Regimes wenigstens eine Zukunft: »Man kann jetzt, nach fast einem Jahr, immerhin sagen, das Leben in Syrien ist heute ungleich besser für ungleich viel mehr Menschen, als das unter Assad war.« Übrigbleiben müsse im Hinblick auf die aktuell wieder heiß diskutierte Flüchtlingsproblematik aber eine bittere Einsicht: »Hätte man Assad vor zehn oder zwölf Jahren gestürzt, auch mit westlicher Unterstützung, wäre es nie zu dieser Flüchtlingskatastrophe gekommen.«

Illusionen der europäischen Debatte

In Europa werde die Lage oft stark vereinfacht dargestellt. Forderungen, syrische Flüchtlinge müssten jetzt in ihre Heimat zurückkehren und »beim Wiederaufbau helfen«, seien historisch falsch und politisch zynisch. Vergleiche mit Deutschland nach 1945 ignorieren völlig die Realitäten moderner Wiederaufbauprozesse und die Rolle großer Bauunternehmen. »Da redet Deutschland, wie ganz oft im Nahen Osten, über sich selbst. Das ist ein großes Selbstgespräch, egal, ob Bagdad Stalingrad ist oder Gaza das Warschauer Ghetto. Da pflegt man immer über seine eigene Vergangenheit zu reden, aber nicht über die Realität vor Ort.«

Aufgrund des rechtlichen Status der syrischen Flüchtlinge in Deutschland könne der überwiegende Teil von ihnen erst nach komplizierten und Jahre in Anspruch nehmenden Verfahren dazu gezwungen werden, nach Syrien zurückzukehren. Zudem zeige die Erfahrung, dass die Rückkehrbereitschaft am höchsten bei Menschen mit sicherem Aufenthaltsstatus oder Staatsbürgerschaft sei, da nur sie gefahrlos reisen können. Die geltenden Regeln verhindern sogar Erkundungsreisen von potenziellen Heimkehrern, da ihnen der Verlust ihres Schutzstatus drohe: »Wenn man Leute loswerden will, was nicht mein Anliegen ist, aber wenn man Leute loswerden will, soll man sie einbürgern. Das ist die größte Sicherheit, dass sie zurückkehren.«

Anders als in der deutschen Debatte vielfach behauptet, habe die große Mehrheit der Syrer nicht nach Europa flüchten wollen, sondern wollte möglichst im eigenen Land oder zumindest in der Region bleiben. Erst als die internationale Unterstützung für Flüchtlinge in der Türkei, im Libanon und in Jordanien drastisch gekürzt und als klar wurde, dass der Westen beim Sturz Assads nicht behilflich sein werde und die militärische Lage durch die Intervention Russlands 2015 eskalierte, sei vielen Flüchtlingen nichts mehr anderes übriggeblieben, als die Region zu verlassen und sich auf den Weg nach Europa zu machen.

Als größtes Versäumnis des Westens bezeichnet Osten-Sacken das Ausbleiben einer Reaktion auf Assads Giftgaseinsatz im Jahr 2013. Damit sei jede Hoffnung auf ein schnelles Ende des Regimes verflogen. Die Flüchtlingskatastrophe von 2015 sei zu einem nicht geringen Teil von Europa mitverursacht worden und habe Ländern wie Russland oder Belarus ein Mittel in die Hände gegeben, mit dem Europa unter Druck und gezielt destabilisiert werden konnte.

Nichts gelernt

Aus der Sicht von Osten-Sacken habe Europa es verabsäumt, aus dem Scheitern in Syrien Schlüsse zu ziehen, was sich aktuell an Krisenherden wie im Sudan und in Mali zeige, das kurz davorstehe, unter die Kontrolle von al-Qaida zu fallen. In ganzen Regionen würde die staatliche Ordnung zusammenbrechen und durch die Herrschaft von parastaatlichen Akteuren ersetzt, die in aller Regel von Russland oder den Golfstaaten unterstützt würden.

Europa reagiere meist zu spät und kontraproduktiv, etwa, indem es zur Unterdrückung von Fluchtbewegungen Vereinbarungen mit Warlords wie zum Beispiel General Haftar in Ost-Libyen treffe – und sich damit von ihnen abhängig und durch sie oder deren internationale Unterstützer erpressbar mache.

Fokus Wiederaufbau

Statt sich in realitätsfernen Diskussionen über Massenabschiebungen von syrischen Flüchtlingen zu ergehen, die so nie geschehen und nur ein weiteres Mal den Eindruck erwecken werden, die Politik bekomme gar nichts auf die Reihe, sollten Deutschland und Europa sich am dringend nötigen Wiederaufbau Syriens beteiligen. Wenn man schon unbedingt Parallelen zur Zeit nach 1945 ziehen wolle, sollte man an eine Neuauflage des Marshall-Plans denken.

Die Kernpunkte einer europäischen Syrien-Politik sollten darüber hinaus die Stärkung der Zivilgesellschaft sein und die Unterstützung föderaler Modelle, die den Bedürfnissen von Kurden, Drusen, Sunniten und Alawiten Rechnung tragen.

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