Berlin. „Wir essen unser Saatgut auf“. So hätte der größte deutsche Sachbuchbestseller der Nachkriegsgeschichte fast geheißen, verrät sein heutiger Verleger, Michael Fleissner aus Stuttgart, zur Feier des Tages: Das war der Arbeitstitel, als sich das damalige Bundesbankvorstands- und SPD-Mitglied Thilo Sarrazin daran machte, Deutschland eine düstere Zukunft vorherzusagen – und dabei die „kulturfremde Masseneinwanderung“ aus muslimischen Ländern zu einer Hauptursache zu erklären.

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Das allein hätte seinerzeit womöglich schon für genug Aufmerksamkeit und Aufregung gesorgt, um das Buch zum Bestseller zu machen. Trotz des Saatguts im Titel. Fakt ist aber: Vor genau 15 Jahren erschien Sarrazins Buch unter dem Namen „Deutschland schafft sich ab“ – und wurde zum meistverkauften, meistdiskutierten und, wie sich nun zeigt, langlebigsten deutschen Sachbuch der letzten Jahrzehnte.

Bei jeder Asyldebatte neue Nachfrage

Mit einem Wust an Zahlen und selektiv gewählten Zitaten wollte der Volkswirt belegen, wie das Land durch sinkende Geburtenzahlen, steigende Einwanderung sowie Fehlanreize in der Sozialpolitik überaltert, überfremdet und verdummt werde. Das hatte in so sachlichem Ton noch niemand so geschrieben.

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Mehr als 1,5 Millionen Exemplare wurden nach und nach gedruckt, 21 Wochen führte es die Bestsellerlisten an, noch heute schnellen die Verkaufszahlen jedes Mal in die Höhe, wenn über Ausländer, Asyl oder islamistische Attentate diskutiert wird.

"Deutschland schafft sich ab - Die Bilanz": Thilo Sarrazin stellt die Neuauflage seines Bestsellers vor.

“Deutschland schafft sich ab – Die Bilanz”: Thilo Sarrazin stellt die Neuauflage seines Bestsellers vor.

Auch als an diesem Mittwoch in Berlin, auf den Tag genau am 80. Geburtstag des Autors, eine erweiterte Neuauflage vorgestellt wird, ist diese gerade frisch in die Verkaufscharts eingestiegen: Immerhin wird auch der aktuelle Wahlkampf von der Migrationsfrage dominiert.

So gerät Thilo Sarrazin nie aus der Mode, das ist der eigentliche Erfolg des Buches. Zwar ist die Auflage von Romanen wie Patrick Süskinds „Parfüm“ zehn Mal so hoch. Aber Sarrazin sitzt zum 15. Geburtstag seines Werkes immer noch vor Kameras, Mikrofonen und Hauptstadtpresse und wird gefragt, wie er den politischen Kurs von Friedrich Merz beurteilt.

Migration, die „Mutter aller Probleme“?

Es gibt in Deutschland zwei Sichtweisen auf die Migrationsdebatte: Die einen halten die Angst vor Überfremdung, vor Ausländerkriminalität, vor Bildungs- und Traditionsverfall einfach nur für die neueste Sorge der Deutschen, die die Populisten erst anheizen und dann ausbeuten. So wie vor den Flüchtlingen die Eurokrise, später Corona und in den USA die Genderfrage. Wäre das „Migrationsproblem“ gelöst, würden das nächste Thema aufblasen.

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So sehen es die Grünen, so sah es Angela Merkel, so beschrieb es der Ex-Generalsekretär der SPD, Kevin Kühnert, als er in seiner Abschiedsrede aus dem Bundestag der Merz-CDU vorwarf, in der gemeinsamen Abstimmung mit der AfD die eigenen Prinzipien für wachsende Umfragewerte verkauft zu haben: „Die Opportunität sticht die Integrität.“

Die anderen halten die Migrationsfrage für ein objektiv lösbares Problem, das hinter vielem steckt, das derzeit schief läuft in Deutschland und das deshalb gerade viele Wähler besorge und darum, vor allem nach Gewalttaten durch Asylbewerber, fast alle anderen Themen überschatte.

Und weil seit 2015 die Politiker aller klassischen Parteien bestenfalls redeten, aber ihre Versprechen nie eingehalten hätten, flüchten eben mehr und mehr Deutsche zur AfD – in der Annahme, diese würde Wort halten, oder auch nur als Denkzettel an die Etablierten, sich endlich radikal um das Probleme zu kümmern. So sieht es Thilo Sarrazin.

Sarrazin will kein Wegbereiter der AfD gewesen sein

Statt die deutsche Misere ehrlich und entschlossen anzugehen, komme in der Asyldebatte von der „politischen Elite“ bestenfalls „Kraftmeierei“, sagt er am Mittwoch. Nicht er sei mit seinen Thesen ein Wegbereiter der AfD gewesen, sondern deren Erfolge vielmehr ein „Weckruf an SPD und CDU“, die Zuwanderung strikt zu begrenzen. Wie? Doppelte Staatsbürgerschaft abschaffen, Genfer Flüchtlingskonvention kündigen, ganz einfach.

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Dass die CDU/CSU im Bundestag gerade mit der AfD für eine strengere Migrationspolitik gestimmt habe, hält Sarrazin für klug: Friedrich Merz brauche diese gemeinsame Mehrheit als Drohpotenzial gegen die SPD. „Sonst bleibt er bei den Koalitionsverhandlungen ein zahnloser Tiger“.

Portrait von Thilo Sarrazin im Rahmen eines RND Interviews in Berlin, 03.09.2024. Hausbesuch bei Thilo Sarrazin – Neues Buch, AfD-Höhenfluch: Was macht eigentlich der Vordenker des "Das wird man doch noch sagen dürfen”?
Gefühlte Wahrheiten: Zu Besuch beim umstrittenen Populismus-Pionier Thilo Sarrazin

Thilo Sarrazin war einst der Vordenker des „Das wird man wohl noch sagen dürfen“ – und des Rechtsrucks in Deutschland. Er schreibt weiter Bestseller, aber wünscht sich wieder mehr Einfluss auf die Politik. Ein Porträt.

Die schwarz-gelb-blaue Abstimmung habe gezeigt, dass Merz es als Problem verstanden hat, „wenn die etablierten Parteien der Mitte auf die Sorgen von 65 Prozent der Bevölkerung keine sachliche und politisch adäquate Antwort geben“.

Überhaupt, auch das sei ein Verdienst seines Buches, werde heute sogar im Bundestag vieles von dem debattiert, was zuvor noch tabuisiert gewesen sei.

Wie erklärt er sich eigentlich selbst seinen Erfolg? An seiner Expertise kann es nicht gelegen haben, das gibt Thilo Sarrazin selbst unumwunden zu: Freilich gebe es viele Migrations-, Islam-, Bildungs-, Sozial- und Genetikforscher, die deutlich besser qualifiziert seien als er, der studierte Ökonom und langjährige Spitzenbeamte. „Aber was mein Buch aufgenommen hat, ist eine emotionale Befindlichkeit, dass so, wie es läuft in Deutschland, etwas ganz fürchterlich schiefgeht und dass das die Existenz eines Deutschlands, wie wir es kennen nachhaltig bedroht“, sagt Sarrazin am Mittwoch.

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Tatsächlich ist „emotional“ das Schlüsselwort zur Erfolgsgeschichte. Als „Deutschland schafft sich ab“ erstmals erschien, regierte Angela Merkel mit der FDP, es gab noch Atomkraft und Wehrpflicht, dafür noch keine syrische Flüchtlingskrise.

Dass früher alles besser war, dachten die Älteren schon immer und überall, aber in Deutschland wächst die Gruppe der Älteren seit Jahrzehnten. Thilo Sarrazin ist ihre Stimme, ihr Kronzeuge.

Sarrazin hat selbst Migrationshintergrund

Die Neuauflage seines Klassikers ist deshalb nicht nur ergänzt um zwei Kapitel mit Erwiderungen auf die massive Kritik an seinen Thesen, sondern auch um eine aktuelle Kommentierung – natürlich von Sarrazin selbst. Netto 60 Seiten habe er eingefügt. Revidieren musste er sich dabei nur selten, und dann zum Schlechteren, sagt er.

Das ist Sarrazins „Bilanz nach 15 Jahren“: Die Wirtschaftsleistung und das Bildungsniveau seien noch schneller abgestürzt, islamistische Attentate und muslimischer Antisemitismus hätten noch schneller zugenommen. Und wo er 2010 noch prognostiziert hatte, dass es in hundert Jahren hierzulande kaum noch Menschen deutscher Herkunft gebe, wird das nun schon in 60 Jahren eintreten. Das hat er aus ganz seriösen Zahlen selbst so berechnet.

Unklar bleibt nur, was deutsche Herkunft eigentlich ist. Das Statistische Bundesamt rechnet drei Generationen zurück, sagt Sarrazin. Nach dieser Definition habe er allerdings selbst Migrationshintergrund: Seine Mutter wurde 1920 in Pommern geboren, als das gerade zu Polen gehörte, erzählt Sarrazin in Berlin. „In ihrem Pass stand“, sagt er amüsiert: „Staatsbürgerschaft – polnisch, Nationalität – deutsch.“