Nach einer Debatte und einem Stresstest zur Überprüfung der Risiken von großen Online-Plattformen hat Deutschland die Anwendung des Krisenmechanismus vor den Bundestagswahlen ausgeschlossen.
Der Krisenmechanismus des EU-Gesetzes über digitale Dienste (DSA) kann bei ernsthaften Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit gegen große Online-Plattformen potenziell entscheidende Hilfe leisten.
Um den Krisenmechanismus in Deutschland auszulösen, muss die Bundesnetzagentur (BNetzA), die nationale Durchsetzungsbehörde dem Europäischen Gremium für digitale Dienste (EBDS) über eine Krise informieren. Das Gremium würde dann die Situation bewerten und ein Eingreifen der EU empfehlen.
Daraufhin würde die Kommission Korrekturmaßnahmen durchsetzen, wodurch die Plattformen verflicht werden, Daten zu teilen, Bedrohungen zu mindern und über Fortschritte Bericht zu erstatten.
„Der Digital Services Act ist ein scharfes Schwert“, sagte Digitalminister Volker Wissing kürzlich in einem Interview mit rbb24 Inforadio.
Derzeit scheint dieses ‚scharfe Schwert‘ jedoch wie Excalibur im Stein zu stecken. Niemand scheint sich zu trauen, es herauszuziehen.
„Der im DSA vorgesehene Krisenreaktionsmechanismus kann nicht von der Bundesregierung ausgelöst werden, sondern nur auf Empfehlung des Gremiums für digitale Dienste bestehend aus den nationalen Koordinatoren für Digitale Dienste“, sagte ein Sprecher des Digitalministeriums gegenüber Euractiv und betonte die Unabhängigkeit der beiden Behörden.
Gibt es überhaupt eine Krise?
Die BNetzA sagt nein. „Derzeit gibt es [in Deutschland] keine Überlegungen“, den Krisenmechanismus auszulösen, teilte die Behörde auf Euractiv-Nachfrage mit. Sie erklärte, dass die rechtliche Grundlage für den Krisenmechanismus, Artikel 36(2), nur auf ernsthafte Bedrohungen der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit verweise.
„Zurzeit kann ich keine Umstände erkennen, die auch nur in die Nähe einer Bedrohungslage kämen“, sagte Professorin Jeanette Hofmann vom Wissenschaftszentrum Berlin. Sie betonte den Mangel an empirischen Beweisen dafür, dass dies einen erheblichen Einfluss auf die Entscheidungen der Wähler hat.
Die Ergebnisse des „Stresstest“, einer Simulation durch die BNetzA letzten Freitag schienen diese Haltung zu bestätigen. BNetzA und die EU-Kommission zeigten sich zuversichtlich, dass die großen Online-Plattformen während der Wahlperiode Inhalte effektiv moderieren und Risiken mindern können.
Obwohl Deutschland den Krisenmechanismus auslösen könnte, hat es bisher keinen Grund dafür gesehen. Gleichzeitig räumte die BNetzA ein, dass Berlin und die EU „seit mehreren Jahren Ziel ausländisch gesteuerter Desinformationskampagnen sind“.
Deutschland gehört zu den zwölf EU-Staaten, die am Freitag in einem Brief an die EU-Kommission „endgültige Maßnahmen“ gegen Wahlbeeinflussung forderten.
Elon Musks Unterstützung der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) auf seiner Social-Media-Plattform X hatte für Wirbel gesorgt. Die Forderungen, das EU-Gesetz über digitale Dienste schneller und strenger anzuwenden und den Krisenmechanismus in Betracht zu ziehen, verstärkten sich daraufhin.
Während Berlin sich gegen ein alleiniges Handeln entschieden hat, sieht es die Verantwortung bei der Kommission und hat sich daher an sie gewandt. Deutschland befürchtet, dass ein direktes Vorgehen gegen die AfD kurz vor der Bundestagswahl gegenteilige Auswirkungen haben könnte, und die Partei das Opfer-Narrativ für sich ausnützen würde.
Deutsche Abgeordnete sind mit dem aktuellen Stand der Dinge unzufrieden, haben jedoch kaum bis gar keine Handhabe etwas daran zu ändern.
Am 29. Januar trat der Digitalausschuss des Bundestags zu seiner letzten Sitzung vor der Wahl zusammen und lud Vertreter von X, Meta und TikTok ein, um die Umsetzung der DSA und die bevorstehende Bundestagswahl am 23. Februar zu besprechen.
„Alle sagten mit gleicher Begründung ab: viel zu tun und zu kurzfristig“, erklärte die Ausschussvorsitzende Tabea Rößner. „Schade, dass wir in Deutschland ihr Kommen nicht einfordern können.“
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