Bis heute will die hebräische Literatur nur sehr wenig vom Genozid in Gaza wissen – zu sehr ist sie vom Massaker des 7. Oktober traumatisiert. Aber sie wird sich der Aufgabe stellen müssen
Was, wenn israelische Schriftsteller mit der Kultur der Apartheid brächen?
Grafik: der Freitag
Im Sommer 2008 recherchierte ich für die Gedichtsammlung „‚Tell it not in Gath̒: die palästinensische Nakba in der hebräischen Poesie (1948–1958)“, eine Sonderausgabe der Zeitschrift Tsedek in hebräischer Sprache, veröffentlicht in einem israelischen Verlag. Während der heißen Tage besuchte ich die Nationalbibliothek und weitere Bibliotheken und durchsuchte hebräische Zeitungen und Zeitschriften aus den Jahren 1948–1958, um hebräische Gedichte zu finden, die von der palästinensischen Katastrophe der Vertreibung beeinflusst waren. Doch ich fand nur wenige. Es war deprimierend, aber auch aufschlussreich.
Jetzt ist es zu einem Genozid in Gaza gekommen, und nun frage ich mich, welche Gedichte, Geschichten, Romane, Anthologien von diesem Genozid beeinflusst wurden, den Israel in den letzten gut zwei Jahren begangen hat. Die Ausnahmen kann man an einer Hand abzählen. Bleibt das so? Ich hoffe nicht. Denn bei einer Sache bin ich mir sicher: Künftige Literaturhistoriker werden fragen, welche hebräischen Schriftsteller auf die von ihrem eigenen Volk begangenen Verbrechen Bezug nahmen, sie verarbeiteten, darunter litten
Das nackte Leben
„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ So urteilte der deutsche Philosoph Theodor Adorno in einem oft zitierten Abschnitt seines Werkes Kulturkritik und Gesellschaft von 1949. Der Spruch wurde oft missverstanden, der jüdische Literaturwissenschaftler Peter Szondi hat ihn ergänzt: „Nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz.“ Man kann den Spruch nicht einfach aufs Heute münzen, Israel ist natürlich nicht das Nazideutschland, das Adorno verlassen und überlebt hat. Doch seine beklemmende Aussage grundiert den moralischen Wandel, der nach der Katastrophe in Gaza für die israelische Kultur im Allgemeinen und für Literatur und Poesie im Besonderen notwendig ist.
Die Realität in Israel ist, dass die Menschen ihr Leben fortsetzen und sich nur auf das Massaker vom 7. Oktober beziehen. Sie kennen sehr wohl ihr eigenes Leid, während Zehntausende unschuldige Menschen ohne Grund getötet wurden, Tausende mehr unter den Trümmern liegen – eine ganze Stadt ausgelöscht, ohne Bäume oder Tiere, kein Zeichen von lebenden Wesen, und ihre Bewohner wurden zu lebenden Toten, unfähig, eine einzige Mahlzeit am Tag zu essen, während Gazas Abwasser die Küsten von Tel Aviv erreicht usw.
Godzilla als Spiegelbild
Wer wird darüber schreiben? Und wie? Vor Jahren gab ich in Israel ein Magazin heraus, das sich politischen Comics widmete. Ich lernte, dass Godzilla, der bereits in den 1950er Jahren in japanischen Filmen als eine Art Dinosaurier erschien, durch nukleare Strahlung zum Monster mutiert, ein Symptom für das Schuldgefühl des japanischen Volkes war – aufgrund seiner Allianz mit den Nazis im Zweiten Weltkrieg und seines gescheiterten kolonialen Versuchs, China zu erobern.
Gleichzeitig war Godzilla auch ein Spiegelbild dessen, dass die Japaner selbst Opfer der schrecklichsten aller Waffen geworden waren – der beiden Bomben auf Hiroshima und Nagasaki. Das Monster, das zugleich zerstörerisch und empfindsam war, konnte die beiden widersprüchlichen historischen Erzählungen Japans in sich vereinen. Aber wie kann die israelische Kultur ihre beiden Erzählungen vereinen? Die Tatsache, dass 1.300 Israelis an der Grenze zu Gaza massakriert wurden, und die Tatsache, dass Israel im Gegenzug einen Genozid an dem besetzten palästinensischen Volk in Gaza verübte?
In seinem Buch Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge erklärt der italienische Philosoph Giorgio Agamben das Konzentrationslager Auschwitz zum Paradigma einer Biopolitik, die uneingeschränkte Macht über das Leben hat. Nein, Gaza ist nicht Auschwitz, aber Gaza trägt die Züge eines Konzentrationslagers. Wer Gaza vor dem 7. Oktober mit einem Konzentrationslager verglichen hat, ist auf viel Wut gestoßen, vieles an dem Vergleich schien schief. Aber jetzt sind Hunderttausende Menschen eingesperrt, sie werden ausgehungert und getötet.
Den Bewohnern Gazas die Subjektivität zurückgeben
Die palästinensischen Bewohner Gazas verkörpern das nackte Leben – ohne Rechte, ohne Nahrung, ohne Souveränität, ohne die Fähigkeit, sich zu verteidigen, ohne Hilfe der Welt. Israel hat den Bewohnern Gazas ihre Rechte genommen, sie aus der politischen Sphäre ausgeschlossen und auf Fleisch und Knochen reduziert. Gelegentlich sind ihre Stimmen in den internationalen Medien zu hören, aber sie erhalten nicht die volle Subjektivität, die ihnen zusteht – ganz im Gegensatz zu den israelischen Bewohnern in der Welt.
Was wäre, wenn wir den Bewohnern Gazas diese Subjektivität zurückgäben, indem wir aus dem Bauch des Besatzers schreiben? Die progressive israelische Kultur muss die höchste Kraft an Solidarität erzeugen, die Kultur aufbringen kann (auch wenn es heute nur wenige tausend Juden gibt, die mir zustimmen würden). Was wäre, wenn israelische Schriftsteller mit der Kultur der Apartheid brechen würden – einer Kultur der Enteignung, einer Kultur der Unterdrückung, einer Kultur, die gleichgültig gegenüber dem Leid der indigenen Bevölkerung ist? Was wäre, wenn manche sich gegen den Zeitgeist stellten (oder vielleicht ist dies der Zeitgeist mit Trump und Xi Jinping, Modi und Mohammed bin Salman an der Macht), mit dem Rücken zur Katastrophe des Leidens? Was wäre, wenn sie beginnen würden, den Zeugen zuzuhören?
Menschen, denen Nahrung, Wasser, Leben, Luft, sauberes Wasser, Elektrizität, kurzum: alles, was uns menschlich macht, genommen wurde. Es nicht zu tun, führt nur in eine Richtung: Die Kultur wird unmenschlich. Sie wird barbarisch, wie Adorno sagt. Ich weiß, dass Kulturen nicht immer so schnell reagieren wie Journalisten und Politiker. Aber wie können wir verhindern, dass so etwas wieder passiert? Wie können wir die Mechanismen unserer Kultur so verändern, dass Politiker so etwas nicht noch einmal zulassen können?
Die Verwüstung des Krieges in Gaza nach den Ereignissen des 7. Oktober und die erschütternde Zahl der palästinensischen Opfer haben einen schrecklichen Präzedenzfall für die Menschheit im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts geschaffen. Die immense Zerstörung und die Zehntausenden unschuldigen Palästinenser, die bisher getötet wurden, spiegeln nicht nur die Waffenindustrie wider und nicht nur die fehlende moralische Verantwortung dafür, wer wem Waffen verkauft.
Ein wichtiger Aspekt dieser Gräueltaten ist, dass in der Zerstörung Gazas auch die Zerstörung der israelischen Kultur, Gesellschaft und Politik liegt. Der Wiederaufbau der zerstörten Häuser Gazas wird dauern, möglicherweise viele Jahrzehnte, wenn wir einem UN-Bericht folgen. Aber wie lange wird es dauern, bis Israel erkennt, dass es an einem Genozid beteiligt war? Wie kann die israelische Gesellschaft ihre moralische Stärke wiedererlangen, nachdem sie eine solche Katastrophe geschaffen hat? Kein leichter Satz, ich werde versuchen, ihn zu erklären.
Auch die Opposition zeigt keinen Widerstand gegen die Verbrechen
Ich gehe jede Woche im Istanbuler Stadtteil Tarabya joggen, wo ich ein Schreibstipendium erhalten habe. Die Hitze ist intensiv. Ich bin umgeben von Fischern, die auf dem Beton stehen und warten. Schließlich erreiche ich die Stelle, an der eine palästinensische Flagge hängt und ein Graffito „Free Gaza“ fordert. Ich machte ein Foto für meine Instagram-Story. Ein Familienmitglied fragte mich, was es bedeute. Ich sagte ihm, dass ich glaube, dass wir die Besatzung des palästinensischen Volkes beenden müssen. Er antwortete: „Besatzung?“ Das ist nicht nur ein Versagen seiner eigenen jungen Generation. Es ist das mangelnde Bewusstsein dessen, dass Israel Palästina 1967 besetzte.
Und dass es nach dem Krieg von 1948 das gesamte Mandatsgebiet Palästina – eine britische geopolitische Einheit von 1920 bis 1948 – besetzte. Es dauerte lange, bis ich im Alter von 32 verlernt hatte, was ich zwölf Jahre lang im israelischen Bildungssystem gelernt hatte. Dafür habe ich dem Historiker Ilan Pappé zu danken. Er lud mich und andere Studenten der Universität Haifa in sein Haus in Kirjat Tiw’on ein, wo er uns die palästinensische Erzählung nahebrachte.
Wenn wir verstehen wollen, woher die Samen der anhaltenden israelischen Kriegsverbrechen stammen, finden wir sie in der Art und Weise, wie Israel die Palästinenser 1948 behandelte, als es sie vertrieb, ihr Land und Eigentum mittels kafkaesker Gesetze beschlagnahmte, sie „Terroristen“ nannte, jeden erschoss, der versuchte zurückzukehren, und das Massaker von Deir Yasin durchführte, um andere abzuschrecken.
Es verhängte von 1948 bis 1967 eine Militärherrschaft über palästinensische Dörfer und Städte in Israel, hob dann das Militärregime auf und begann 1967 die Besatzung Palästinas im Westjordanland. Die tiefe Absicht Israels, das internationale Recht nicht anzuerkennen und den internationalen Druck zur Rückkehr der Flüchtlinge von 1948 zu umgehen, war bereits in den frühen Tagen des Staates Israel vorhanden.
Wenn wir verstehen wollen, woher die Samen der anhaltenden israelischen Kriegsverbrechen stammen, finden wir sie in der Art und Weise, wie Israel die Palästinenser 1948 behandelte, als es sie vertrieb
Und heute sehen wir all dies in Gaza verschärft, mit der Waffe des Hungers und einer unerbittlichen Belagerung mit hoch entwickelten militärischen Mitteln, und ohne starken internationalen Druck, das Verbrechen zu stoppen. Israel erkennt die unmenschliche Zerstörung Gazas an seiner Südgrenze nicht an, und auch die israelische Opposition zeigt keinen entschiedenen Widerstand gegen die Kriegsverbrechen.
Die einzige Stimme, die sich vernehmbar gegen Israels Krieg und Besatzung gestellt hat, ist diejenige von Ayman Odeh, einem palästinensischen Bürger Israels, Mitglied der Knesset und Vorsitzender der Chadasch-Ta’al-Partei. „Ich freue mich über die Freilassung der Geiseln und Gefangenen“, schrieb er. „Wir müssen jetzt beide Völker vom Joch der Besatzung befreien. Denn wir wurden alle frei geboren.“ Am 16. Juli 2025 versuchte das israelische Parlament, ihn wegen dieses Social-Media-Posts auszuschließen.
Doch nicht dieser Text machte die extremen Parteien wütend – es war seine Rede in der Knesset: „Nach der Tötung von 53.000 Einwohnern Gazas, darunter 20.000 Kinder, der Zerstörung von Krankenhäusern und Universitäten – wie ist die Lage? Israel ist zu einem Paria-Staat geworden. Auf der ganzen Welt, einschließlich aller westlichen Nationen – was ist hier geschehen? Zwischen Meer und Fluss leben 7,5 Millionen Palästinenser und 7,5 Millionen Juden. Nach dem Sechstagekrieg gab es ein besiegtes Volk und ein glückliches Volk. Nun, nach 600 Tagen, gibt es in beiden Völkern eine überwältigende Mehrheit, die sagt: Ich wünschte, diese 20 Monate hätten nicht stattgefunden. Dies ist eine historische Niederlage der rechten Parteien, die in Gaza besiegt wurden.“
Könnten wir nicht eine vielschichtige Erzählung haben?
Mein Kind, das in Deutschland geboren wurde, traf während unseres gemeinsamen Urlaubs ein israelisches Kind. Sie spielten ein Handyspiel. Dann sahen sie eine Werbung, die um Spenden für Kinder in Gaza bat, und das israelische Kind machte eine obszöne Geste – es zeigte den Mittelfinger. Meine Tochter war schockiert. Wir haben lange darüber gesprochen. Ich erklärte ihr, dass die Palästinenser ihren eigenen Staat wollen, der von Israel besetzt wurde. Doch israelische Kinder haben Schwierigkeiten, mit den Opfern der Handlungen ihrer eigenen Regierung mitzufühlen. Warum? Weil sie eine Erzählung lernen, in der Israelis allein die Opfer des Angriffs vom 7. Oktober sind. Ich leugne dieses Massaker nicht. Aber könnten wir nicht eine vielschichtige Erzählung haben, eine, die anerkennt, dass die Israelis Opfer des 7. Oktober sind, und gleichzeitig anerkennt, dass Israel für einen Genozid verantwortlich ist?
Noch mal, die Zerstörung Gazas ist nicht von Israel zu trennen; sie spiegelt vielmehr die destruktiven Prozesse wider, die die israelische Gesellschaft durchlaufen hat – manchmal bewusst, manchmal unbewusst. Und selbst wir hatten Regeln. Während meiner Grundausbildung als IDF-Soldat lernte ich die Schießbefehle, und es war uns streng verboten, diese zu missachten. Ich kann sie noch auswendig: den Verdächtigen zum Anhalten auffordern und sich identifizieren; „Halt, oder wir schießen“ rufen; demonstrativ die Waffe spannen; zwei Warnschüsse abgeben, die in einem Winkel von 60 Grad abgefeuert werden. Schließlich, wenn der Verdächtige weiter drohte und sich näherte, sollten wir auf die Beine des Verdächtigen zielen. Auf die Körpermitte schießen – um zu töten –, durften wir nur, wenn der Verdächtige uns oder andere eindeutig und unmittelbar gefährdete. Warum geschah das in Gaza nicht mehr?
Im Oslo-Friedensprozess verlor die israelische Gesellschaft ihren moralischen Kompass. Nach der Ermordung Jitzchak Rabins ging es in den Abgrund. Im Jahr 2000 konnte der ehemalige israelische Premierminister Ehud Barak beim Camp-David-Gipfel keine Einigung zur Beendigung des israelisch-palästinensischen Konflikts erzielen. Am Gipfel nahmen auch US-Präsident Bill Clinton und der Vorsitzende der Palästinensischen Autonomiebehörde, Jassir Arafat, teil. Der Gipfel sollte den Konflikt lösen, endete aber erfolglos. Als Barak aus Camp David zurückkam, erklärte er der israelischen Öffentlichkeit: „Es gibt keinen Partner.“
Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung
Niemand stellte die Frage, ob dies Baraks eigenes Scheitern gewesen sein könnte. Vielmehr verfestigte sich in der israelischen liberalen Linken der Glaube, dass auf die Palästinenser nicht zu zählen sei. Und wenn er kein Partner sein kann, dann hat der Palästinenser keinen Körper, keine Seele, keine Menschenrechte – er wird wieder zum Erzfeind, nicht zu einem Menschen.Zwei Monate später erlaubte Barak Ariel Scharon den Besuch des Tempelbergs, trotz Warnungen des Geheimdienstes ISA und von Präsident Arafat, dies nicht zu tun. Die zweite Intifada brach aus. Die israelische Gesellschaft verlor den letzten Rest Glauben an die Existenz eines palästinensischen Partners. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung?
Dieses Vakuum ermöglichte den Aufstieg des heutigen Premierministers Benjamin Netanjahu. Netanjahu weigerte sich während seiner langen Amtszeit konsequent, mit dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas über den Frieden zu sprechen. Unter seiner Führung erstarkte die extreme Rechte, die von „Eretz Israel Haschlema“, von Groß-Israel, träumte. In diesem Messianismus gab es keinen Raum mehr für das Existenzrecht des palästinensischen Volkes neben dem israelischen Volk. Es wurde zu einem „Wir gegen sie“ – gegen die Feinde, die uns zerstören wollen. Menschenrechtsaktivisten wurden zu „Linken“ abgestempelt. Das Westjordanland wurde in den Medien „Judäa und Samaria“ genannt – als gehöre es selbstverständlich zu Groß-Israel.
Nach dem 7. Oktober legitimierte der Krieg gegen die Hamas diesen Prozess der palästinensischen Entmenschlichung weiter.
Ausbruch von Barbarei
Er wurde zur Rechtfertigung dafür, den Feind vollständig zu eliminieren und keine Spur zu hinterlassen. Plötzlich war es möglich, keinerlei Unterscheidung mehr zu machen zwischen der Zivilbevölkerung und bewaffneten Kämpfern der Terrororganisation Hamas.
Noch mal: Die Zerstörung Gazas ist vollständig mit der Zerstörung Israels verflochten – moralisch, emotional, historisch. Selbst wenn wir Gaza wiederaufbauen könnten, bleibt die Frage: Wie viele Jahrzehnte wird es dauern, die jüdisch-israelische Gesellschaft neu aufzubauen, nachdem sie sich in einem Ausbruch von Barbarei selbst zerstört hat? In einem seiner Bücher schreibt der 2001 verstorbene Schriftsteller W. G. Sebald, der im englischen „Exil“ lebte, dass er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinem Vater von seinem Heimatort Wertach (einem katholischen bayerischen Dorf) in die Großstadt München fuhr. Damals dachte Sebald, dass die gewaltige Zerstörung Münchens, das von den Alliierten bombardiert worden war, einfach dem Erscheinungsbild einer Großstadt entspreche: ein Haufen Asche und Staub, Berge von Ziegelsteinen, wie ein Termitenhügel, der Menschheit unbekannt.
Die Wahrnehmung dieses deutschen Jungen – dass eine Großstadt aus Ruinen besteht – hilft mir ein wenig, zu erklären, warum die Zerstörung Gazas auch die Zerstörung der israelischen Gesellschaft widerspiegelt. Gaza ist Teil Israels. Gaza ist eine Fortsetzung Israels, nicht nur wegen der Besatzung Gazas 1967, sondern auch, weil die meisten Bewohner Gazas ursprünglich Bewohner des britischen Mandats Palästina waren, die vertrieben wurden und nicht zurückkehren durften.
Wie viele Jahrzehnte wird es dauern, die jüdisch-israelische Gesellschaft neu aufzubauen, nachdem sie sich in einem Ausbruch von Barbarei selbst zerstört hat?
Netanjahu beschloss bei jeder Gelegenheit, das Massaker in Gaza fortzusetzen, weil er nicht in die israelische Gesellschaft „zurückkehren“ wollte. Er fürchtete die Fortsetzung seiner Korruptionsprozesse, die scharfe Forderung der israelischen Gesellschaft nach einer Untersuchungskommission nach dem Massaker vom 7. Oktober und die anstehenden Wahlen 2026. Er wird auch international von Haftbefehlen bedroht, die ihn vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag bringen sollen.
Anstatt Verantwortung zu übernehmen für die Fahrlässigkeit der israelischen Regierung während des Massakers vom 7. Oktober und in seinen Korruptionsprozessen für seinen Namen zu kämpfen, entschied er sich, weiter Palästinenser zu töten. Es gibt keine andere Art, es zu beschreiben.
Es ist bekannt, dass die Unfähigkeit einer Gesellschaft, sich ihren internen Problemen zu stellen, sie dazu bringt, ihre militärische Macht zu nutzen, um sich als Gesellschaft zu einen. Auch wenn nun auf die Waffenruhe tatsächlich ein Friedensabkommen folgen sollte: Der Genozid in Gaza wird nicht vergessen werden. Er wird als Makel in der Welt sein und uns daran erinnern, dass Israel so lange seinen moralischen Kompass verloren hat, bis es Verantwortung für das übernimmt, was die Regierung Netanjahus getan hat. Und hebräische Schriftsteller, die versuchen werden, diese traurigen Taten und Geschichten in ihren Werken zu vermeiden, werden ihn ebenfalls verloren haben.
Wird es erlaubt sein, über den Genozid aus der jüdischen Gesellschaft heraus zu schreiben? Ich bezweifle es. Wahrscheinlich wird diese Literatur von außen kommen, wie Sebalds Romane, die in Ostengland geschrieben wurden und dem anhaltenden Schweigen über die Verbrechen der Nazis im Zweiten Weltkrieg begegneten. Doch als hebräischer Schriftsteller, der außerhalb Israels lebt, glaube ich, dass das Schreiben über die Zerstörung Gazas eine jüdische Verantwortung ist – ein Versuch, die moralische Fähigkeit des Judentums wiederherzustellen.
Mati Shemoelof (geboren 1972 in Haifa) ist ein israelischer Schriftsteller, Dichter und Kurator, der auf Hebräisch und Deutsch schreibt und seit 2013 in Berlin lebt. Zuletzt erschien von ihm der Roman Der Preis (PalmArtPress 2025)
Genozid in Gaza gekommen, und nun frage ich mich, welche Gedichte, Geschichten, Romane, Anthologien von diesem Genozid beeinflusst wurden, den Israel in den letzten gut zwei Jahren begangen hat. Die Ausnahmen kann man an einer Hand abzählen. Bleibt das so? Ich hoffe nicht. Denn bei einer Sache bin ich mir sicher: Künftige Literaturhistoriker werden fragen, welche hebräischen Schriftsteller auf die von ihrem eigenen Volk begangenen Verbrechen Bezug nahmen, sie verarbeiteten, darunter littenDas nackte Leben„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ So urteilte der deutsche Philosoph Theodor Adorno in einem oft zitierten Abschnitt seines Werkes Kulturkritik und Gesellschaft von 1949. Der Spruch wurde oft missverstanden, der jüdische Literaturwissenschaftler Peter Szondi hat ihn ergänzt: „Nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz.“ Man kann den Spruch nicht einfach aufs Heute münzen, Israel ist natürlich nicht das Nazideutschland, das Adorno verlassen und überlebt hat. Doch seine beklemmende Aussage grundiert den moralischen Wandel, der nach der Katastrophe in Gaza für die israelische Kultur im Allgemeinen und für Literatur und Poesie im Besonderen notwendig ist.Die Realität in Israel ist, dass die Menschen ihr Leben fortsetzen und sich nur auf das Massaker vom 7. Oktober beziehen. Sie kennen sehr wohl ihr eigenes Leid, während Zehntausende unschuldige Menschen ohne Grund getötet wurden, Tausende mehr unter den Trümmern liegen – eine ganze Stadt ausgelöscht, ohne Bäume oder Tiere, kein Zeichen von lebenden Wesen, und ihre Bewohner wurden zu lebenden Toten, unfähig, eine einzige Mahlzeit am Tag zu essen, während Gazas Abwasser die Küsten von Tel Aviv erreicht usw.Godzilla als SpiegelbildWer wird darüber schreiben? Und wie? Vor Jahren gab ich in Israel ein Magazin heraus, das sich politischen Comics widmete. Ich lernte, dass Godzilla, der bereits in den 1950er Jahren in japanischen Filmen als eine Art Dinosaurier erschien, durch nukleare Strahlung zum Monster mutiert, ein Symptom für das Schuldgefühl des japanischen Volkes war – aufgrund seiner Allianz mit den Nazis im Zweiten Weltkrieg und seines gescheiterten kolonialen Versuchs, China zu erobern.Gleichzeitig war Godzilla auch ein Spiegelbild dessen, dass die Japaner selbst Opfer der schrecklichsten aller Waffen geworden waren – der beiden Bomben auf Hiroshima und Nagasaki. Das Monster, das zugleich zerstörerisch und empfindsam war, konnte die beiden widersprüchlichen historischen Erzählungen Japans in sich vereinen. Aber wie kann die israelische Kultur ihre beiden Erzählungen vereinen? Die Tatsache, dass 1.300 Israelis an der Grenze zu Gaza massakriert wurden, und die Tatsache, dass Israel im Gegenzug einen Genozid an dem besetzten palästinensischen Volk in Gaza verübte?In seinem Buch Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge erklärt der italienische Philosoph Giorgio Agamben das Konzentrationslager Auschwitz zum Paradigma einer Biopolitik, die uneingeschränkte Macht über das Leben hat. Nein, Gaza ist nicht Auschwitz, aber Gaza trägt die Züge eines Konzentrationslagers. Wer Gaza vor dem 7. Oktober mit einem Konzentrationslager verglichen hat, ist auf viel Wut gestoßen, vieles an dem Vergleich schien schief. Aber jetzt sind Hunderttausende Menschen eingesperrt, sie werden ausgehungert und getötet.Den Bewohnern Gazas die Subjektivität zurückgebenDie palästinensischen Bewohner Gazas verkörpern das nackte Leben – ohne Rechte, ohne Nahrung, ohne Souveränität, ohne die Fähigkeit, sich zu verteidigen, ohne Hilfe der Welt. Israel hat den Bewohnern Gazas ihre Rechte genommen, sie aus der politischen Sphäre ausgeschlossen und auf Fleisch und Knochen reduziert. Gelegentlich sind ihre Stimmen in den internationalen Medien zu hören, aber sie erhalten nicht die volle Subjektivität, die ihnen zusteht – ganz im Gegensatz zu den israelischen Bewohnern in der Welt.Was wäre, wenn wir den Bewohnern Gazas diese Subjektivität zurückgäben, indem wir aus dem Bauch des Besatzers schreiben? Die progressive israelische Kultur muss die höchste Kraft an Solidarität erzeugen, die Kultur aufbringen kann (auch wenn es heute nur wenige tausend Juden gibt, die mir zustimmen würden). Was wäre, wenn israelische Schriftsteller mit der Kultur der Apartheid brechen würden – einer Kultur der Enteignung, einer Kultur der Unterdrückung, einer Kultur, die gleichgültig gegenüber dem Leid der indigenen Bevölkerung ist? Was wäre, wenn manche sich gegen den Zeitgeist stellten (oder vielleicht ist dies der Zeitgeist mit Trump und Xi Jinping, Modi und Mohammed bin Salman an der Macht), mit dem Rücken zur Katastrophe des Leidens? Was wäre, wenn sie beginnen würden, den Zeugen zuzuhören?Menschen, denen Nahrung, Wasser, Leben, Luft, sauberes Wasser, Elektrizität, kurzum: alles, was uns menschlich macht, genommen wurde. Es nicht zu tun, führt nur in eine Richtung: Die Kultur wird unmenschlich. Sie wird barbarisch, wie Adorno sagt. Ich weiß, dass Kulturen nicht immer so schnell reagieren wie Journalisten und Politiker. Aber wie können wir verhindern, dass so etwas wieder passiert? Wie können wir die Mechanismen unserer Kultur so verändern, dass Politiker so etwas nicht noch einmal zulassen können?Die Verwüstung des Krieges in Gaza nach den Ereignissen des 7. Oktober und die erschütternde Zahl der palästinensischen Opfer haben einen schrecklichen Präzedenzfall für die Menschheit im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts geschaffen. Die immense Zerstörung und die Zehntausenden unschuldigen Palästinenser, die bisher getötet wurden, spiegeln nicht nur die Waffenindustrie wider und nicht nur die fehlende moralische Verantwortung dafür, wer wem Waffen verkauft.Ein wichtiger Aspekt dieser Gräueltaten ist, dass in der Zerstörung Gazas auch die Zerstörung der israelischen Kultur, Gesellschaft und Politik liegt. Der Wiederaufbau der zerstörten Häuser Gazas wird dauern, möglicherweise viele Jahrzehnte, wenn wir einem UN-Bericht folgen. Aber wie lange wird es dauern, bis Israel erkennt, dass es an einem Genozid beteiligt war? Wie kann die israelische Gesellschaft ihre moralische Stärke wiedererlangen, nachdem sie eine solche Katastrophe geschaffen hat? Kein leichter Satz, ich werde versuchen, ihn zu erklären.Auch die Opposition zeigt keinen Widerstand gegen die VerbrechenIch gehe jede Woche im Istanbuler Stadtteil Tarabya joggen, wo ich ein Schreibstipendium erhalten habe. Die Hitze ist intensiv. Ich bin umgeben von Fischern, die auf dem Beton stehen und warten. Schließlich erreiche ich die Stelle, an der eine palästinensische Flagge hängt und ein Graffito „Free Gaza“ fordert. Ich machte ein Foto für meine Instagram-Story. Ein Familienmitglied fragte mich, was es bedeute. Ich sagte ihm, dass ich glaube, dass wir die Besatzung des palästinensischen Volkes beenden müssen. Er antwortete: „Besatzung?“ Das ist nicht nur ein Versagen seiner eigenen jungen Generation. Es ist das mangelnde Bewusstsein dessen, dass Israel Palästina 1967 besetzte.Und dass es nach dem Krieg von 1948 das gesamte Mandatsgebiet Palästina – eine britische geopolitische Einheit von 1920 bis 1948 – besetzte. Es dauerte lange, bis ich im Alter von 32 verlernt hatte, was ich zwölf Jahre lang im israelischen Bildungssystem gelernt hatte. Dafür habe ich dem Historiker Ilan Pappé zu danken. Er lud mich und andere Studenten der Universität Haifa in sein Haus in Kirjat Tiw’on ein, wo er uns die palästinensische Erzählung nahebrachte.Wenn wir verstehen wollen, woher die Samen der anhaltenden israelischen Kriegsverbrechen stammen, finden wir sie in der Art und Weise, wie Israel die Palästinenser 1948 behandelte, als es sie vertrieb, ihr Land und Eigentum mittels kafkaesker Gesetze beschlagnahmte, sie „Terroristen“ nannte, jeden erschoss, der versuchte zurückzukehren, und das Massaker von Deir Yasin durchführte, um andere abzuschrecken.Es verhängte von 1948 bis 1967 eine Militärherrschaft über palästinensische Dörfer und Städte in Israel, hob dann das Militärregime auf und begann 1967 die Besatzung Palästinas im Westjordanland. Die tiefe Absicht Israels, das internationale Recht nicht anzuerkennen und den internationalen Druck zur Rückkehr der Flüchtlinge von 1948 zu umgehen, war bereits in den frühen Tagen des Staates Israel vorhanden.Wenn wir verstehen wollen, woher die Samen der anhaltenden israelischen Kriegsverbrechen stammen, finden wir sie in der Art und Weise, wie Israel die Palästinenser 1948 behandelte, als es sie vertrieb Und heute sehen wir all dies in Gaza verschärft, mit der Waffe des Hungers und einer unerbittlichen Belagerung mit hoch entwickelten militärischen Mitteln, und ohne starken internationalen Druck, das Verbrechen zu stoppen. Israel erkennt die unmenschliche Zerstörung Gazas an seiner Südgrenze nicht an, und auch die israelische Opposition zeigt keinen entschiedenen Widerstand gegen die Kriegsverbrechen.Die einzige Stimme, die sich vernehmbar gegen Israels Krieg und Besatzung gestellt hat, ist diejenige von Ayman Odeh, einem palästinensischen Bürger Israels, Mitglied der Knesset und Vorsitzender der Chadasch-Ta’al-Partei. „Ich freue mich über die Freilassung der Geiseln und Gefangenen“, schrieb er. „Wir müssen jetzt beide Völker vom Joch der Besatzung befreien. Denn wir wurden alle frei geboren.“ Am 16. Juli 2025 versuchte das israelische Parlament, ihn wegen dieses Social-Media-Posts auszuschließen.Doch nicht dieser Text machte die extremen Parteien wütend – es war seine Rede in der Knesset: „Nach der Tötung von 53.000 Einwohnern Gazas, darunter 20.000 Kinder, der Zerstörung von Krankenhäusern und Universitäten – wie ist die Lage? Israel ist zu einem Paria-Staat geworden. Auf der ganzen Welt, einschließlich aller westlichen Nationen – was ist hier geschehen? Zwischen Meer und Fluss leben 7,5 Millionen Palästinenser und 7,5 Millionen Juden. Nach dem Sechstagekrieg gab es ein besiegtes Volk und ein glückliches Volk. Nun, nach 600 Tagen, gibt es in beiden Völkern eine überwältigende Mehrheit, die sagt: Ich wünschte, diese 20 Monate hätten nicht stattgefunden. Dies ist eine historische Niederlage der rechten Parteien, die in Gaza besiegt wurden.“Könnten wir nicht eine vielschichtige Erzählung haben?Mein Kind, das in Deutschland geboren wurde, traf während unseres gemeinsamen Urlaubs ein israelisches Kind. Sie spielten ein Handyspiel. Dann sahen sie eine Werbung, die um Spenden für Kinder in Gaza bat, und das israelische Kind machte eine obszöne Geste – es zeigte den Mittelfinger. Meine Tochter war schockiert. Wir haben lange darüber gesprochen. Ich erklärte ihr, dass die Palästinenser ihren eigenen Staat wollen, der von Israel besetzt wurde. Doch israelische Kinder haben Schwierigkeiten, mit den Opfern der Handlungen ihrer eigenen Regierung mitzufühlen. Warum? Weil sie eine Erzählung lernen, in der Israelis allein die Opfer des Angriffs vom 7. Oktober sind. Ich leugne dieses Massaker nicht. Aber könnten wir nicht eine vielschichtige Erzählung haben, eine, die anerkennt, dass die Israelis Opfer des 7. Oktober sind, und gleichzeitig anerkennt, dass Israel für einen Genozid verantwortlich ist?Noch mal, die Zerstörung Gazas ist nicht von Israel zu trennen; sie spiegelt vielmehr die destruktiven Prozesse wider, die die israelische Gesellschaft durchlaufen hat – manchmal bewusst, manchmal unbewusst. Und selbst wir hatten Regeln. Während meiner Grundausbildung als IDF-Soldat lernte ich die Schießbefehle, und es war uns streng verboten, diese zu missachten. Ich kann sie noch auswendig: den Verdächtigen zum Anhalten auffordern und sich identifizieren; „Halt, oder wir schießen“ rufen; demonstrativ die Waffe spannen; zwei Warnschüsse abgeben, die in einem Winkel von 60 Grad abgefeuert werden. Schließlich, wenn der Verdächtige weiter drohte und sich näherte, sollten wir auf die Beine des Verdächtigen zielen. Auf die Körpermitte schießen – um zu töten –, durften wir nur, wenn der Verdächtige uns oder andere eindeutig und unmittelbar gefährdete. Warum geschah das in Gaza nicht mehr?Im Oslo-Friedensprozess verlor die israelische Gesellschaft ihren moralischen Kompass. Nach der Ermordung Jitzchak Rabins ging es in den Abgrund. Im Jahr 2000 konnte der ehemalige israelische Premierminister Ehud Barak beim Camp-David-Gipfel keine Einigung zur Beendigung des israelisch-palästinensischen Konflikts erzielen. Am Gipfel nahmen auch US-Präsident Bill Clinton und der Vorsitzende der Palästinensischen Autonomiebehörde, Jassir Arafat, teil. Der Gipfel sollte den Konflikt lösen, endete aber erfolglos. Als Barak aus Camp David zurückkam, erklärte er der israelischen Öffentlichkeit: „Es gibt keinen Partner.“Eine sich selbst erfüllende ProphezeiungNiemand stellte die Frage, ob dies Baraks eigenes Scheitern gewesen sein könnte. Vielmehr verfestigte sich in der israelischen liberalen Linken der Glaube, dass auf die Palästinenser nicht zu zählen sei. Und wenn er kein Partner sein kann, dann hat der Palästinenser keinen Körper, keine Seele, keine Menschenrechte – er wird wieder zum Erzfeind, nicht zu einem Menschen.Zwei Monate später erlaubte Barak Ariel Scharon den Besuch des Tempelbergs, trotz Warnungen des Geheimdienstes ISA und von Präsident Arafat, dies nicht zu tun. Die zweite Intifada brach aus. Die israelische Gesellschaft verlor den letzten Rest Glauben an die Existenz eines palästinensischen Partners. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung?Dieses Vakuum ermöglichte den Aufstieg des heutigen Premierministers Benjamin Netanjahu. Netanjahu weigerte sich während seiner langen Amtszeit konsequent, mit dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas über den Frieden zu sprechen. Unter seiner Führung erstarkte die extreme Rechte, die von „Eretz Israel Haschlema“, von Groß-Israel, träumte. In diesem Messianismus gab es keinen Raum mehr für das Existenzrecht des palästinensischen Volkes neben dem israelischen Volk. Es wurde zu einem „Wir gegen sie“ – gegen die Feinde, die uns zerstören wollen. Menschenrechtsaktivisten wurden zu „Linken“ abgestempelt. Das Westjordanland wurde in den Medien „Judäa und Samaria“ genannt – als gehöre es selbstverständlich zu Groß-Israel.Nach dem 7. Oktober legitimierte der Krieg gegen die Hamas diesen Prozess der palästinensischen Entmenschlichung weiter.Ausbruch von BarbareiEr wurde zur Rechtfertigung dafür, den Feind vollständig zu eliminieren und keine Spur zu hinterlassen. Plötzlich war es möglich, keinerlei Unterscheidung mehr zu machen zwischen der Zivilbevölkerung und bewaffneten Kämpfern der Terrororganisation Hamas.Noch mal: Die Zerstörung Gazas ist vollständig mit der Zerstörung Israels verflochten – moralisch, emotional, historisch. Selbst wenn wir Gaza wiederaufbauen könnten, bleibt die Frage: Wie viele Jahrzehnte wird es dauern, die jüdisch-israelische Gesellschaft neu aufzubauen, nachdem sie sich in einem Ausbruch von Barbarei selbst zerstört hat? In einem seiner Bücher schreibt der 2001 verstorbene Schriftsteller W. G. Sebald, der im englischen „Exil“ lebte, dass er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinem Vater von seinem Heimatort Wertach (einem katholischen bayerischen Dorf) in die Großstadt München fuhr. Damals dachte Sebald, dass die gewaltige Zerstörung Münchens, das von den Alliierten bombardiert worden war, einfach dem Erscheinungsbild einer Großstadt entspreche: ein Haufen Asche und Staub, Berge von Ziegelsteinen, wie ein Termitenhügel, der Menschheit unbekannt.Die Wahrnehmung dieses deutschen Jungen – dass eine Großstadt aus Ruinen besteht – hilft mir ein wenig, zu erklären, warum die Zerstörung Gazas auch die Zerstörung der israelischen Gesellschaft widerspiegelt. Gaza ist Teil Israels. Gaza ist eine Fortsetzung Israels, nicht nur wegen der Besatzung Gazas 1967, sondern auch, weil die meisten Bewohner Gazas ursprünglich Bewohner des britischen Mandats Palästina waren, die vertrieben wurden und nicht zurückkehren durften.Wie viele Jahrzehnte wird es dauern, die jüdisch-israelische Gesellschaft neu aufzubauen, nachdem sie sich in einem Ausbruch von Barbarei selbst zerstört hat? Netanjahu beschloss bei jeder Gelegenheit, das Massaker in Gaza fortzusetzen, weil er nicht in die israelische Gesellschaft „zurückkehren“ wollte. Er fürchtete die Fortsetzung seiner Korruptionsprozesse, die scharfe Forderung der israelischen Gesellschaft nach einer Untersuchungskommission nach dem Massaker vom 7. Oktober und die anstehenden Wahlen 2026. Er wird auch international von Haftbefehlen bedroht, die ihn vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag bringen sollen.Anstatt Verantwortung zu übernehmen für die Fahrlässigkeit der israelischen Regierung während des Massakers vom 7. Oktober und in seinen Korruptionsprozessen für seinen Namen zu kämpfen, entschied er sich, weiter Palästinenser zu töten. Es gibt keine andere Art, es zu beschreiben.Es ist bekannt, dass die Unfähigkeit einer Gesellschaft, sich ihren internen Problemen zu stellen, sie dazu bringt, ihre militärische Macht zu nutzen, um sich als Gesellschaft zu einen. Auch wenn nun auf die Waffenruhe tatsächlich ein Friedensabkommen folgen sollte: Der Genozid in Gaza wird nicht vergessen werden. Er wird als Makel in der Welt sein und uns daran erinnern, dass Israel so lange seinen moralischen Kompass verloren hat, bis es Verantwortung für das übernimmt, was die Regierung Netanjahus getan hat. Und hebräische Schriftsteller, die versuchen werden, diese traurigen Taten und Geschichten in ihren Werken zu vermeiden, werden ihn ebenfalls verloren haben.Wird es erlaubt sein, über den Genozid aus der jüdischen Gesellschaft heraus zu schreiben? Ich bezweifle es. Wahrscheinlich wird diese Literatur von außen kommen, wie Sebalds Romane, die in Ostengland geschrieben wurden und dem anhaltenden Schweigen über die Verbrechen der Nazis im Zweiten Weltkrieg begegneten. Doch als hebräischer Schriftsteller, der außerhalb Israels lebt, glaube ich, dass das Schreiben über die Zerstörung Gazas eine jüdische Verantwortung ist – ein Versuch, die moralische Fähigkeit des Judentums wiederherzustellen.