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Wachstum, Innovation, konventionelle Waffen – darin sieht Christian Freuding die Zukunft der Bundeswehr; in allem, was der Armee seit Jahren fehlt.

Berlin – „Jeder Tag zählt, und wir haben wenig Zeit“, sagt Christian Freuding. Gegenüber der Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) hat der Generalleutnant der Bundeswehr gewarnt, dass Wladimir Putin kaum „auf unsere Fertigmeldung“ warten würde, so der neue Inspekteur des Heeres. Freuding ist seit Oktober der oberste Soldat der aus 63.000 männlichen und weiblichen Soldaten bestehenden Teilstreitkraft – die mit Sicherheit die Hauptlast eines militärischen Konflikts zwischen der NATO und Russland zu tragen hätte. Wie der Ukraine-Krieg beweist. „Vielleicht ist dieser Sommer der letzte Sommer, den wir noch im Frieden erleben“, hatte vor wenigen Wochen ein Experte gewarnt.

Generalleutnant Dr. Christian Freuding und Wladimir Putin Montage

„Wir sind bereit für den Fight tonight“, hat Generalleutnant Dr. Christian Freuding der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in den Block zitiert. Sein Vorgänger als Inspekteur des Heeres der Bundeswehr war da deutlich skeptischer. © RUSSIAN PRESIDENTIAL PRESS OFFICE/AFP; dpa/Kay Nietfeld

Sönke Neitzel unterstrich diese Warnung in einem Interview mit der Bild. Deutschlands profiliertestem Militärhistoriker zufolge sei in Litauen die Angst umgegangen, das russische Herbstmanöver Sapat-2025 zusammen mit Belarus habe für die Russen die Blaupause für eine Offensive auf das Baltikum bedeutet. Demnach habe sich Wladimir Putins Invasionsarmee nach dem völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine womöglich auf ihren nächsten Einsatz eingeschossen. Für Freuding hat neben der Einsatzbereitschaft der bestehenden Kampftruppen vor allem die Mobilisierung der wehrfähigen Bevölkerung Priorität, wie er gegenüber der F.A.Z. klargestellt hat: „Wir müssen wachsen, dafür schafft der Gesetzgeber mit dem neuen Wehrdienstgesetz Voraussetzungen“, so der promovierte Offizier.

NATO glaubt, „dass russische Streitkräfte Tallinn und Riga innerhalb von 36 bis 60 Stunden erreichen würden“

Verschiedenen Experten zufolge blieben der nordatlantischen Verteidigungsallianz noch fünf bis zehn Jahre. Die ersten Prognosen einer wahrscheinlichen Attacke Russlands auf die westliche Wertegemeinschaft waren schon vor mehr als einem Jahr laut geworden – seitdem agiert die NATO hektisch: Um die Nachrüstung mit Drohnen balgen sich verschiedene ins Kraut geschossene Start-ups; um den Dienst an der Waffe streiten sich erbittert die ältere Generation, beispielsweise die eines Markus Söder (CSU), Jahrgang 1967, und die betroffene Generation, beispielsweise die eines Otto Ellerbrock, der mit seinen 16 Jahren Kreisschülersprecher des Landkreises Lüneburg ist und ebenso SPD-Delegierter. In der ZDF-Talkshow von Markus Lanz Anfang September trafen deren Ansichten frontal aufeinander.

„Wir sind bereit für den Fight tonight“

Der bayerische Ministerpräsident vertritt die Meinung, die jungen Menschen müssten sich für ihr Land einsetzen, Ellerbrock ficht vehement für die Position, das Land müsse erstmal etwas für die Heranwachsenden bieten. Außenstehende schütteln über solcherlei Debatten die Köpfe: „Moskaus Planung für künftige militärische Konflikte wird im Westen nur unzureichend verstanden“, schreiben Florence Glaub und Andrew Monaghan. Auf dem politischen Blog Engelsberg Ideas erläutert die Analystin des NATO Defense College und der Wissenschaftler des britischen Thinktanks „Royal United Services Institute“ (RUSI) ihre Ansicht darüber, dass der Westen aus dem Ukraine-Krieg lernen könnte, mit dem Schlimmsten zu rechnen.

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Den genauen Zeitpunkt vorherzusagen, ist nach wie vor die größte Herausforderung strategischer Vorausschau, und die Art, den Verlauf und die Dauer des nächsten Krieges korrekt einzuschätzen, ist noch schwieriger“, schreiben sie. Nicht zuletzt aufgrund des technologischen Fortschritts, der sich schneller durch den aktuellen Kriegsverlauf fräst als in den beiden vorherigen Großkriegen. Der kommende Krieg würde durch Rasanz geprägt – was die NATO auch bereits mindestens seit der Annexion der Krim 2014 ins Kalkül zieht: „Einflussreiche Planspiele legten nahe, dass russische Streitkräfte Tallinn und Riga innerhalb von 36 bis 60 Stunden erreichen würden“, so die Autoren. Für Freuding bedingt das die dritte Säule eines Widerstands, der Russland von vornherein von einer Offensive abhielte.

Lehre aus Ukraine-Krieg: „Innovation hat eine völlig neue Bedeutung für Landstreitkräfte gewonnen“

„Innovation hat eine völlig neue Bedeutung für Landstreitkräfte gewonnen. Ich will, dass wir diese Innovation von unten leben“, donnert der oberste Heeressoldat gegenüber der F.A.Z. Markige Töne angesichts des Desasters mit den digitalen Funkgeräten für das Heer, dem von Pannen befallenen Puma-Schützenpanzer oder den dilettantischen Ergebnissen der Drohnen-Tests der hochgelobten deutschen Innovations-Unternehmen. Von den Katastrophen-Korvetten der Marine oder dem chronischen Clinch mit Frankreich wegen eines gemeinsamen Zukunfts-Kampfjets ganz abgesehen. „Innovationen entstehen nach meiner Überzeugung immer da, wo taktische Führer – also Zugführer, Kompaniechefs – ein taktisches Problem zu lösen haben und dann die Lösung dafür finden“, so Freuding in der F.A.Z..

Böse formuliert: Freuding setzt auf die Improvisationstalente seines Unteroffiziers- und Offiziers-Korps. „Wir sind bereit für den Fight tonight“, betiteln die F.A.Z.-Autoren Peter Carstens und Konrad Schuller das Interview mit dem Heeres-Inspekteur getreu des Credos des Befragten. In Anbetracht dessen, was die NATO für einen Gegner zu gewärtigen hat, eine mutige, wenn nicht überhebliche Aussage. Bundeswehr-Soldaten haben lernen müssen, Deutschland am Hindukusch zu verteidigen, wie der damalige Bundesverteidigungsminister Peter Struck (SPD) 2002 vollmundig verlangt hat. Das hat dazu geführt, dass beispielsweise der Panzertruppe ihre während des Kalten Krieges erprobte Wehrhaftigkeit aberzogen worden ist. Das Heer stehe „mehr oder weniger blank da“, hatte zu Beginn des Ukraine-Krieges Alfons Mais gesagt.

Kritik an Bundeswehr: „Wenn wir bei den Artilleriesystemen so weitermachen, dauert das über 100 Jahre“

Den Generalleutnant und Vorgänger Freudings als Inspekteur des Heeres stellte die Süddeutsche Zeitung noch Ende 2024 in den Schatten mit der Aussage einer anderen anonymen hochrangigen Quelle aus der Bundeswehr: „Wir sind blanker als blank.“ Laut dem Parlament opponierte der damalige stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Johann Wadephul (CDU) und aktuelle Außenminister schärfer gegen die lahmende Zunahme der „Kriegstüchtigkeit“ – er zitierte aus einer Studie des „Instituts für Weltwirtschaft“ in Kiel: „Wenn wir bei den Artilleriesystemen so weitermachen, dauert das über 100 Jahre“. Sollte sich Kiew jetzt den Forderungen von US-Präsident Donald Trump beugen und das Ende des Krieges durch eine teilweise Kapitulation provozieren – wie wollte der Westen reagieren?

Vor allem deshalb, weil Freuding gegenüber der F.A.Z. berichtet, dass die russische Rüstungsindustrie weiter unter Volllast laufe –ungeachtet der militärischen oder der diplomatischen Lage. Vor allem auch unter der offensichtlichen Annahme der militärischen NATO-Führung, dass ein kommender Krieg konventioneller als der in der Ukraine geführt würde: Panzer, Schützenpanzer oder Haubitzen „würden eine grö­ßere Rolle spielen, weil sie in der Kriegsführung, auf die wir uns vorbereiten, von Luftwaffe und Luftverteidigung geschützt würden. So wären wir zu beweglicher Kriegsführung fähig“ – also dem Gefecht der verbundenen Waffen; auf das sich die Bundeswehr seit Jahrzehnten vorbereitet; aber in dem sie sich bisher lediglich im Manöver hat schlagen müssen.

Florence Glaub und Andrew Monaghan halten den Horizont der Möglichkeiten für breiter, als Freuding nach außen darstellt. Die zwei bestimmenden Szenarien sehen Russland einen begrenzten militärischen Konflikt im Baltikum entfachen oder in NATO-Territorium vorrücken durch die Suwałki-Lücke – die schmale Landzunge, die die beiden NATO-Partner Litauen und Polen verbindet – flankiert von russischem und belarussischem Territorium. 65 Kilometer Luftlinie trennen die russische Exklave in Kaliningrad von Moskaus Partner Belarus. Laut dem US-Magazin Politico ist dieser Landstrich derzeit der „gefährlichste Ort der Welt“. Glaub und Monaghan warnen ausdrücklich vor der „realen Gefahr“, dass der sich als ein Konsens einschleife in die Planungen gegenüber dem, was Russland vermeintlich vorhat. Russlands Handstreich im Baltikum könnte sich als kolossaler Irrtum herausstellen.

Für die beiden Analysten führe Engstirnigkeit schnurstracks in eine Orthodoxie, „die alle anderen möglichen Szenarien eines Krieges mit Russland außer Acht lässt“, wie sie schreiben. Mit Rückgriff auf Leo Tolstois Epos „Krieg und Frieden“ könne das in eine Situation münden, in der „nichts für den Krieg vorbereitet ist, den alle erwartet haben“. (Quellen: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bild, ZDF, Engelsberg Ideas, Süddeutsche Zeitung, Politico) (hz)