«Es gibt fundierte Belege dafür, dass sich Smartphones schädlich auf das Gehirn auswirken»

Eine intensive Smartphone-Nutzung geht mit einem Empathie-Rückgang einher, sagt Marc Tadié. Als Werkzeug ist das Handy aber nicht per se schlecht – vor allem für eine Altersgruppe birgt es gar Vorteile.

Frau tippt SMS auf Apple iPhone13 in schlechter Beleuchtung, Hände und Smartphone-Bildschirm hervorgehoben.

Für viele ist das Smartphone zum steten Begleiter geworden. Das hat Auswirkungen auf unser Gehirn.

Foto: IMAGO/MiS

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Marc Tadié ist Neurochirurg und Ehrenpräsident des französischen Instituts für Hirnforschung und erforscht unter anderem die Auswirkung intensiver Smartphone-Nutzung auf das Gehirn. Verbote an Schulen begrüsst er: Kinder und Jugendliche vor den schädlichen Langzeitfolgen von iPhones und Co. zu schützen, sei wichtig.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat Ende November angekündigt, Smartphones an Gymnasien in Frankreich verbieten zu wollen. Dabei sprach er von einer « Krise der Aufmerksamkeit», von der insbesondere junge Menschen betroffen seien. Sind solche Massnahmen Ihrer Meinung nach nötig?

Es ist eindrücklich, wie stark die Verhaltensänderung ist, die wir bei den Menschen beobachten können. Niemand liest mehr in der U-Bahn, man schau einander nicht mehr an, alle sind in ihre Bildschirme vertieft. Wir haben uns gefragt, ob diese sichtbaren Veränderungen organische Auswirkungen auf das Gehirn haben, insbesondere auf das Gedächtnis – dieses macht den Menschen aus. Wir haben Verhaltensstudien und die Forschung zur Hirnbildgebung (funktionelle MRI) ausgewertet. Das Ergebnis ist eindeutig: Es gibt heute fundierte wissenschaftliche Belege dafür, dass sich Smartphones schädlich auf das Gehirn auswirken.

Was das mögliche Verbot an Schulen angeht, so ist das eine Massnahme, die relativ einfach umgesetzt werden kann. In Ländern, die das bereits getan haben, sind drei konkrete positive Effekte zu beobachten: Aufmerksamkeit und Konzentration der Schüler sind besser (schon die blosse Anwesenheit eines ausgeschalteten Smartphones verringert die kognitive Leistung), es verringert die soziale Ungleichheit zwischen denen, die das neuste Modell haben, und jenen, die es nicht haben, und Stress und Cybermobbing lassen nach.

Doch diese Massnahme allein reicht nicht aus: Es braucht unbedingt mehr Aufklärungsarbeit zum Umgang mit Smartphones und künstlicher Intelligenz. Ansonsten wird das Problem lediglich verlagert.

Das Gehirn müsse trainiert werden, um seine Funktionen aufrechtzuerhalten, sagen Sie. Je weniger wir unser Gedächtnis brauchen, desto mehr verkümmert es. Tragen wir zu seinem Abbau bei, indem wir es auslagern?

Ein Muskel, der nicht benutzt wird, verkümmert – bei bestimmten Hirnregionen verhält es sich gleich. Je mehr kognitive Aufgaben wir dem Smartphone überlassen – wie das Abspeichern von Routen, Nummern oder Wissen –, desto weniger beanspruchen wir den Hippocampus, die Schlüsselstruktur des episodischen und räumlichen Gedächtnisses. Londoner Taxifahrer, die sich früher 25’000 Strassen merken mussten, hatten einen überdurchschnittlich grossen Hippocampus. Seit der Einführung des GPS bildet sich dieser Bereich zurück.

Schon Platon meinte in Bezug auf die Schrift, dass wir Gefahr laufen, unser internes Gedächtnis verkümmern zu lassen, wenn wir unsere Erinnerungen auf einem externen Träger abladen. Das Smartphone stellt in dieser Logik einen neuen Höhepunkt dar. Die neuronalen Schaltkreise der Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Gedächtniskonsolidierung werden immer weniger beansprucht. Nach und nach verkümmern sie, wie eine stillgelegte Eisenbahnstrecke, die von Unkraut überwuchert wird. Diese Netzwerke wieder zu aktivieren, ist dann alles andere als einfach.

Wenn man sein Gedächtnis und das Aufmerksamkeitsnetzwerk erst einmal geschwächt hat – ist es dann überhaupt noch möglich, diese zu reaktivieren?

Zum Teil. Es gibt elektromagnetische oder elektrische Stimulationstechniken, mit denen bestimmte Netzwerke reaktiviert werden können. Elon Musk hält das sogar für ein Wundermittel. Doch das kann weder bereichernde Erfahrungen noch die Persönlichkeit, die sich ausgehend von diesen entwickelt, ersetzen. Das Gedächtnis ist nicht einfach eine Festplatte: Es macht uns zu Menschen. Ein übermässiger Smartphone-Gebrauch erhöht Angstzustände, Stress und Depressionen. Das gilt auch für Erwachsene im Alter von 40 bis 50 Jahren – oft sagen sie, sie fühlten sich in einer virtuellen Welt gefangen.

Auf ältere Menschen haben Smartphones paradoxerweise eine positive Wirkung, da sie der Isolation entgegenwirken, das prozedurale Gedächtnis stimulieren und neue Lebensfreude wecken können. Das Gerät an sich ist nicht schlecht, doch das Alter und die Dosis spielen eine wichtige Rolle. Ich plädiere für einen «Smartphone-Führerschein» mit funktionsabhängigem Mindestalter inklusive Präventionskampagne: wie beim Auto, das zwar einen grossartigen Fortschritt darstellte, aber einen Ausweis, Regeln und Beschränkungen erforderte. Mein Vorschlag wäre, dass jede Smartphone- oder Abo-Werbung mit dem Hinweise «Trainieren Sie Ihr Gehirn mit fünf Gedächtnisübungen am Tag» versehen wird, so wie man bei Autowerbungen lesen kann, man solle für die Gesundheit spazieren gehen oder Velo fahren. Das Smartphone ist ein wunderbares Werkzeug, das für Menschen mit Behinderung therapeutisch und für Seniorinnen und Senioren heilsam sein kann. Doch für Kinder und Jugendliche muss es ein Werkzeug bleiben, es darf weder über ihre Aufmerksamkeit noch über ihre Menschlichkeit herrschen.

Frau sitzt mit Handy in einem Zug der Metrolinie 1 in Paris, Januar 2018.

In der Metro starren die Leute auf ihre Bildschirme, statt ein Buch zu lesen oder ihre Mitfahrerinnen und Mitfahrer zu mustern. Eine übermässige Smartphone-Nutzung verringere langfristig die Fähigkeit, Gesichtsausdrücke deuten zu können, sagt Marc Tadié.

Foto: (Imago Images)

Was Sie auch beschrieben, sind die negativen Auswirkungen des Smartphones und des damit zusammenhängenden Gedächtnisverlusts auf unsere Persönlichkeit und unser Verhältnis zu anderen Menschen. Haben wir mehr Mühe damit, den «Anderen» zu akzeptieren?

Eine intensive Smartphonenutzung verringert die Aufmerksamkeit, die wir anderen entgegenbringen. In öffentlichen Verkehrsmitteln machen die Leute nicht mehr für andere Platz und entschuldigen sich auch nicht mehr, alle starren auf ihr Handy. Ein befreundeter Psychiater sagte mir einmal, dass er, wenn er ohne sein Telefon aus dem Haus geht, nicht mehr derselbe ist: Die Gesichter, die Gerüche, die Interaktionen – das stimuliere alles sein Gehirn. Wenn er aber mit seinem Smartphone beschäftigt ist, verschwindet all das. Studien zeigen einen Rückgang der Empathie und eine zunehmende Schwierigkeit, nuancierte Gesichtsausdrücke bzw. Angst, Traurigkeit und Mitgefühl zu deuten.

Der Rückzug, der bei Jugendlichen zu beobachten ist, ist paradox: Sie leben in der Illusion, mit der ganzen Welt zu kommunizieren, gehen aber weniger raus, ziehen sich zurück und bevorzugen es zum Teil, sich selber beim Tanzen zu filmen und das Video auf Social Media zu posten, statt in einen Club zu gehen. Viele der 12- bis 18-Jährigen haben mir anvertraut, dass der Hauptvorteil des Smartphones darin besteht, dass man sich anders präsentieren kann. Weil Sie online mehrere Rollen spielen, haben manche in echt am Schluss gar keine mehr.

Kann man tatsächlich von einer Smartphone-Sucht sprechen?

Ja, die neurobiologischen Mechanismen sind mit jenen von harten Drogen vergleichbar. Bei jeder Interaktion wird Dopamin, das oft als Glücks- oder Belohnungshormon bezeichnet wird, ausgeschüttet. Algorithmen sind so konzipiert, dass sie niemals zu einem Ende kommen: Bei der KI kommt immer noch etwas und noch etwas. Die Sucht schleicht sich heimtückisch ein, ganz legal und ohne hohe Kosten, was sie noch gefährlicher macht. In China werden Patientinnen und Patienten in Entzugskliniken für die Behandlung mehrere Monate lang isoliert. Die verheerenden Auswirkungen auf das Gehirn sind mit anderen Suchterkrankungen vergleichbar.

Aus dem Französischen übersetzt von Marina Galli

Logo der Leading European Newspaper Alliance mit dem Text ’LENA Leading European Newspaper Alliance’ und einem kreisförmigen Design.

Dieser Artikel ist in Kooperation mit «Le Figaro» entstanden, Teil der Leading European Newspaper Alliance.

Das Smartphone und das Gehirn

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