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Trotz vereinbarter Waffenruhe kommen täglich Menschen im Gazastreifen ums Leben. Die EU-Politikerin Neumann kritisiert Merz für seine Israel-Politik.
Straßburg – Ob durch israelische Raketen, Überschwemmungen oder einstürzende Gebäude: Täglich sterben Zivilisten im Gazastreifen. Vor wenigen Tagen konnten sich EU-Abgeordnete der Grünen ein besseres Bild von der Lage im Nahen Osten machen. Die Politikerinnen und Politiker besuchten hauptsächlich das Westjordanland. Laut der EU-Parlamentarierin Hannah Neumann nimmt die Gewalt in dem palästinensischen Gebiet immer weiter zu. Im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau von Ippen.Media fordert sie eine Führungsrolle der Europäischen Union beim Wiederaufbau des Gazastreifens. Zudem kritisiert Neumann Bundeskanzler Friedrich Merz deutlich für seine Nahost-Politik.

Palästinensische Frauen sitzen auf den Trümmern des zweistöckigen Hauses der Familie Khawaja, das von der israelischen Armee unter Berufung auf eine fehlende Baugenehmigung der israelischen Behörden in der Stadt Deir Qaddis im Westjordanland abgerissen wurde. © Nasser Nasser/dpa
Welche Eindrücke haben Sie während der Delegationsreise gemacht?
Es ist sehr problematisch, dass sich niemand ein eigenes Bild im Gazastreifen machen kann, auch wir als EU-Abgeordnete nicht. Niemand wird in das Gebiet hineingelassen und Israels Armee kontrolliert weiterhin mehr als die Hälfte des Gazastreifens. Für Informationen sind wir auf die israelische Regierung oder auf Mitarbeitende von palästinensischen Hilfsorganisationen angewiesen. Das ist nicht ausreichend. Humanitäre Hilfe wird auch jetzt an der Grenze immer wieder blockiert und das israelische Militär bombardiert weiterhin den Gazastreifen. Während unserer Delegationsreise schwemmte ein monsunartiger Regen die vielen Zelte weg, die im Gazastreifen als Notunterkünfte dienen. Jetzt schlafen viele Kinder abgemagert in klatschnassen Decken. Die Situation ist unverändert schlimm.
EU-Abgeordnete Neumann: Israel bricht Waffenruhe von Beginn an
Zuletzt hatte Israel den ranghohen Hamas-Kommandeur Raed Saad durch einen Luftschlag getötet. Glauben Sie, dass dieser Angriff die Waffenruhe ins Wanken bringt?
Die Waffenruhe wurde von Beginn an beinahe täglich gebrochen. Israel hat seine Luftschläge auch in den letzten zwei Monaten in Gaza immer wieder fortgesetzt. Und im Libanon werden sogenannte Routine-Operationen durchgeführt. Seit Beginn der Waffenruhe sind 360 Zivilistinnen und Zivilisten getötet worden, darunter im Schnitt zwei Kinder pro Tag. Für einen angeblichen Waffenstillstand sind diese Zahlen sehr hoch und es zeigt, wie fragil diese Waffenruhe ist. Ich fürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie zusammenfällt, wenn wir so weitermachen. US-Präsident Donald Trump wollte mit seinem Abkommen den schnellen Applaus einheimsen, die komplizierten Dinge überlässt er anderen.
Sie haben auch das Westjordanland besucht, welches vom Waffenruhe-Abkommen nicht abgedeckt ist.
Die Westbank war das Hauptziel unserer Reise. Dort nimmt die Gewalt durch extremistische Siedler und das israelische Militär im Schatten der globalen Aufmerksamkeit auf den Gazastreifens immer weiter zu. Israelische Soldatinnen und Soldaten, die zuvor im Gazastreifen teilweise brutale Verbrechen begangen haben, werden jetzt in die Westbank geschickt und gehen dort ähnlich brutal vor. Die Siedler haben Rückendeckung von den Ministern Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, die ja selbst aus der Siedlerbewegung kommen. Das ist eine ziemlich toxische Mischung. Und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu stoppt dieses Vorgehen nicht, im Gegenteil.
Vor dem Gaza-Krieg: Die Geschichte des Israel-Palästina-Konflikts in Bildern

Sollte die deutsche Bundesregierung Israel stärker kritisieren?
Ja, ganz eindeutig. Mir scheint, als wäre man in der Regierung einfach froh, dass endlich ein Waffenstillstand erklärt wurde und man sich jetzt nicht mehr mit der komplizierten Realität befassen muss. Friedrich Merz findet zwar hin und wieder ein paar deutliche Worte, aber blockiert weiterhin jede Antwort der EU. Gerade der Besuch von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche zeigt, dass die Regierung wieder in den Modus „business as usual“ zurückgeht, als wäre in den letzten zwei Jahren nichts passiert, als ginge die Gewalt nicht weiter. In Anbetracht der Lage vor Ort ist das verantwortungslos, gerade weil Deutschland viel Einfluss auf die Regierung Netanjahu ausüben könnte.
Merz könnte stärkeren Einfluss auf Israels Ministerpräsidenten Netanjahu ausüben
Hat Deutschland tatsächlich Einfluss auf Israel? Auch in EU-Kreisen heißt es häufig, dass die Israelis nur auf die USA hören.
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Deutschland durchaus Einfluss auf den innenpolitischen Kurs in Israel hat. Wir werden neben den USA als letzte Verbündete gesehen. Wenn Friedrich Merz Netanyahu kritisiert hat, hat dieser zugehört – und viele Menschen in Israel, die die Regierung kritisieren, haben eine Unterstützung gespürt. Der teilweise Exportstopp Deutschlands von Rüstungsgütern nach Israel hatte deutliche politische Auswirkungen. Wenn sogar die Deutschen sagen, dass es so nicht weitergeht, habe ich danach oft gehört. In einer Situation, in der die Medienfreiheit eingeschränkt wird, in der Nichtregierungsorganisationen unter Druck gesetzt werden, in der immer wieder Staatsanwälte und Richterinnen unter Druck gesetzt werden, muss aus Deutschland das klare Zeichen kommen, dass das Konsequenzen hat. Und dass die Gewalt, die in Gaza und der Westbank stattfindet auch von uns niemals akzeptiert wird.
Können Sie Einzelheiten aus dem Westjordanland schildern, die der deutschen Bevölkerung eher unbekannt sind?

Die EU-Abgeordnete und Nahost-Expertin Hannah Neumann (Grüne) hat das Westjordanland und Israel besucht. © Pressestelle Hannah Neumann
Es sind vor allem die alltäglichen Dinge. Beispielsweise gibt es viele gut ausgebaute Straßen nur für Israelis, während die Straßen für Palästinenser sehr schlecht befahrbar sind und voller israelischer Checkpoints – und wir sprechen von palästinensischem Gebiet. Die laufen teilweise kilometerlang parallel zueinander. Wenn Siedler illegal Land in Palästina besetzen, werden ihre Siedlungen innerhalb weniger Wochen an die Wasserleitungen angeschlossen. Viele legale palästinensische Dörfer, die schon immer dort sind, warten darauf bis heute. Und Israelis werden nach israelischem Zivilrecht angeklagt und verurteilt, Palästinenser nach israelischem Kriegsrecht. Das bedeutet: Wenn israelische und palästinensische Jugendliche Steine werfen, drohen ihnen sehr unterschiedliche Konsequenzen.
Für einen dauerhaften Frieden im Gazastreifen ist die geplante Entwaffnung der Terrororganisation Hamas entscheidend. Wie soll die umgesetzt werden?
Das ist wieder so ein Trump-Problem. Er hat einfach in den 20-Punkte-Plan geschrieben: Die Hamas wird entwaffnet. Ich habe viel in Ländern gearbeitet, wo solche Demilitarisierungsprozesse stattgefunden haben. Manche erfolgreich, manche nicht, das ist ein komplizierter Prozess. Die Hamas wird ja nicht einfach Waffen gegen Yogamatten tauschen und dann ist alles gut. Das geht nur mit internationalen Truppen, die eine solche Entwaffnung überwachen, mit politischen und wirtschaftlichen Zusagen für die Zukunft der ehemaligen Kämpfer, mit Trainings und Reintegrationsmaßnahmen. Aber all das kommt in Trumps Plan nicht vor. Überhaupt kommen Palästinenserinnen und Palästinenser darin nicht vor, dabei geht es ja um ihr Land.
Neumann: EU sollte Führungsrolle beim Wiederaufbau des Gazastreifens übernehmen
Laut EU-internen Papieren will die EU eine Führungsrolle beim Wiederaufbau des Gazastreifens übernehmen. Sind die Europäer dazu überhaupt in der Lage?
Ja, wir können viel anbieten. Seit Jahren unterstützt die EU die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) finanziell und bildet Sicherheitskräfte aus, die auch in Gaza für Sicherheit sorgen können. Die Reform der PA ist eine der größten Aufgaben, da können wir einen wirklich wichtigen Beitrag leisten. Und alle erwarten, dass die EU den Wiederaufbau in Gaza mitfinanziert. Das können wir, aber wir sollten mit der Unterstützung auch politische Forderungen verbinden. Nach einem Ende der Gewalt, einer Beteiligung der Palästinenserinnen und Palästinenser sowie einer internationalen Untersuchung all der Verbrechen, die da stattgefunden haben. Dazu müssten wir als EU aber mit einer Stimme sprechen und Friedrich Merz unterminiert das gerade wieder.
Zudem könnte die EU mit Sanktionen Druck ausüben.
Vor der Waffenruhe hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verschiedene Maßnahmen auf den Verhandlungstisch gelegt. Die müssen jetzt wieder diskutiert werden, weil sich vor Ort so wenig geändert hat, insbesondere in der Westbank. Die Menschenrechtsklausel des Assoziierungsabkommens wird ja auch dort jeden Tag gebrochen, deswegen müssen die Handelsprivilegien ausgesetzt werden. Das hätte enorme Auswirkungen, weil die EU die wichtigste Handelspartnerin Israels ist. Und es ist mir absolut unverständlich, warum die Sanktionen gegen israelische Minister und Siedlerorganisationen, die für die Gewalt in der Westbank verantwortlich sind, nicht kommen. Das fordern ja sogar CDU-Kollegen von mir im Europaparlament. Und die EU kann mehr tun, um das internationale Recht zu schützen.
Inwiefern?
Gegenüber Russlands Krieg in der Ukraine berufen wir uns stark auf das internationale Recht. Aber auch die israelische Regierung bricht mit ihren Handlungen in Gaza und der Westbank internationales Recht. Zudem erschweren Israel und die USA Mitarbeitern des Internationalen Strafgerichtshof ihre Arbeit, indem sie diese Institution sanktionieren. Das hat leider sehr konkrete Auswirkungen auf Mitarbeiterinnen, auch in Europa. Bankkonten werden gesperrt, Hotels können nicht gebucht werden. Diese Mitarbeitenden könnten wir mit dem sogenannten Blocking Statute schützen.
Israel und Gazastreifen: EU benötigt geeinte außenpolitische Stimme
Und wie?
Dabei handelt es sich um eine EU-Verordnung, die europäische Unternehmen und Personen vor den Auswirkungen von Sanktionen aus Drittstaaten schützt – beispielsweise vor US-Sanktionen, die europäische Unternehmen viel zu oft in vorauseilendem Gehorsam umsetzen. Europa muss endlich ein klares und unmissverständliches Signal in Richtung Israel senden. Nur dann wird das auch bei Netanjahu ankommen. Auch, weil er nicht nur auf den Verrückten im Weißen Haus angewiesen sein will – und ja, dafür brauchen wir Deutschland und ein Umdenken in der Bundesregierung.
Benötigt die EU für eine Führungsrolle nicht eine vereinte außenpolitische Stimme? Immerhin sind die EU-Mitglieder in entscheidenden Punkten uneins. Beispielsweise wollen Frankreich und Großbritannien einen Staat Palästina anerkennen, Deutschland und Italien nicht.
Alles, was ich eben beschrieben habe, kann nur funktionieren, wenn wir politische Mehrheiten für diese Schritte organisieren können. Und eines der größten Hindernisse dafür ist Deutschland. In der Nahostpolitik ist Deutschland in der EU und weltweit zunehmend isoliert. Merz reist nach Israel, um Netanjahu die Hand zu schütteln, macht sich aber kein Bild von der tatsächlichen Lage in Gaza oder der Westbank. So kann Europa seine Potenziale nicht nutzen, dabei bräuchte es das so dringend.
Neumann: Israelische Kritiker bezeichnen Netanjahus Regierung als faschistisch
Sind Sie für eine Zwei-Staaten-Lösung?
Ja, na klar. Selbst Friedrich Merz sagt, er sei für eine Zwei-Staaten-Lösung. Aber wer eine Zwei-Staaten-Lösung will, der braucht zwei Staaten, die auf Augenhöhe eine Lösung verhandeln. Aber wie soll das unter einem System der Besatzung funktionieren, in der Palästinenserinnen und Palästinenser keine echte politische Vertretung haben und ihre Institutionen vom Wohlwollen der israelischen Regierung abhängen? Wer verhandelt denn für die Palästinenser? Trump? Ägypten? Ich glaube nicht, dass uns das weiterbringt.
Wie sehr können Opposition und Zivilgesellschaft für einen Richtungskurs in Israel sorgen?
Dort gibt es wahnsinnig viele Stimmen, die den Krieg im Gazastreifen, die Gewalt und Besatzung im Westjordanland und Netanjahus Regierung sehr kritisch sehen. Einige bezeichnen die aktuelle Regierung sogar als faschistisch. Wir müssen die Kräfte unterstützen, die sich für eine Stärkung der Demokratie in Israel einsetzen. Sie stehen gerade enorm unter Druck. Im kommenden Jahr finden Wahlen statt. Für die Menschen in Israel sowie in Palästina ist das ein entscheidender Moment. (Quellen: eigene Recherche) (Interview: Jan-Frederik Wendt)