Wie wunderbar, dass sich der Eurovision Song Contest (ESC) vom verstaubten Schlagerfest zur Feierstunde für Popkultur, Diversität und queeres Leben gemausert hat. 

Doch das Bild von Vielfalt, Völkerverständigung und Toleranz hat Risse. Zum wiederholten Mal entzündet sich eine Debatte an der Frage, ob ein israelischer Künstler am ESC teilnehmen soll. Nun haben einige öffentliche Rundfunkanstalten europäischer Länder erklärt, den ESC im kommenden Jahr zu boykottieren, weil jemand für Israel antreten darf. 

ESC-Star Nemo gibt die Trophäe zurück – warum das billig ist

Und jetzt will sogar ESC-Star Nemo (Platz 1 im Jahr 2024) seine Trophäe zurückgeben. 

Man mag und kann die Kriegsführung und die Besatzungspolitik der Regierung Netanjahu harsch kritisieren – aber warum soll man dafür ein ganzes Land an den Pranger stellen, zumal Netanjahu auch im eigenen Land heftiger Kritik ausgesetzt ist? Riskiert man nicht mit einem Boykott des ganzen Landes, dass es innerhalb Israels zu Solidarisierungen mit Hardlinern kommt, statt dass die gemäßigten Kräfte gestärkt werden?

Und denkt, wer sich gegen „Israel” positioniert, eigentlich mit, dass dort neben Juden auch muslimische, christliche und drusische Araber leben? Manche davon lehnen den Staat Israel ab. Andere wissen, dass sie nur dort vor der Verfolgung geschützt sind, die ihnen in anderen arabischen Ländern droht. Übrigens dürfte es die einzige Gay-Pride-Parade des Nahen Ostens in Tel Aviv geben. So viel zur Solidarität unterm Regenbogen.

Gay Pride-Paraden gibt es in Nahost nur in Tel Aviv

Die Lage in Nahost ist jedenfalls komplex, und wer meint, mit europäischen Denkmustern darauf reagieren zu können, zeigt lediglich die Dürftigkeit der eigenen Analyse. 

Und dann sind da noch die Doppelstandards: Als Großbritannien und andere Europäer 2003 an der Seite der USA illegal in den Irak einmarschierten, gab es keinen ESC-Boykott gegen diese Koalition der Willigen. 

Weiterlesen: „Kommt, wir boykottieren Juden” – warum ist Kunst so anfällig für dummen Israel-Hass?

Doppelmoral beim ESC

Und als in den Tschetschenienkriegen in den 1990er-Jahren Hunderttausende Zivilisten starben oder Putin Bomben auf Syrien werfen ließ, durfte auch Russland weiter beim ESC auftreten. 

Und ESC-Star Nemo? Verweist auf „Vorwürfe” gegen Israel und spricht von „Völkermord“ Israels. So bringt man sich ins Gespräch. Viel kosten wird es Nemo nicht, schließlich gibt es kein Preisgeld, das er zurückgeben müsste. 

Die moralische Pose, die sich Nemo leistet, gibt es zum Portopreis. Ein echtes Verständnis dafür, was in Nahost passiert und wie dort irgendwann mal Frieden wachsen könnte, ist dafür nicht zu haben.

Weiterlesen: Wo bleibt der Aufschrei? Der Kulturbetrieb schweigt zum Antisemitismus