StartseiteKulturLiteratur

DruckenTeilen

Der damalige US-Präsident George W. Bush (li.) bespricht sich mit Wladimir Putin beim Nato-Gipfel in Bukarest.

George W. Bush (li.) bespricht sich 2008 mit Wladimir Putin beim Nato-Gipfel in Bukarest. © imago images

Gloger und Mascolo analysieren das Scheitern der Russlandpolitik. Doch sie blenden die Rolle der USA und der Nato aus. Von Helmut W. Ganser

Kritische Kommentare zur deutschen Russlandpolitik unterstellen häufig, die Sicherheitspolitik der Bundesregierungen gegenüber Moskau sei nach dem Kalten Krieg eigenständig und unabhängig von den westlichen Bündnispartnern gestaltet worden. In Wirklichkeit korrespondierte sie, vom Nato-Gipfel in Bukarest 2008 abgesehen, mit der von den USA dominierten Nato-Strategie gegenüber Moskau. Wer also vom Versagen der deutschen Russlandpolitik in diesem Zeitraum spricht, müsste fairerweise die deutsche Nabelschau verlassen und vom Versagen der amerikanischen bzw. der kollektiven westlichen Diplomatie gegenüber Moskau sprechen.

In den 2000er Jahren war es die gemeinsame Absicht der Nato, Russland im Zuge der Nato-Erweiterungsrunden in die Kooperation mit der Allianz einzubinden. Der Nato-Russland-Rat war das zentrale Gremium im Nato-Hauptquartier für Konsultation und Kooperation. Die Einbindungspolitik war ein vernünftiger und notwendiger Versuch, die Nato-Erweiterung abzufedern, insbesondere nach der Aufnahme der baltischen Staaten 2004, die von Moskau vehement abgelehnt worden war. Die Kooperation im Nato-Russland-Rat hat nie wirkliche Substanz erhalten und das lag auch an den Nato-Staaten.

Zur Person

Helmut W. Ganser, Brigadegeneral a.D., Diplom-Psychologe und Diplom-Politologe. Ganser war zwischen 2001 und 2008 im Verteidigungsministerium und in der deutschen Nato-Vertretung in Brüssel mit der deutschen Russlandpolitik befasst. Er war Teil der deutschen Delegation beim Nato-Gipfel 2008 in Bukarest.

Katja Gloger, Georg Mascolo:
Das Versagen. Ullstein 2025.
496 Seiten. 26, 99 Euro.

Die Osteuropäer in der Allianz haben die Einbindung Russlands in die Nato nie ernsthaft unterstützt. Noch 2010 schlugen der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe und der frühere Generalinspekteur Klaus Naumann im „Spiegel“ vor, eine stärkere Einbindung Russlands zu ermöglichen, sogar bis hin zur Option der Nato-Mitgliedschaft. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2014 sind rückblickend in Berlin gravierende Fehler gemacht worden, insbesondere bei der weitgehenden Abhängigkeit von Gaslieferungen und dem Verkauf der Speicher an Gasprom, sowie der schwachen Unterstützung der Ukraine im militärischen Bereich.

Der Bestseller von Katja Gloger und Georg Mascolo ist eine durchaus lesenswerte politische Erzählung, die aber nicht den Anspruch einer historischen bzw. zeitgeschichtlichen Analyse beanspruchen kann. Im Text springen die Autoren zeitlich hin und her, vermutlich um zu belegen, dass Putin schon vor 25 Jahren bei seiner Rede im Bundestag aggressiv-imperialistische Ansichten in Europa hegte, die sich ab 2014 im Versuch der militärischen Niederwerfung der Ukraine voll materialisiert haben.

Beim Lesen entsteht der Eindruck, dass die Hypothese des Versagens am Anfang des Buchprojekts feststand und die Auswahl von Fakten und Ereignissen das vorgefasste Urteil des Versagens bestätigen sollten. Das mag eine legitime Vorgehensweise sein, die Autoren können aber nicht beanspruchen, eine differenzierte Analyse mit Wahrheitsanspruch vorgelegt zu haben. Die Autoren blenden in ihrer „investigativen Geschichte“ aus, dass die USA ab den 2000er Jahren keine Rücksicht mehr auf russische Sicherheitsinteressen genommen haben, was zu erheblichen Störungen im Nato-Russland-Verhältnis führte. Washington war zum Beispiel entschlossen, strategische Raketenabwehrsysteme auch in Osteuropa mit der Begründung zu stationieren, dies sei zum Schutz gegen das iranische Raketen- und Atomwaffenprogramm notwendig. Über diese amerikanische „Missile Defense“ gab es harte Kontroversen im Nato-Russland-Rat. Der russische Botschafter warf den USA vor, dass sie mit ihrer Raketenabwehr perspektivisch auf eine Neutralisierung des strategischen russischen Abschreckungspotentials zielten.

Dem Nato-Gipfel in Bukarest im Frühjahr 2008, der im Rückblick eine Wegscheide im Nato-Russland-Verhältnis ist, widmen die Autoren ein ganzes Kapitel. Die korrekte Darstellung der Verhandlungsdynamik folgt im Wesentlichen der „Spiegel“-Titelgeschichte „Der Tag, an dem der Krieg begann, Rekonstruktion eines fatalen Irrtums“ vom September 2023.

2007 hatte die Bush Administration überraschend ihre vorherige ablehnende Position zur Aufnahme der Ukraine in den „Membership Action Plan (MAP)“ geändert, was von osteuropäischen Staaten enthusiastisch begrüßt wurde. In der Bundesregierung bestand demgegenüber die einhellige Position, dass die Ukraine nicht in den MAP aufgenommen werden konnte. Denn das Land war innerlich tief in West und Ost gespalten und es war abzusehen, dass damit der Boden für die russische Einmischung auf der Krim und im Osten der Ukraine bereitet würde. So hatte es der amerikanische Botschafter in Moskau, William J. Burns 2008 vor dem Gipfel nach Washington gekabelt. Auch Frankreich und weitere Staaten lehnten den MAP für die Ukraine ab, hielten sich im Ringen um Formulierungen in der Gipfelerklärung aber leider zurück, versteckten sich hinter der Kanzlerin.

Die letztlich von Angela Merkel mitgetragene Kompromissformulierung „Wir kamen heute überein, dass diese Länder (Ukraine und Georgien) Nato-Mitglieder werden“ wurde von Nato-Experten in der deutschen Delegation, die draußen vor der Tür warteten, erstaunt und mit Befremden zur Kenntnis genommen. Zwar kein MAP, aber eine Aussage, die eigentlich über den MAP hinausging, war schwer nachvollziehbar. Eine unselige Formulierung, die in den nachfolgenden Jahren von osteuropäischen Regierungen immer wieder als „holy Nato language“ in Nato-Gipfelerklärungen hineingedrückt wurde und Kontroversen produzierte.

Wer heute zurückblickend behauptet oder nahelegt, die Ablehnung der Aufnahme der Ukraine in den MAP sei ein fataler Irrtum gewesen, sollte fiktiv nachvollziehbar darlegen können, dass ein anderer Weg zu stabileren Verhältnissen in Europa geführt hätte. Gloger und Mascolo skizzieren in ihrem Buch solche alternativen Szenarien in ihren Chancen und Risiken nicht. Zudem sprechen sie im Blick auf den Georgienkrieg 2008 historisch unkorrekt schlicht vom russischen Einmarsch. Sie verschleiern dabei, dass es der hitzköpfige georgische Präsident Saakaschwili war, der den Krieg entfacht hatte, mit Feuerüberfällen der georgischen Armee auf die russischen Friedenstruppen mit OSZE-Mandat im georgischen Süd-Ossetien. In der investigativen Recherche hätte dazu der aufschlussreiche Tagliavini-Bericht für die EU von 2009 berücksichtigt werden müssen, in dem die tatsächlichen Abläufe dargestellt werden.

Zurück zur Grundbotschaft der Autoren, dass Putin seit Übernahme der Präsidentschaft 2000 imperiale Absichten verfolgt habe und die deutsche Außenpolitik ihm von Anfang an auf den Leim gegangen sei. Dem kann eine etwas andere, differenziertere Erzählung entgegengestellt werden. Die Wiederherstellung des sowjetischen Raums unter russischer Führung könnte vom Beginn seiner Präsidentschaft an eine latente Disposition in den politischen Einstellungen Putins gewesen sein. Materialisiert hat sie sich aber erst später, in erbitterter Reaktion auf die von Washington dominierte Erweiterungs- und Ukrainepolitik der USA und der Nato. Die USA und der Westen haben auf diese Weise einen unterschwelligen russischen Imperialismus stimuliert. Hierin liegt das Versagen des Westens und dessen historischer Beitrag zum für Europa gefährlichen Absturz der Beziehungen zu Russland. Wenngleich das nichts, rein gar nichts an der vollen Verantwortung Putins für den völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine ändert. Für den es keine Rechtfertigung gibt.