Moskau – Für Kremlchef Wladimir Putin ist es eine rote Linie: der Wunsch der Ukraine, in die Nato aufgenommen zu werden. Immer wieder hat er den Angriffskrieg auf sein Nachbarland mit der Erzählung verknüpft, das westliche Verteidigungsbündnis sei eine Bedrohung für Russland. Und es komme immer näher. Doch ein 33 Jahre alter Zeitungsartikel beweist: Die Nato-Angst ist nur ein Vorwand, um eine alte Rechnung mit Kiew zu begleichen.
In einer Ausgabe der russischen Zeitung „Iswestija“ aus dem Jahr 1992 beschreibt der Journalist Waleri Wyschutowitsch (74) ein Zusammentreffen des damaligen ukrainischen Botschafters in Russland mit Sergej Baburin. Baburin ist ein nationalistischer Politiker, der im vergangenen Jahr zunächst gegen Putin bei der Präsidentschaftswahl antreten wollte (später zog er sich aus dem Rennen zurück).
Baburin stellte dem Ukrainer schon damals ein knallhartes Ultimatum: „Entweder die Ukraine wird Teil Russlands – oder es gibt Krieg!“ Wenn es nicht zu einer neuen Wiedervereinigung beider Staaten komme, würden „die Konflikte zwischen der Ukraine und Russland immer bestehen“, so der Russe. Heute weiß die Welt: Genau so ist es gekommen.
Anlass war Streit um Krim-Halbinsel
Entzündet hatte sich der Streit an den Unabhängigkeitsbestrebungen auf der Krim (ab 1954 gehörte die Halbinsel zur Ukrainischen Sowjetrepublik, nach dem Zerfall der Sowjetunion zur unabhängigen Ukraine). Auf der Halbinsel gab es 1992 ernsthafte Versuche, sich von der Ukraine abzuspalten. Kiew hatte das nur verhindern können, indem es der Krim weitreichende Autonomie zusicherte.
Ein Ausschnitt aus der russischen Tageszeitung „Iswestija“, Jahrgang 1992, Ausgabe Nr. 122
Foto: Iswestija
Baburin aber empfand die faktische Übergabe der Krim an die unabhängige Ukraine durch das russische Parlament im Jahr 1991 als „rechtswidrigen Akt“. Er gilt als glühender Verteidiger der Sowjetführer und betrauerte den Zerfall der UdSSR. Etwas, das er mit Putin gemeinsam hat. Nach Ansicht Putins genießt die Krim den Status eines „heiligen Ortes“ für das russische Volk. Mit deren Annexion 2014 habe er eine „historische Gerechtigkeit“ wiederhergestellt.
Das lässt den Schluss zu: Es ging Moskau nie um Selbstschutz, sondern immer um die Gier nach Territorium und die Rückkehr zu den Grenzen vor 1991. DENN: Die Nato-Osterweiterung begann erst acht Jahre später – mit dem Beitritt von Polen, Tschechien und Ungarn.
Journalist mit düsterer Prophezeiung
Tatsache ist: Was der russische Journalist Wyschutowitsch vor 33 Jahren über die Begegnung zwischen Baburin und dem ukrainischen Botschafter schrieb, liest sich heute wie eine düstere Prophezeiung: Baburins Erklärung sei „der nächste Schritt Russlands hin zu einem Bruch mit der Ukraine und weckt unwillkürlich Vermutungen über eine durchdachte Abfolge weiterer Schritte“ – an dessen Ende sollte die Ukraine als Staat aufhören zu existieren.
Sergej Baburin (66) wollte Präsident Russlands werden – und hat es sich dann anders überlegt
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Was Wyschutowitsch aber auch vorhersah: Die Welt würde dem nicht einfach zusehen. „Mit seinen imperialen Ansprüchen wird das Parlament einen scharfen Verfall des politischen Ansehens Russlands in den Augen der zivilisierten Welt bewirken“, schrieb er. UND: „Es könnten auch wirtschaftliche Sanktionen folgen.“ Fast drei Jahrzehnte später war Putin bereit, diesen Preis zu zahlen.
Und Baburin? Nachdem er aus dem Präsidentschaftsrennen 2024 ausgestiegen war, warb er für Putin. Offizieller Grund: der Krieg in der Ukraine. „In dieser für die Heimat schwierigen Stunde ist es nicht an der Zeit, die Kräfte des Volks zu spalten“, erklärte er. Inoffiziell, hieß es, sei ihm vom Kreml abgeraten worden, dem Präsidenten auch nur ein Prozent wegzunehmen.