Kristi Raik, Leiterin des estnischen Think Tanks ICDS, erklärt in unserem „5-Fragen-an-Interview”, warum sie wenig von apokalyptischen Narva-Szenarien hält, weshalb Russland derzeit kein NATO-Land angreifen wird und wie Estland die europäische Sicherheitsordnung im Krieg neu definiert.

Frau Raik, kürzlich hat die Trump-Administration beschlossen, die angeforderten Tomahawk-Marschflugkörper doch nicht an die Ukraine zu liefern. Welche Auswirkungen hat diese Entscheidung aus Ihrer Sicht auf die militärische Lage und welche Präferenzen verfolgt Estland insgesamt bei den Waffenlieferungen an die Ukraine, auch im Hinblick auf seinen Beitrag zur priorisierten Ukraine-Bedarfsliste der NATO?
Die Lieferung von Tomahawk-Marschflugkörpern hätte keine unmittelbaren Auswirkungen auf die militärische Lage, da es mindestens ein Jahr dauern würde, bis die Ukraine das System einsetzen könnte. Psychologisch war der Rückzug jedoch ein negatives Signal, zumal Russland seine Drohungen zu diesem Zeitpunkt intensivierte. Andererseits setzen die neuen US-Sanktionen Russland spürbar unter Druck.

Trotz der jüngsten Diskussionen über die mögliche Einnahme der Stadt Pokrowsk beobachten wir weiterhin eine Art Patt, geprägt von schweren Verlusten, vor allem auf russischer Seite, und intensiven Kämpfen. Weder erzielt Russland bedeutende Geländegewinne noch kann die Ukraine größere Gebiete zurückerlangen. Für die Ukraine wäre es entscheidend, weitreichende Fähigkeiten zu erhalten, um kritische russische Infrastruktur ins Visier nehmen und so die russischen Kriegsanstrengungen schwächen zu können. Die sogenannte Koalition der Willigen, eine Gruppe von 33 Staaten unter französischer und britischer Führung, hat über solche dringend benötigten Kapazitäten beraten und ihre Bereitstellung zugesagt.

Kurzfristige Veränderungen sind nicht zu erwarten, dennoch gewinnt das sogenannte dänische Modell an Bedeutung. Es sieht vor, Teile der ukrainischen Verteidigungsindustrie in europäische Länder zu verlagern. Estlands jüngster Beitrag zur PURL, einer regelmäßig aktualisierten Übersicht der für die ukrainische Verteidigung am dringendsten benötigten militärischen Fähigkeiten, beträgt zwölf Millionen Euro. Innerhalb Europas gab es hierzu eine kontroverse Debatte, da die im Rahmen des Programms beschafften Waffensysteme ausschließlich in den USA hergestellt werden. Estland hält das angesichts der aktuellen Bedarfe jedoch für unvermeidlich, da bestimmte Systeme nun einmal nur dort verfügbar sind.

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Im März dieses Jahres veröffentlichte der deutsche Politikwissenschaftler Carlo Masala eine Analyse mit dem Titel „Wenn Russland gewinnt”, die häufig als Narva-Szenario zusammengefasst wird und eine mögliche russische Besetzung der estnischen Grenzstadt Narva beschreibt. Wie schätzen Sie dieses Szenario ein und müssen die estnischen Streitkräfte ihre Abschreckungsfähigkeiten weiter erhöhen?
Das Buch hat in Estland große Aufmerksamkeit erregt, doch die Darstellung des Szenarios wird überwiegend als problematisch bewertet. Es scheint vor allem darauf abzuzielen, einem deutschen Publikum die russische Bedrohung für die NATO vor Augen zu führen. Das Szenario ist jedoch weder realistisch noch hilfreich, da es offensichtlich nicht auf einer fachlichen Einschätzung der estnischen Vorbereitungen beruht.

Eine Wiederholung der Geschehnisse von 2014 in der Ukraine mit sogenannten kleinen grünen Männern ist aus drei Gründen ausgeschlossen. Erstens aufgrund der Stärke des estnischen Nachrichtendienstes. Zweitens aufgrund der NATO-Mitgliedschaft Estlands. Drittens aufgrund spezifischer militärischer Fähigkeiten des Landes. Russland weiß, dass es im Falle eines Eindringens auf estnisches Territorium der gesamten NATO gegenüberstünde und dass Estland eine entschlossene militärische Antwort angekündigt hat, gestützt auf Fähigkeiten für weitreichende Schläge und Luftverteidigung. Anders als 2022 würden heute vorliegende Hinweise auf eine mögliche russische Invasion sehr viel ernster genommen.

Zudem ist ein solches Szenario in naher Zukunft extrem unwahrscheinlich, weil Russland auf absehbare Zeit in der Ukraine gebunden bleibt. Das Buch hat in Estland dennoch für Verärgerung gesorgt, weil es ein Bild der Resignation zeichnet und eine angebliche Unvermeidbarkeit russischer Aggression gegenüber den baltischen Staaten suggeriert. Estland betont deshalb, dass es integraler Teil der NATO ist und nicht ein abgelegenes Randgebiet. Russland hat kein strategisches Interesse daran, ein NATO-Land anzugreifen, wohl aber daran, die Glaubwürdigkeit des Bündnisses infrage zu stellen. Trotz bestehender Unsicherheiten in der US-Politik wird Russland nicht das Risiko eingehen, ein Mitglied der Allianz zu attackieren.

Letzten Monat verletzten russische Militärflugzeuge für zwölf Minuten den estnischen Luftraum, bis NATO-Jets im Rahmen der Baltic Air Policing Mission sie abdrängten. Wie häufig treten solche Vorfälle auf? Sollte die NATO-Mission Ihrer Meinung nach ein stärkeres Mandat erhalten, das im Extremfall auch den Einsatz tödlicher Gewalt vorsieht?
Estland ist beim Schutz seines Luftraums vollständig auf die NATO angewiesen, da es keine eigenen Luftstreitkräfte besitzt. Der Vorfall erregte erhebliche Aufmerksamkeit und führte zu kontroversen Forderungen, in solchen Fällen auch Gewalt anzuwenden. Die offizielle Reaktion fiel jedoch deutlich zurückhaltender aus. Man betonte, dass die Situation jederzeit unter Kontrolle gewesen sei und die Mission ihre Aufgabe erfüllt habe, indem die russischen Flugzeuge sofort abgefangen wurden. Zudem führten diese keine Sprengköpfe, weshalb die NATO-Regeln für den Waffeneinsatz korrekt angewendet wurden.
Russland nutzt weiterhin den Graubereich unterhalb der Schwelle offener Gewalt, testet Reaktionen und betreibt militärische Nadelstiche. Im konkreten Fall musste Russland jedoch zur Kenntnis nehmen, dass die NATO-Mission in Estland funktioniert und sowohl Bereitschaft als auch Fähigkeiten gegeben sind. Innerhalb der NATO hat der Vorfall eine Diskussion ausgelöst. Die öffentlichen Äußerungen von Generalsekretär Mark Rutte lassen erkennen, wie schwierig es ist, eine einheitliche Position zu geeigneten Reaktionen in ähnlichen Szenarien zu finden.

Nach dem NATO-Beitritt Finnlands blieb Helsinki in der Frage der nuklearen Beteiligung ambivalent und behielt sich die Option vor, die eigene Luftwaffe künftig mit taktischen Atomwaffen auszurüsten. Wie positioniert sich Tallinn in dieser Frage und wie wird die europäische Debatte über eine mögliche Ausweitung des französischen nuklearen Schutzschirms wahrgenommen?
Die Frage der nuklearen Teilhabe Estlands ist vollständig an die NATO gebunden. Es gibt keinerlei Diskussion über eigene Kapazitäten, schon wegen des Fehlens nationaler Luftstreitkräfte, anders als in Finnland. Die jüngsten Aussagen von Präsident Emmanuel Macron zur möglichen Ausweitung des französischen Nuklearschirms auf Deutschland bleiben unkonkret. Es handelt sich eher um eine theoretische Debatte, da keine Anzeichen dafür bestehen, dass Frankreich seine Nukleardoktrin verändert. Für Estland bleibt die nukleare Abschreckung eindeutig eine NATO-Frage.

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Die estnische Politikerin Kaja Kallas ist bis 2029 Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsidentin der Europäischen Kommission. Welche Auswirkungen hat dies in Kriegszeiten auf Estlands Außen- und Sicherheitspolitik und wie bewertet Estland die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU?
Die Rolle von Kaja Kallas in der Europäischen Union ist für Estland von großer Bedeutung. Möglich wurde ihre Wahl erst durch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Sie war zuvor als Ministerpräsidentin Estlands eine prägende Stimme der baltischen Perspektive. Davor war sie unter anderem Abgeordnete im estnischen Parlament und Mitglied des Europäischen Parlaments.

Die Entscheidungsfindung der EU-Außenpolitik beruht auf Einstimmigkeit und damit auf Konsensbildung. Insofern handelt Kallas heute zurückhaltender als in ihrer früheren nationalen Rolle. Dennoch hat sie maßgeblich dazu beigetragen, das europäische Narrativ zum Krieg zu prägen. Gleichzeitig begrenzen das Konsensprinzip sowie die starke Stellung der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihren Handlungsspielraum.

Estlands Position hat sich seit 2022 parallel zur Entwicklung der EU-Politik verändert. Die frühere Schwerpunktsetzung der GSVP auf Einsätze in weiter entfernten Regionen wie Afrika ist zurückgetreten. Estland unterstützt heute die GSVP aktiv und sieht sie als Ergänzung zur NATO. Außerdem setzt sich Estland dafür ein, der Ukraine mehr finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, etwa über ein gemeinsames EU-Darlehen für verteidigungsrelevante Ausgaben.

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